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Full text of "Die Beziehungen des klassischen Altertums zu den hl. Schriften des Alten und Neuen Testamentes : Für die Freunde der antiken Literatur aus den Quellen dargestellt"

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Die Beziehungen des klassischen 
Altertums zu den hl. Schriften 

des Alten und Neuen Testamentes. 



Für die Freunde der antiken Literatur 
aus den Quellen dargestellt 



Michael KröU, 

Pfarrer a. D. zu Hönningen a. Rh. 



Erster Band. 




Zweite, vollständig umgearbeitete und vermehrte Auflage. 



Bonn. 

Carl Georgi, Universitäts-Buchdruckerei und Verlag 
1907. 

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J.-Nr. 4213. 

Imprimi permittitur. 
Coloniae, die 2. m. Octobris 1906 

De mandato Archiepiscopi Coloniensis 
(L. t S.) Hespers 

Canonicus Ecciesiae metropolitanae. 



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Dem Andenken 



meiner 



verstorbenen Eltern 

gewidmet. 



2; '^909 



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Vorwort zur ersten Auflage. 



yy Ignoratio scripttirarutn ignoratio Christi est." 

S. Hieronymi praefatio in Isaiam Prophetam. 
„Die Schriften nicht kennen, heisst Christus 
nicht kennen." 

„Erat (Christus) lux vera, quae illuminat omnem 
hominem venientem in hunc mundum." 

Evgl. S. Johannis I., 9. 
„Er (Christus) war das wahre Licht, welches jeden 
Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt." 

Nach dem durch eigene Schuld herbeigeführten Verluste 
des Paradieses war der erste Tag für die Menschheit zu Ende: 
ihr Glück war dahin. Es wurde trüber Abend, welcher aber 
durch den milden Stern der V^erheissung auf den kommenden 
Erlöser in etwa erleuchtet war: „ipse conteret caput tuum!** 
Nach dem Hebräischen (LXX.) (Genesis 3, 15.) „Er wird dir 
(der Schlange) den Kopf zertreten!" Nun brach die Nacht an, 
die lange Nacht, welche 4000 Jahre i) dauern sollte, bis der 
Heiland erschien. 

Um die Zeit der Gründung Roms, 753 Jahre vor Christus, 
rief Isaias der Prophet aus: „Wächter, wie weit ist es in der 
Nacht? Wächter, wie weit in der Nacht?!" (Isaias 21, 11.) Und 
ferner: „Tauet, Himmel! aus der Höhe, und Wolken! regnet 



^) 4000 Jahre. Nach dem hebräischen Texte der Bibel, welchem 
die Vulgata folgt, rechnet man gewöhnlich 4000, oder auch 4225 Jahre 
von Erschaffung der Welt bis auf Christi Geburt. Nach der griechischen 
Übersetzung der Septuaginta dagegen werden hierfür 5000 Jahre (vielleicht 
auch etwa 5700 Jahre) angenommen. (Vgl. Schanz „Das Alter des Menschen- 
geschlechtes." Bibl. Studien I., 2.) 



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VI 

den Gerechten, auftue sich die Erde und lasse erblühen den 
Heiland!" (Isaias 45, 8.) 

Während der langen Nacht, welche der Geburt Jesu Christi 
vorausging, liess Gott der Herr Licht in der Finsternis auf- 
strahlen, indem er, als sich die Trennung der Völker auf der 
Ebene von Sennaar vollzogen hatte, den Heiden die Gnade 
der Vernunft leuchten liess, vergleichbar dem Sternen-Glanze 
nach Untergang der Sonne. Hierdurch wurde es nicht völlig 
dunkel bei ihnen i). Als solche von der Vorsehung bestellten 
Lichter strahlten Cadmus, Lykurg, Solon, Sokrates, Plato, sowie 
Perikles unter den Griechen, und Romulus, Numa Pompilius, 
die Scipionen, Caesar, Cicero und Virgil bei den Römern 2). 
Unter dem Kaiser Augustus aber ging die 4000jährige Nacht 
schon ihrem Ende zu: der helle Morgen-Stern brach an, und 
Jesus Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, wurde zu Bethlehem 
in Judäa geboren. 

Das Volk der Juden erhielt ausser dem Lichte der Ver- 
nunft auch noch eine Erleuchtung durch die Offenbarung. Gott 
selbst trat seinem Volke am Berge Sinai entgegen, und, Mark 
und Bein erschütternd klang aus der Wolkensäule die Stimme 
Jahves: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine fremden 
Götter neben mir haben!** (L. Exodi 20, 2 sq.) Die Israeliten 
besassen Moses sowie die Propheten als Zeugen Gottes. Und 
zum Zeichen der himmlischen Erleuchtung brannte der sieben- 



^) Gott gab den Heiden das Licht der Vernunft (Ad Romanos 1,19 sq.), 
die Stimme des Gewissens (ibid. 2, 14 sq.) und das Unterpfand dei religiösen 
Überlieferungen (die Uroffenbanmg : Genesis 10, i sq., sowie 11, 6. 8.). 

^) Was immer der historische Untergrund der alten Überlieferungen 
sein mag, welche Titus Livius in so anziehender Erzählung verewigt hat; 
ihre drastischen Gestalten: Romulus und Remus, Numa Pompilius, Tullus 
Hostilius, Ancus Martins, Tarquinius Priscus, Servius Tullius, Tarquinius 
Superbus usw., haben sich in der prosaischen und poetischen Literatur 
der Römer so festgesetzt, dass keine aktenmässige Kritik sie je aus diesem 
Besitzstande verdrängen wird. (Vgl. Baumgartner, S. J., „Weltliteratur", 
III. Band, 3. u. 4. Auflage, S. 348, Freiburg (Breisgau) bei Herder 1902.) — 
Zudem hat man im Januar 1899 auf dem Forum Romaniun das ..Romultis- 
Grab'', und noch Gräber aus älterer Zeit entdeckt. (Vgl. Richard Thiele 
„Das Forum Romanum" Programm des Gymnasiums zu Erfurt 1904, S. 45 f., 
und Ch. Hülsen „Die Ausgrabungen auf dem Forum Romanum". Rom 1905, 
Seite 40 — 46.) 



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VII 

armige Leuchter Tag und Nacht im Tempel zu Jerusalem. Die 
Juden hatten ein Licht gleich dem Glänze des Vollmondes, 
welcher das Leuchten der Sterne weit tibertrifft. 

Wir Christen dagegen besitzen in Jesus Christus die Sonne 
der Gerechtigkeit, welche auch das Licht des Mondes noch 
zurücktreten lässt. (Ad Hebr. 1 , 1 sq.) Wenn nun schon mancher 
Ausspruch im Alten Testamente, weil noch Prophezeiung und 
nicht Erfüllung, den Juden selbst unklar und dunkel war, wie 
auch das Licht der Mond-Nacht traumhaft erscheint; wie viel 
mehr noch sind Sentenzen der griechischen und römischen 
Klassiker den Heiden unverstanden und rätselhaft geblieben, 
bis die Sonne des Christentums alles mit klarem Lichte über- 
goss: „Der Gerechten Weg ist wie ein strahlend Licht; es bricht 
hervor und wächst bis zu dem vollen Tage.** (Proverbiorum 4, 18.) 

Um nun der studierenden Jugend bei Lesung der heid- 
nischen Klassiker eine Führung zu bieten, haben wir Tatsachen 
und Personen, sowie Aussprüche derselben mit der hl. Schrift 
verglichen. Auf diese Art erkennen wir, dass die Weisheit der 
alten Völker ein Licht war, welches Gott zu deren Erleuchtung 
und Leitung ihnen angezündet hatte, damit auch sie den Weg 
zur vollen Wahrheit im kommenden Christentume finden könnten. 

„Erat lux vera, quae illuminat omnem hominem venientem 
in hunc mundum." 

Oder, wie der Sänger Homer sagt: 

edpaei intti'- iixex oötoi äv€u Geou i^be t€ ßouXri. (Odysseos2, 372.) 

Zur leichteren Einführung haben wir unserem Haupt-Thema 
zwei Abschnitte vorausgehen lassen, in welchen dargelegt wird, 
dass die christliche Theologie seit den frühesten Zeiten es sich 
angelegen sein Hess, die Schriften der alten Klassiker zu durch- 
forschen, und dass der hl. Schrift (der Bibel) wegen ihres ehr- 
würdigen Alters und um ihres vortrefflichen Inhaltes willen der 
vorzüglichste Rang in der ganzen Welt-Literatur gebührt. 

Hönningen a, Rh., 29. Januar 1901, 

am Feste des hl. Kirchenlehrers Franz v. Sales. 

Michael KröU, Pfarrer. 



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Vorwort zur zweiten Auflage. 



"Etib iLice' ö|Liiv €i|Lii: Ego vobiscum sum! Ich bin 
bei euch! L. Evangelii S. Matthaei 28, 20. 

„Hoc enim est Ecclesiae proprium, ut tunc vincat 
quum laeditur, tunc intelligatur, quum arguitur, tunc 
obtineat, quum deseritur." S. Hilarii de Trinitate 
1. VII, c. 4. Migne Patrum Latinorum Tom. X Col. 202. 

Das ist der Kirche eigentümlich, dass sie dann 
siegt, wenn sie angegriffen wird; dann verstanden 
wird, wenn man sie tadelt; dann sich behauptet, 
wenn sie verlassen wird! 

Jedem, welcher die heutigen Zeitbestrebungen unbefangen 
erwägt, wird es offenbar, dass ein grosser Kampf gegen Christus 
und seine Kirche sich erhoben hat. Während es viele gibt, 
welche die Gottheit Jesu Christi geradezu leugnen, versuchen 
andere, die fünf Bücher Moses, die Grundlage des alten und 
neuen Testamentes, in Zweifel zu ziehen. Christus, der Herr, 
sagte zu seinen Zeitgenossen: „Würdet ihr dem Moses glauben, 
so würdet ihr auch wohl mir glauben; denn Moses hat von mir 
geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubet, wie 
werdet ihr meinen Worten Glauben schenken?!" Evgl. S. Joh. V, 
46 und 47. Darum entstand eine grosse Erregung in weiten 
Kreisen, als der bekannte Professor Dr. Friedrich Delitzsch 
in der Sing-Akademie zu Berlin am 13. Januar 1902 einen Vor- 
trag über „Babel und Bibel" hielt, um die aufgeworfenen Gräber 
zu Babylon und Ninive das Grab der Bibel werden zu lassen. 

Am 12. Januar 1903 hielt derselbe Gelehrte sodann in der 
Sing-Akademie in Gegenwart hoher Persönlichkeiten einen 
zweiten Vortrag über dasselbe Thema. Er führte darin aus: 
es gebe keine grössere Verirrung des menschlichen Geistes, als 
den Glauben, die Bibel sei eine persönliche Offenbarung Gottes! 
Er meinte, ausser der Gottes-Offenbarung, welche jeder Mensch 
in sich trage, brauchten wir keine andere. 



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IX 

Am 28. Oktober 1904 hielt er nun in der literarischen 
Gesellschaft zu Cöln einen dritten (Schluss-) Vortrag über „Babel 
und Bibel**. Gleich im ersten Satze betonte Delitzsch, dass 
die assyrisch babylonischen Forschungen uns nötigten, unsere 
bisherigen Auffassungen vom Alten Testamente ihrem Wesen 
nach zu ändern, und zweimal kam er darauf zurück, wir seien 
in unserem Religions- Unterrichte gans falsch belehrt worden. 
Gewiss um diese falschen Auffassungen zu berichtigen, 
brachte die Monats- Schrift für höhere Schulen, welche von den 
vortragenden Räten des Kultus-Ministeriums Dr. Koepke und 
Dr. Matthias zu Berlin herausgegeben wird, im 10. Hefte 
1902 schon einen Aufsatz über den alttestamentlichen Geschichts- 
unterricht in der Sexta von dem Oberlehrer R. H aasen zu 
Düsseldorf. Derselbe scheint von der Richtigkeit der Behaup- 
tungen des Berliner Professors Delitzsch ganz überzeugt zu 
sein. Er beantragt nämlich, ^,die Sagen^^ des alten Testamentes 
aus dem biblischen Unterrichte herauszulassen. Auch machen 
,,die vielen Wunder^^ des alten Testamentes nach Haasens 
Arfsicht den Unterricht in der biblischen Geschichte für die 
Sextaner ungeeignet. Die Folgezeit lehrte, dass Herr H aasen 
viele Gesinnungsgenossen hat. 

Deswegen drängt er uns, an den biblischen Spruch zu 
erinnern: ,jWächter/ wie weit ist es in der Nacht? !^^ (Cf. 1. 
Isaiae prophetae c. 21, 12 sq.) 

Um so freudiger aber begrüssen wir es, dass die kühnen 
Behauptungen des Prof. Delitzsch von den verschiedensten 
Seiten, auch von protestantischen Hochschullehrern, die schärfste 
Kritik erfahren haben. Wir nennen u. a. : 

Professor J. Barth zu Berlin; C. Budde in Marburg; 
Fr. Kaulen zu Bonn; P. Keil in London; Ed. Koenig zu 
Bonn; C. Bezold in Heidelberg; P. Jensen zu Marburg; 
H. Grimm in Freiburg (Schweiz) ; Fr. Hommel zu München; 
Fr. Xav. Kugler, L. J. in Valkenburg (Holland); Vinc. Zaple- 
taly Ordinis Praedicatorum zu Freiburg (Schweiz); sowie die 
beiden Pastoren : Alfred und Johannes Jeremias zu Leipzig 
und Gottleuba (Sachsen); schliesslich Dr.J. Döller zu Wien i). 



1) I. „Babel und israelitisches Religionswesen." Vortrag von Professor 
Dr. J. Barth. Berlin bei Mayer und Müller 1902. 36 S. 



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Das allgemeine Urteil über Proifessor Delitzsch lautet 
dahin, dkss er als Assyriologe zwar Tüchtiges leisten könne, 
dass aber seine theologischen Kenntnisse vielfach der Ergänzung 
bedürftig seien. 

Sehr treffend sprach sich daher Kaiser Wilhelm II. in 
seinem Schreiben d. d. 15. Febr. 1903 an den Admiral Holl- 
mann aus, wenn er darin sagte: „Er (Professor Delitzsch) 
verliess in seinen Ausführungen leider den Standpunkt des 
strengen Historikers und Assyriologen und geriet dabei in theo- 
logischreligiöse Schlüsse, welche doch recht nebelhaft und 
gewagt waren." Und ferner: „Der Theologe ist mit dem 
Historiker auf und davon gegangen — ; derselbe möge uns 
Laien, und besonders die Orient-Gesellschaft, mit seinen theo- 
logischen Thesen verschonen." Diese Worte hatten den Erfolg, 
dass der dritte Vortrag über „Babel und Bibel" nicht zu Berlin, 
sondern zu Cöln a. Rh. gehalten wurde. 



2. „Das alte Testament und die Ausgrabungen". Vortrag von Professor 
Dr. C. Budde aus Marburg, gehalten zu Giessen. Giessen, Rickersche 
Buchhandlung. 1902, 39 S. (besonders S. 35). 

3. „Der biblische Schöpfungsbericht" von Professor Dr. Fr. Kaulen zu 
Bonn. Freiburg (Breisgau) bei Herder 1902, 93 S. 

4. „Babel und Bibel" von demselben. Literarischer Handweiser Nr. 766 u. 
767 zu Münster (Westfalen) 1901/1902. Theissingsche Buchhandlung. 

5. „Babel und Bibel von Professor P. Keil zu London. Pastor Bonus, 
Trier 1902/3. Heft i — 4. Paulinus-Druckerei. 

6. „Babel und Bibel" von Professor Dr. Ed. Koenig zu Bonn. Berlin 
bei Martin Wameck 1902. 50 S. (mehrere Auflagen). 

7. „Bibel-Babel", oder „Babel- Bibel", Gutachten von Gerhard Rauschen 
zu Bonn. Literarische Beilage der K()ln.- Volkszeitung 1902, N. 20 (S. 148 

figd.). 

8. „Der Schöpfungsbericht" erklärt von Professor Vinc. Zap letal, O. Pr. 
Uni versitäts- Buchhandlung, Freiburg (Schweiz) 1902, 104 S. 
„Im Kampfe um Babel und Bibel" von Dr. Alfred Jeremias, Leipzig 
bei Hinrich, 1903, 45 S. 

„Moses und Hammurabi" von Dr. Johannes Jeremias. Leipzig bei 
Hinrich. 1903, 47 S. 

yjUnbewiesenes.^^ Bemerkungen eines Philologen zu Fr. Delitzsch 
„Babel und Bibel". Münster (Westf.) bei H. Schoeningh 1903. 
„Das Gesetz Chammurabis und Moses" von Professor Dr. Hubert 
Grimme zu Freiburg (Schweiz). Cöln a. Rh., bei J. P. Bachern 1903. 
45 Seiten. Derselbe ist auch Verfasser von „Unbewiesenes" (11). 



10 



II 



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xr 

Aus der ganzen Sachlage aber wird es klar, dass es zeit- 
gemäss ist, daran zu erinnern, was Professor Dr. Heinrich 
zu Mainz im II. Teile seiner speziellen Dogmatik, § 294, S. 16 
Anm. 1, über das Verhältnis der heidnischen Mythen zur gött- 
lichen Offenbarung mitteilt. Der Mainzer Gelehrte schreibt 1. c: 

„Dass die religiösen Überlieferungen aller Völker mehr 
oder minder klar die Grund-Wahrheiten und Haupt-Tatsachen 
der Ur-Offenharung enthalten, kann keinem Zweifel unterliegen 
und findet um so mehr Bestätigung, je vollkommener man die- 
selben kennen lernt. Insofern hat die in neuester Zeit mit 
so viel Eifer betriebene vergleichende Religions-Geschichte nicht 
nur eine grosse kulturhistorische, sondern auch eine grosse 
apologetische Wichtigkeit. Dass die katholische Wissenschaft 
sich des zutage geförderten ungeheueren Materials bemächtige 
und dasselbe im Lichte des Glaubens und einer gesunden Philo- 
sophie beurteile, ist um so notwendiger, als nicht nur eine 
oberflächliche, ungläubige Populär-Wissenschaft dasselbe in 
ihrer Art ausbeutet, sondern auch die meisten, zum Teil wissen- 
schaftlich bedeutenden Forscher (vgl. Delitzsch), auf diesem 
Gebiete nur zu sehr an den Tag legen, dass sie der echten 
und gründlichen theologischen und philosophischen Schulung 
entbehren. Die Folge davon ist, dass dieselben mehr oder 
w^eniger von naturalistischen und ungläubigen Grund- Anschau- 
ungen ausgehen und darnach die Ergebnisse ihrer Forschungen 
deuten. Gewiss bilden auch natürliche Ursachen einen wichtigen 
Faktor in der Entwickelung der heidnischen Religionen; aber 
ebenso gewiss sind dieselben nicht der einzige oder wichtigste 
Faktor darin und daher auch keineswegs imstande, den wirk- 
lichen Inhalt der mythologischen Religion genügend su erklären. 
Das ist nach den Grundsätzen sowohl des Glaubens als auch 
der echten Wissenschaft nur möglich, wenn wir anerkennen, 
dass alle Religionen in ihrem ersten Ursprünge aus der in 
der Bibel uns rein bewahrten Uroffenbarung hervorgegangen 
sind. Was Lücken in seiner Abhandlung über vergleichende 
Mythologie als Resultat seiner Forschungen ausspricht, ist im 
wesentlichen unanfechtbare Wahrheit. yyDer Kern des Heiden- 
tums ist überall derselbe und ist entnommen aus der Ur- 
tradition der Menschheit, wie die Bibel sie aufbewahrt hat. 

Die reine geoff'enbarte Religion im Anfange, und der 



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XII 

spätere Verfall derselben im Heidentume das ist die historische 
Tatsache^), welche das Heidentum auch jetzt noch aufweist. 
Alle Spekulation und philosophische Deutung, welche diesen 
historisch- christlichen Standpunkt verlässt und alle Religionen 
a priori als gleich und sämtlich als eigenes Produkt des Volkes 
und seines nationalen Geistes betrachtet, kann nur auf gänz- 
lichen Irrweg führen. Wollen wir aber eine wahre vergleichende 
Religions-Wissenschaft aufstellen, so muss dieselbe von dem 
christlich-historischen Standpunkt ausgehen. Ferner muss sie 
die Religionen der Welt um die Uroffenbarung als ihrem Ur- 
grund und Mittelpunkt gruppieren, und von dieser aus das 
Licht und die Aufklärung in den Kreis der Religionen und 
Mythologie des Heidentums hineinleuchten lassen. Das allein 
führt zum Ziele! Die naturalistische, wie sprachliche Mythen- 
deutung aber ist, wenn sie auch einzelne Aufschlüsse gibt, im 
ganzen nur ein willkürliches und subjektives Verfahren, das 
aller Wirklichkeit widerspricht." 

Ebenso hat Dr. Fischer in seinem verdienstvollen Buche 
„Heidentum und Offenbarung*' zahlreiche und unzweifelhafte 
Berührungspunkte der ältesten hl. Bücher der Inder, Perser, 
Assyrer, Babylonier und Aegypter mit der Bibel auf Grund 
der neuesten Forschungen nachgewiesen. Er kommt zu dem 
Schlüsse, dass die dogmatischen und geschichtlichen Berührungs- 
punkte zwischen den verschiedenen Völkern untereinander 
und mit der Bibel, als Reste und Erinnerungen aus der allen 
gemeinsamen Urseit und Uroffenbarung zu betrachten seien. 
Die ethnologischen und vergleichenden Sprachforschungen 
weisen ja immer mehr die Abstammung aller Völker von ein- 
ander und die ursprüngliche Einheit des Menschengeschlechtes 
nach. Stammen aber wirklich alle Völker wie Zweige von 



1) Dr. Hugo Winkler berichtet in seinem Vortrage „Die baby- 
lonische Kultur in ihren Beziehungen zur unsrigen" betreffend, S. lo flgd.: 
„Die Zeit des Anfanges unserer Kenntnis von Babylon (um 3000 vor 
Christus) ist nicht der Anfang einer höheren Kultur (Religion usw.); sondern 
diese steht im Gegenteil mit ihren Lehren schon damals hoch entwickelt 
da und verfällt seitdem.^' Als Grund dieser Erscheinung können wir hin- 
zufügen: Je weiter nämlich die Völker nach dem Turmbaue zu Babel von 
dem Lichte zurücktraten, desto tiefer sanken sie in den Schatten. (Verlag 
der J. C. Hinrichschen Buchhandlung, Leipzig 1902.) 



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XIII 

einem Urstamme ab, dann könnte letzterer die bedeutungs- 
vollen Ereignisse der Vorzeit wie : Paradies, Sündenfall, Sünd- 
flut ^) usw. durch mündliche Überlieferung (Tradition) während 
der langen Lebensdauer der ersten Menschen auf die Nach- 
kommen vererbt haben. Und so wäre die Übereinstimmung 
hinsichtlich der Urgeschichte erklärt. Es bleiben nun noch die 
dogmatischen Konkordanzpunkte übrig. Wir haben aber im 
Laufe unserer Darstellung gefunden, dass, je mehr man in die 
Vorseit eines Volkes zurückgeht, desto reiner und geklärter 
dessen Religionsanschauungen sich darbieten. So sagt Cicero 
„Tusculanarum Disputationum" 1. L, c. 12, n. 26: „Auetoribus 
quidem ad istam sententiam, quam vis obtineri, uti optimis 
possumus, quod in omnibus caussis et debet et solet valere 
plurimum; et primum quidem omni antiquitate: quae quo pro- 
pius aberat ab ortu et divina progenie, hoc melius ea fortasse, 
quae erant vera, cernebat." Um die Meinung („Unsterblichkeit 
der Seele**), von welcher ihr überzeugt zu werden verlangt, 
zu bekräftigen, will ich euch das ganze Altertum nennen, 
welches, Je näher es dem Ursprünge und der göttlichen Ab- 
stammung war, desto besser die Wahrheit erkennen konnte. 
Diese Beweismethode ist nämlich die beste, welche man an- 
wenden kann, die ja auch bei allen streitigen Fragen nach 
Pflicht und Herkommen grösste Bedeutung hat. 

De legibus 1. II., c. 11, n. 27 sagt derselbe: „quoniam anti- 
qiiitas proxime accedil ad deosl^' Es ist ja uns allen bekannt, 
dass die Menschen der Vorzeit zunächst an die Gottheit hinauf- 
reichten (der Gottheit am nächsten waren). 

Wir haben ferner gesehen, dass alle Völker, wie ihre 
ältesten hl. Schriften ausweisen, den Ursprung des Menschen 
unmittelbar von Gott ableiteten (vgl. Cicero 1. supra c. „divina 
progenie" = göttlichen Ursprunges), und eine ursprüngliche 
göttliche Offenbarung annehmen. So sagt Aristoteles „Meta- 
physicae*^ 1. XII, c. 8 in fine: TTapab^boTai be irapa tOüv dpxaiujv 
Ktti TTaiUTTaXaiiJüv ev jniiGou C)iy\\iaT\ KaTaXeXei|Lija^va Toiq öarepov öti 
öeoi xe eicTiv outoi Kai irepiexei tö GeTov Tfjv oXtiv q)U(Tiv • xd hk Xonra 
)Liu0iKUJ^ fibri TTpocTnKxai irpö^ xfjv ireiGib xuiv ttoXXiuv Kai irpö^ xf|V 



^) Sünd-Fliit = Flut um der Sünden der Menschen willen. 
Sint'Flut = grosse Flut. 



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XIV 

€i^ vöfiou^ Ktti 7rp6^ TÖ (Tufiq)dpov XPH^^iv . . . uiv ei ti^ x^9^^^^ o.mö 
Xdßoi |Li6vov TÖ irpiüTOV, 8ti Geouq iIiovto xd^ irpiira? ou(Tia^ elvai, 
0€id»^ av eipficTGai vofii(T€iev . . . Taura^ id? boiaq dKCivuJV 
o\'ov Xeiipava TrepicTecTiJüCTGai juexpi tö vöv f| |Litv oöv irdipio^ 
böEa Ktti i\ irapd tiIiv irpiuTiuv em toctoOtov fjfiiv q)av€pd ^övov 

Von den Alten und aus grauer Vorzeit ist den Nach- 
kommen im Gewände des Mythus (Fabel) tiberliefert worden, 
dass sowohl Götter seien, als auch, das Göttliche die ganze 
Natur umfasse. Das übrige ist mythische Zutat zur Über- 
redung der Menge, zum Behufe der Gesetzgebung und um der 
Zuträglichkeit willen .... Wenn man nun hier eine Schei- 
dung vornimmt, und nur das Erste, das Ursprüngliche, fest- 
hält, nämlich die Ansicht, dass die ersten Substanzen Götter 
seien (die ersten Menschen Kinder Gottes seien); so wird man 
wohl diese Lehre für göttliche Offenbarung halten müssen . . . 
und annehmen, dass jene Vorstellungen gleichsam Trümmer 
einer uralten, untergegangenen Weisheit seien^ welche sich bis 
auf die Gegenwart gerettet haben. Nur insoweit ist uns die 
Ansicht unserer Väter und die Überlieferung der Urseit ver- 
ständlich. 

Ähnlich, drückt sich Plato, der Lehrer des Aristoteles, 
aus: TTeiOecTGai be outu)^ aTei XP^ toT<; iraXaioi? t€ xai lepoT^ Xoyoi?, 
Ol bf] jUTivucucTiv fi^Tv dGdvaTov xrysf ipuxHV elvar biKacTTd? t€ icTx^iv, 
Ktti Tiveiv Td<; \kv^\aTaq Ti^iiüpia«;, öxav ti<; diraXXaxGq toO criu^iaTO?' 
Piatonis Epistolae VII. (n. 335. a.). 

Man muss immer zuversichtlich der alten und heiligen 
Überlieferung glauben, welche uns lehrt, dass die Seele unsterb- 
lich ist, und nach ihrer Trennung vom Leibe ein unerbittliches 
Gericht zu bestehen hat, welches ihr die verdienten Strafen 
auferlegt/ 

Auch der Philosoph Seneca (Epistola XC.) spricht von den 
„viri a diis recentes"; die ersten Menschen waren unmittelbar 
von Gott entsprossen (und standen ihm am nächsten). 

Hierin nun: in der anfänglichen sittlich-religiösen Er- 
ziehung durch Gotty oder in der Uroffenbarung^ kann allein 
die Ursache gefunden iverden, dass die alten Weisen in so vielen 
ethischen Grund- Wahrheiten miteinander übereinstimmen. 

Die ursprünglichen göttlich geoffenbarten Religions- Wahr- 
heiten sind in der Folgezeit durch Überlieferungen von den 



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XV 

Erzvätern auf ihre Nachkommen übergegangen, erlitten aber 
im Laufe der Jahrhunderte (nach dem Turmbaue zu Babel—) 
mehrfache Wandlungen und Trübungen, ohne jedoch den Kern 
und die Grundelemente einzubüssen. Nur die ursprüngliche 
Einheit des Menschengeschlechtes und die Uroffenbarung bieten 
uns feste Anhaltspunkte Bur Lösung dieses Problems, Mit Recht 
sagt daher der Aegyptiologe SeyfTarth: „Es gibt eine Uroffen- 
barung, welche mit der Gerechtigkeit des Noe nicht unter- 
gegangen sein kann; sie muss vielmehr von ihm auf seine 
Kinder und die Völker seiner Nachkommen sich fortgepflanzt 
haben.** Dieses ist das Urteil, welches die natürliche, unbefangene 
Wissenschaft fällen muss. 

Dass nun aber Moses bei Abfassung der Genesis (Buch 
der Ursprünge) göttlich erleuchtet war und die Urgeschichte 
der Menschheit aus der unter Gottes besonderem Schutze im 
Hause der Patriarchen rein bewahrten Uroffenbarung geschöpft 
hat, ist eine Wahrheit, für welche alle äusseren und inneren 
Glaubwtirdigkeitsgründe sprechen. 

Rechnen wir hierzu, dass die Literatur von Babylon, 
Aegypten, Assyrien, Phoenicien und Persien bis auf wenige 
Bruchstücke der Vernichtung anheimgefallen ist, während das 
unscheinbare Volk Israel allein uns eine zusammenhängende 
Darstellung seiner ganzen Entwicklung vom Anbeginn der 
Tage (Genesis usw.) hinterlassen hat, so müssen wir hierin 
eine besondere Fügung Gottes anerkennen. Die israelitische 
Gesamtliteratur ist längst in das geistige B^sitstum der christ- 
lichen Menschheit übergegangen; so dass heute nach so langer 
Zeit die sämtlichen christlichen Völker mit der biblischen 
Geschichte vertrauter sind, als mit ihren eigenen Überlieferungen. 
(Vgl. Joseph Schreiner „Elysium und Hades" S. 3 und 4; Braun- 
schweig und Leipzig bei Richard Sattler 1902.) Trotz aller 
Angriffe werden die fünf Bücher Moses (und die ganze hl. Schrift) 
ununterbrochen seit 3400 Jahren durch Millionen von Menschen 
auf der ganzen Welt als von Gott eingegeben verehrt und 
betrachtet. Wo gibt es in der ganzen Weltliteratur ein zweites 
Werk, dem eine solche allgemeine Hochschätzung und Bedeu- 
tung zukommt? Schon als Geschichtsbuch angesehen, ist die 
Genesis der älteste, authentischste und lehrreichste Bericht, 
welcher unter göttlicher Autorität für die Menschen aller Zeiten 



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XVI 

geschrieben wurde. Sie enthält die einzige, zuverlässige Dar- 
stellung der Begebenheiten in der ganzen Welt vor der Sünd- 
flut, und sie umfasst hierbei einen Abschnitt von mehr als 
1500 Jahren (nach der Septuaginta von mehr als 2000 Jahren), 
nämlich die Zeit von Erschaffung der Welt und der ersten 
Menschen bis Noe. 

Besässen wir den hebräischen Chronisten nicht, so wäre 
die ganze vorsündflutliche Geschichte der Menschheit uns ein 
unbeschriebenes Blatt, ein Gegenstand blosser Spekulation für 
alle folgenden Zeitalter. 

Der Dekalog (die hl. 10 Gebote Gottes), im 20. Kapitel 
des II. Buches Moses (Exodus), ist um 700 Jahre älter, als die 
Lykurgische Gesetzgebung zu Sparta (c. 800 a. Chr.); um 
900 Jahre älter, als die Gesetzgebung des Solon in Athen (c. 504); 
2000 Jahre älter, als das Corpus Juris Civilis unter dem ost- 
römischen Kaiser Justinian (a. 533 p. Chr.); 2700 Jahre älter, 
als die Charta Magna Libertatum in England (a. 1215); 3300 
Jahre älter, als der Code Napoleon (code civil des Frangais 
d. d. 29. October 1804), und ebenso viele Jahre älter, als die 
Nordamerikanische Konstitution; endlich um 3400 Jahre älter, 
als das Deutsche bürgerliche Gesetzbuch (a. 1900). Und doch 
ist dieser Dekalog besser gekannt und wird allgemeiner dem 
Gewissen eingeschärft, als irgend welche Gesetze, die von 
Menschen jemals in Worte gefasst worden sind. (Vgl. Card. 
Gibbons, Erzbischof von Baltimore, ,,Der Gesandte Christi", 
New- York 1902, S. 228^). 



^) Das Gesetz Hammurabis geht dem Sinaitischen des Moses um 
500 Jahre voraus und enthält manche Bestimmungen, welche wir später 
auch bei Moses wiederfinden. Was folgt daraus? 

1. Gott der Herr gab den Heiden das Licht der Vernunft, durch 
welches sie die natürlichen Wahrheiten und Gesetzmässigkeiten erkennen 
und als Regenten auch zum Wohle ihrer Untertanen anwenden konnten. 

2. „Gratia non destruit naturam, sed supponit et elevat." S. Thomae 
Aquinatis I., quaest. i. art. 8. ad secundum, und I., quaest. 2., artic. 2. ad 
primum. 

Die Gnade zerstört nicht die natürlichen guten Eigenschaften (eines 
Menschen oder eines ganzen Volkes) ; sondern setzt dieselben voraus, und 
erhr>ht sie. 

3. Demgemäss erhielten manche weise Bestimmungen der früheren 
Zeit im Gesetze Mosis eine Aufnahme und dadurch einen hr>heren Wert 



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|. 



Um daher den Gebildeten unserer Zeit eine angenehme 
und im christlichen Glauben stärkende Gabe zu bieten, hat der 



und eine Bedeutung, weil sie eben nützliche Anordnungen waren, welche 
sich bei dem Volke Israel ebensogut verwenden Hessen, als bei den 
Heiden in Babylon usw. 

4. Durch die Aufnahme von 'so allgemein brauchbaren Institutionen 
wurde das Gesetz Mosis auch den Heiden verehrungswürdig („rationabile 
obsequium vestrum" Ep. ad Romanos c. XII., v. i : euer vemunftgemässer 
Gottesdienst), und konnten um so leichter als Proselyten zum Judentume 
übergehen; als sie nichts von demjenigen aufzugeben hatten, was sie an 
wirklich Gutem besassen. Aus diesem Grunde befand sich im Tempel zu 
Jerusalem auch ein Vorhof für die Heiden. Cf. III. Regum c. 8, v. 41 — ^44: 
Das Gebet Salomos für die Heiden: „Wenn auch ein Fremder, welcher 
nicht zu deinem Volke Israel gehört, aus fernem Lande kommt um 
Deines Namens willen (z. B. die Königin Balkis aus Saba : III. Regum c. 10 ; 
femer die Heiden am Palmfeste zu Jerusalem: Evgl. S. Joh. 12, 20; am 
Pfingstfest daselbst: Actus Apostolorum II., sq; auch der Kämmerer der 
Königin Lakosa aus Äthiopien: 1. c. cap. 8, 26 — 40.); denn kund wird dein 
Name, der grosse, und deine Hand, die mächtige, und dein Arm, der aus- 
gestreckte, allenvärts) wenn er also kommt und betet an dieser Stätte: erhöre 
du ihn im Himmel in deiner festen Wohnung, und gewähre alles, um was 
der Fremde dich anfleht, auf dass alle Völker der Erde deinen Namen fürchten 
lernen, gleich deinem Volke Israel, und erfahren, dass dein Name über dieses 
Haus ausgesprochen sei, welches ich erbaut habe." (Cf. auch Evgl. S. 
Matthaei c. 8, v. 10 — 14). 

5. Schliesslich waren manche Rechtsbegriffe der alten Hebräer ein 
Gemeingut des ganzen semitischen Stammes, waren schon seit Jahrhunderten 
im praktischen Leben angewendet, und den Juden sowohl, als auch den 
Babyloniem, lange vorher bekannt, ehe sie auf dem Berge Sinai eine 
feierliche Bestätigung vom Himmel her erhielten. Die mosaische Offen- 
barung war nämlich, in dem, was sie Allgemeingültiges enthält, nur eine 
zweite Verkündigung der Uroffenbarung Gottes. Die Propheten verkün- 
digten Chi is tum, und der ganze alte Kultus war nur ein Vorbild von ihm. 

Ein durchgreifender Untersrchied aber zwischen beiden Gesetzgebungen 
l)esteht darin, dass Hammurabi in seinem Werke den Grundgedanken der 
Verweltlichung des Rechtes mit bewusster Absicht durchführte, während Moses 
das Recht in die Bahnen eines von Gott ausgehenden, von Gott geleiteten, das 
Göttliche im Menschen fördernden Gesetzes einlenkte, und dadurch das 
christliche Gesetz der Sitte und Moral vorbereitete. In dieser Beziehung hat 
keine Ideenübertragung stattgefunden. (Vgl. Hubert Grimme „Das Gesetz 
Chammurabis und Moses", Cöln a. Rhein, 1903.) 

7. Hieraus erklärt sich die Tatsache, dass im Gesetze Hammurabis 
nur das strenge, unerbittliche Recht zur Geltung kommt, während von 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 2 



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XVIII 



Verfasser die Neubearbeitung seiner 1901 erschienenen Ab- 
handlung „Die Beziehungen des klassischen Altertums zu den 
hl. Schriften des Alten und Neuen Testamentes" unternommen. 



Barmherzigkeit auch nicht eine geringe Spur zu entdecken ist. Dagegen 
im Gesetze Moses, als von Gott, dem Allgütigen und Barmherzigen, aus- 
gegangen, finden sich auch folgende Bestimmungen: Einen Fremden 
bedränge nicht; ihr wisset ja, wie es Fremdlingen zumute ist, da ilir 
selbst Fremdlinge wäret im Lande Ägypten! 1. Exodi 23, 9. 

Ferner: Verdrehe nicht das Recht dem Fremden oder der Waise, 
und nimm nicht an Pfandes Statt das Kleid einer Witwe. Gedenke, dass 
du Knecht wärest in Ägypten, und dich befreit hat von da der Herr, 
dein Gott. Darum gebiete ich dir, dass du dieses tuest. 

Wenn du die Saat von deinem Felde erntest und aus Versehen 
eine Garbe zurücklässl, so kehre nicht zurück, dieselbe zu holen; sondern 
überlasse sie zum Aufheben dem Fremden, der Waise und der Witwe; 
damit dich segne der Herr, dein Gott, bei allen Unternehmungen deiner Hände. 

Sammelst du die Früchte der Ölbäume, so kehre nicht zurück, zu 
nehmen, was noch an den Bäumen blieb; sondern lasse es den Fremden, 
Waisen und Witwen. 

Liesest du deinen Weinberg ab, so sammele nicht übersehene 
Trauben; sondern sie sollen zur Verwendung heimfallen dem Fremden, 
der Waise und Witwe. 

Gedenke, dass auch du Knecht wärest in Ägypten; und darum 
gebiete ich dir, dass du dieses tuest! L. Deuteronom. 24, 17 — 22, 

Ausser diesem inneren sachlichen Unterschiede zwischen den beiden 
Gesetzgebungen besteht auch eine einschneidende äussere formale Ver- 
schiedenheit. Wie Heinrich Müller „Die Gesetze Hammurabis" usw. 
Wien, A. Holder, 1903, nachgewiesen hat, kann nicht geleugnet werden, 
dass die Gesetzgebung des Moses einen grossen Vorzug vor den Gesetzen 
Hammurabis hat, weil die Formulierung und Gruppierung derselben viel 
ursprünglicher sind, als die Hammurabis. Darum kann auch Moses keine 
Entlehnung von Hammurabi gemacht haben. Beide Gesetze müssen viel- 
mehr aus einem Urgesetze geschöpft haben, welches in seiner Fassung, 
Gruppierung und Reihenfolge dem Mosaischen Gesetze näher stand, als 
dem Hammurabis. Als der einzig wahrscheinliche und mögliche Weg, 
auf welchem dieses mündlich oder schriftlich fixierte Gesetzessystem aus 
dem Osten nach dem Westlande gekommen ist, kann wohl der geschicht- 
lich bezeugte Zug (Genesis 11, 31 f. und 12, i f.), Abrahams aus Ur-Kasdim 
und Harran, dem Heimatlande Hammurabis, nach Kanaan angesehen werden. 
Auf einem Seitenwege kam das Gesetz, sei es von Babylon, sei es von 
Kanaan, nach Griechenland, beeinflusste daselbst die hellenischen Legis- 
lationen und erreichte dann Rom, wo ein starker Niederschlag des 
Systems sich in den „Zwölf Tafeln" noch erhalten hat. 



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XIX 

Möge dieselbe etwas dazu beitragen, um die grossen Vor- 
züge der antiken Zeit in ein helleres Licht zu stellen, damit 
wir die Weisheit derselben nach Gebühr hochschätzen und als 
eine Vorstufe zum Christentume betrachten. Zu dieser Auf- 
fassung leitet uns der tiefere Sinn jener Worte: ^0 XpicTTÖq fjv 
TÖ qpuj^ TÖ dXriBivöv ö qpuixiZiei iravTa ävBpujTrov dpxö^ievQV ei^ töv 
KÖcTjLiov (Evgl. S. Johannis I, 9.) Christus war das wahre Licht, 
welches jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt. 

Um nun den Gedankengang unseres Buches kurz an- 
zugeben, so sei bemerkt, dass wir zuerst die allen Völkern bis 
zu ihrer Trennung auf der Ebene von Sefiaar gemeinsame 
Uroffenbarung besprechen, welche späterhin von Moses auf 
Befehl Gottes in ihrer Reinheit und Unversehrtheit nieder- 
geschrieben wurde. 

Wir gehen dann zur Entstehung des Heidentums über, 
in welchem sich die hl. Überlieferungen der Vorzeit allmählich 
verdunkelten und in Mythen und Fabeln auflösten ; so dass nur 
mehr einzelne Bruchstücke derselben im Gedächtnisse der 
Völker zurückblieben. 

Hierauf legen wir die Bemühungen der Theologie (der 
christlichen Kirche) dar, um den noch vorhandenen Resten und 
Trümmern der alten Traditionen nachzuspüren, sowie die 
klassische Literatur des antiken Heidentums zu sammeln und 
praktisch zu verwerten. 

Daran knüpft sich eine Vergleichung der hl. Schiiften des 
alten Bundes (zunächst der fünf Bücher Moses) mit den Er- 
zeugnissen der antiken Literatur in bezug auf das Alter ihrer 
Entstehung und die Wertschätzung ihres gegenseitigen Inhaltes. 

Dieses bildet den grundlegenden oder allgemeinen Teil 
unserer Arbeit. 

Es folgt nun der zweite oder spezielle Teil, in welchem 
an mehreren Beispielen (biblische Tatsachen und Personen be- 
treffend) die einzelnen Beziehungen zwischen Bibel und klas- 
sischem Altertume in geschichtlicher Reihenfolge vorgeführt 
und auf ihre Bedeutung geprüft werden. 

Es werden sich nun im Laufe der Darstellung gewisse 
Berührungspunkte ergeben: in literarischer, stofflicher, idealer 
und geschichtlicher Beziehung, die gegenseitig abzuwägen und 
gemäss ihrem Werte genauer zu besprechen sind. 



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XX 

Es handelt sich daher um die Beantwortung nachstehender 
Fragen : 

I. Sind es Beziehungen der Abhängigkeit, sei es nach der 
Uterarischen oder bloss stofflichen Seite hin? 

II. Sind es Beziehungen der Beeinflussung des klassischen 
Schriftentums durch biblische Ideen, oder umgekehrt? 

III. Sind es Beziehungen der religiösen Beeinflussung des 
Heidentums durch die hl. Schrift oder durch die Überlieferung 
ihres Inhaltes? 

IV. Sind es Beziehungen der geschichtlichen Parallel- 
bezeugung? 

Mit diesen prinzipiellen Unterschieden haben wir zugleich 
auch die leitenden Grundsätze unserer Abhandlung dargelegt, 
und werden an den einzelnen Beispielen darauf hinweisen, 
unter welche der angeführten Kategorien dieselben einzureihen 
sind. Unser Verhalten wird dabei zumeist ein referierendes sein. 

Hönningen a, Rh., den 30. September 1906, 
am Feste des Kirchenlehrers S. Hieronymus. 

Der Verfasser. 



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Die Ur-Offenbarung. 

Inhalt, Erhaltung und Aufzeichnung derselben durch Moses. 

„Aus Einem schuf Gott, der Herr des Himmels 
und der Erde, das ganze Menschengeschlecht, zu 
wohnen über die weite Oberfläche der Erde hin, 
indem er festsetzte geordnete Zeiten und Grenzen 
für ihre Wohnstätten: auf dass sie Gott suchen 
sollten, -ob sie Seiner etwa inne würden, oder 
Ihn fänden." 

Rede des hl. Apostel Paulus auf dem Areopage 
zu Athen. Actus Apostolorum c. 17, v. 26 u. 2^, 

Unter „Uroflfenbarung" verstehen wir die gesamten Be- 
lehrungen und Veranstaltungen, durch welche Gott das Menschen- 
geschlecht von seinem Ursprünge an bis zu seiner Zerstreuung 
in verschiedene Völker (Turmbau zu Babel) in religiöser Hin- 
sicht erzogen und geleitet hat. — Dahin gehören die Wahr- 
heiten : 

1. Es ist nur ein einziger wahrer Gott, der allmächtige 
Schöpfer und Herr des Himmels und der Erde. Alles, was er 
erschaffen hat, war gut. (Sechstage- Werk.) 

2. Der Mensch ist ein besonderer Gegenstand seiner väter- 
lichen Liebe und Fürsorge. Ihn hat Gott als die Krone der 
sichtbaren Schöpfung nach seinem Ebenbilde erschaffen, mit 
Vernunft und Freiheit geziert. 

3. Die übrige Schöpfung vollzieht mit Notwendigkeit 
Seinen Willen; der Mensch sollte es mit Freiheit tun: darum 
gab Er ihm ein Gebot und die Sabbatfeier. 

4. Der Mensch, vom Satan verführt, übertritt das Gebot 
des Herrn. Daher verliert derselbe die Liebe und Gnade 
Gottes. Er bringt hierdurch Unordnung und Zwiespalt in sein 
eigenes Wesen, und fällt nun allen Strafen anheim, welche 
Gott ihm angedroht hatte. Gott ist nämlich heilig und gerecht, 



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— 2 — 



wahrhaft und getreu. Alle Übel, welche in der Welt bestehen, 
sind Folgen der Sünde. 

5. Gott ist aber auch barmherzig: er nimmt sich des 
gefallenen Menschen wieder an und verheisst ihm einen Erlöser. 

6. Gott bleibt auch ferner der Erzieher des Menschen 
und ordnet die Opfer an, damit sein Name erkannt und ge- 
heiligt werde. 

7. Die Sünde, welche als Erbschuld auf alle Menschen 
übergeht, zeigt sich in fortschreitender Entwickelung. Gott 
lässt das Böse zu, weil er dem Menschen einen freien Willen 
gegeben hat. Gott aber bleibt nicht gleichgültig dagegen, 
sondern mahnt, warnt und straft. (Die Sündflut.) 

Diese religiösen Wahrheiten und Tatsachen wurden nun 
durch mündliche Überlieferung von Adam usw. auf die Nach- 
kommen vererbt. Da nämlich das Leben der ersten Menschen 
eine sehr lange Dauer hatte, so konnte die Uroffenbarung auch 
nur in wenigen Personen sich von Adam bis auf Moses rein 
und unverfälscht erhalten und mitteilen lassen. Nach der 
gewöhnlichen Annahme lebte Adam 930 Jahre, Seth wurde 912, 
sein Sohn Enos 905 Jahre alt. Henoch lebte 365 Jahre und 
dessen Sohn Methusalem 969 Jahre. Dieser wurde von allen 
Menschen, welche auf Erden lebten, am ältesten. Man nennt 
diese Männer der Urzeit auch Urväter oder Patriarchen. Es 
konnte nun Adam, welcher mit Lamech .noch 50 Jahre zu- 
sammen lebte, diesen über die göttlichen Offenbarungen be- 
lehren: Lamech (777 Jahre) war der Vater des Noe (950 Jahre). 
Er konnte nicht nur diesen, sondern auch dessen Sohn Sem 
(600 Jahre), mit welchem er noch 93 Jahre zusammen lebte, 
unterrichten Sem aber lebte noch 50 Jahre mit Isaak (180 Jahre), 
dieser nun noch 33 Jahre mit seinem Enkel Levi. Der ist 
aber schon Stammvater des Moses, welcher die Urgeschichte 
schriftlich niederlegte, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass er 
bereits frühere Aufzeichnungen benützt hat. (Vgl. Hugo Weiss 
„Moses und sein Volk", S. 143 f., Freiburg i. Breisgau 1885, 
Herder.) 
(Abstammung: Levi — Kaath — Amram u. Jochabed — Moses.) 

Wenn wir nun die Personen: Adam, Lamech, Sem, Isaak, 
Levi und Moses nennen, so haben wir damit eine Reihenfolge 
der mündlichen Überlieferung bezeichnet, welche von den 



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— 3 — 

Ereignissen im Paradiese bis zur Gesetzgebung auf Sinai 
hinreicht. 

Von Adam bis auf Moses wurde die göttliche Offen- 
barung i) zumeist mündlich fortgepflanzt. An eine Fälschung 
derselben war nicht zu denken. Dies würden die Erzväter, 
welche entweder Augenzeugen der göttlichen Offenbarung 
waren oder von Augenzeugen die Überlieferungen empfangen 
hatten, nicht geduldet haben. Moses, welcher am Hofe des 
Pharao in aller Weisheit der Ägypter unterrichtet worden 
war (Act. Apostolorüm 7, 22), hat das grosse Verdienst, die 
Offenbarungen Gottes gesammelt und schriftlich aufgezeicMnet 
zu haben. 

Der Pentateuch ist von ihm während des Wtistenzuges 
und vor dem Einzüge der Israeliten in das gelobte Land ver- 
fasst worden. Das geht u. a. schon aus den geographischen 
Angaben desselben hervor. Dieselben betreffen Ägypten, die 
sinaische Halbinsel und Palästina. Die Kenntnis über die zwei 
ersten Länder wird vorausgesetzt, während Palästina als un- 
bekanntes Land behandelt wird. 

Am Schlüsse nämlich seiner 40jährigen Wtistenfahrt legte 
Moses auf Befehl des Herrn (Deuteronomii c. 31, 1 — 9) sein Führer- 
amt endgültig in die Hände des Josua nieder, um sodann den 
Rest seiner Tage ungestört einem stilleren, wenngleich nicht 
weniger wichtigen und für alle Folgezeit hochbedeutsamen 
Werke hingeben zu können: dem Abschlüsse und der Über- 
gabe seines Gesetzbuches. „Sofort schrieb Moses dieses Gesetz 
und übergab es den Priestern, den Söhnen Levi, welche die 



1) Was nun die Fortpflanzung der Geschichte durch mündliche 
Überlieferung anbelangt; so sei hier noch auf eine Sitte der Indianer in 
Amerika hingewiesen, welche sich von den ältesten Zeiten bis zur Gegen- 
wart unverändert erhalten hat. Der Häuptling eines jeden Stammes hält 
es für strenge Pflicht, in seinen letzten Lebensjahren den ältesten Sohn, 
oder in Ermangelung desselben, die erstgeborene Tochter über die ganze 
Geschichte seines Stammes mündlich zu unterrichten, ohne etwas Schrift- 
liches darüber zu hinterlassen. Einem nur aus der Familie wird die Über- 
lieferung anvertraut, damit dieselbe sich rein und unverfälscht von Jahr- 
hundert zu Jahrhundert erhalten könne. (Gemäss Bericht des 1896 zu 
Saint Cloud, Minnesota, Nordamerika, verstorbenen Missions- Bischof Dr. 
M. Marty.) 



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— 4 — 

Bundeslade des Herrn tragen, und allen Ältesten des Volkes." 
(L. c. c. 31, 9 sq.) 

Wie er schon während des Zuges wiederholt die ihm kund 
gewordenen göttlichen Offenbarungen nebst gewissen geschicht- 
lichen Ereignissen unmittelbar nach deren EintreflFen eigen- 
händig aufgezeichnet (Exodi c. 24, 4 sq.; c. 34, 27; c. 17, 14; 
Numeri c. 33, 2), und sich bei Abfassung solcher Schriftstücke 
der Unterstützung anderer, besonders der Priester, in deren 
Beruf es lag (Levitici c. 10, 11 ; Deuteronomii c. 17, 11), bedient 
hatte; so zögerte er jetzt, am Schlüsse seiner Amtstätigkeit, 
nidit länger mit einer getreuen schriftlichen Fixierung der- 
selben. (Deuteron, c. 31, 9, 24.) Denn wenn schon jede rein 
menschliche Gesetzgebung nicht nur für die Gegenwart, son- 
dern auch für die Zukunft gelten, und deshalb auf Erz und 
Stein usw. verewigt sein will; so durften noch viel weniger 
göttliche Befehle und Offenbarungen einer bloss mündlichen 
Fortpflanzung überlassen bleiben. Darum stellte Moses wahr- 
scheinlich gerade in dieser Zeit alle seine früheren tagebuch- 
artigen Aufzeichnungen zu einem fester geschlossenen Buche 
zusammen. (Vgl, Hugo Weiss „Moses und sein Volk" S. 143 sq. 
Freiburg i. Breisgau, bei Herder 1885.) 

Um aber dem eigenen Berichte über das Verhältnis Gottes 
zu dem auserwählten Volke eine passende Einleitung zu 
geben, schrieb er ausserdem auf Grund vieler im Volke 
verbreiteten hl. Überlieferungen und Schriftquellen die in 
der Genesis enthaltene Vorgeschichte der Gesetzgebung und 
Theokratie^). 



^) Die Kunde dessen, was der unmittelbaren Augenzeugenschaft des 
Moses fem lag, empfing der hl. Seher aus göttlicher Mitteilung und An- 
schauung. Irdischerseits waren seine Quellen : Überlieferungen und Zeug- 
nisse der Familie Jakob und deren Nachkommen im Volke Israel, und 
aus deren Schosse Moses selbst entsprossen war. Gemäss der Ansicht 
älterer jüdischer, wie auch christlicher Ausleger (u. a. Theodoret) verfasste 
Moses dieses Buch „der Ursprünge" (Genesis) bald nach der Gesetz- 
gebungen auf Sinai, geleitet von Offenbarungen, welche ihm während seines 
40tägigen Weilens im (ekstatischen) Verkehre mit Gott zuteil geworden 
waren: TTioTci vooö|üi€v KaTr\pTiaQai roix; aliüva^ ()fmaTi 06oö* ad Hebraeos 
c. II, 3. Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch das 
Wort Gottes erschaffen ist. 



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— 5 — 

Die Geschichte der Welt (Genesis c. 1,; 1—2, 3) dann die 
der Erde (1. c. c. 2, 4—14); hierauf die Geschichte der Mensch- 
heit (1. c. c. 2, 15 — c. 11, 9); endlich die Schicksale der semi- 
tischen Linien, speziell der Familie Abrahams (c. 11, 10 — 
c. 50, 25 ibid.) schildert er nach einem durchaus einheitlichen 
Plane und stellte damit das anbetungswürdige Walten Gottes 
bei der fortwährenden Aussonderung kleinerer Kreise, sowie 
zuletzt bei der Vorbereitung der israelitischen Nation für ihren 
hochbedeutsamen Beruf in das klarste Licht. Unbedenklich 
nahm er übrigens hierbei, der im Altertum allgemein gebräuch- 
lichen Sitte folgend, die vorhandenen Quellen mitunter wört- 
lich in seine Darstellung auf. Hierdurch wurde zwar manche 
Wiederholung sowie Ungleichmässigkeit in Stil und Schreib- 
weise veranlasst, aber auch ein ganz volkstümliches Werk ge- 
schaffen. (Vgl. Fr. Kaulen „Einleitung in die hl. Schrift", 
S. 157 f.; Roos „Die Geschichtlichkeit des Pentateuchs" S. 157 
und folgende.) 

Durch die vielfachen unwillkürlichen Anklänge seiner 
Sprache an die Sprache des soeben verlassenen Pharaonen- 
landes drückte er schliesslich seinem Werke ein deutliches 
Siegel seiner schriftstellerischen Hand auf, was auch in der 
Folgezeit um so weniger verkannt werden konnte, je seltener 
in der ganzen späteren Literatur des Alten Testamentes wieder 
eine Berührung der hebräischen mit der ägyptischen Sprache 
vorkam. (Vgl. Vigouroux „La Bible et les d^couvertes mo- 
dernes*' IL p. 619 sq.) — Dieses ganze Buch nun übergab Moses 
in Gegenwart der Ältesten Israels (Deuteron, c. 31, 9, 25 sq.) 
den Priestern, welche den Transport der Bundeslade zu be- 
sorgen hatten, und befahl ihnen, dasselbe an der Seite der 
Bundeslade zum Zeugnisse gegen das vielleicht öfters noch 
widerspenstige Volk aufzubewahren. Daselbst hatte es auch 
als Kommentar und weitere Ausführung zu dem Zweitafel- 
gesetz seinen angemessensten und würdigsten Platz. „Nach- 
dem nun xMoses die Worte dieses Gesetzes in ein Buch ge- 
schrieben und sie vollendet hatte, befahl er den Leviten, welche 
die ßundeslade des Herrn tragen, und sprach: „Nehmet dieses 
Buch und leget es neben die Bundeslade des Herrn, eures 
Gottes, dass es dort gegen dich, Israel, sei zum Zeugnisse!*^ 
(Deuternom. c. 31, 24—27.) Leopold von Ranke sagt in 



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— 6 — 



seiner Weltgeschichte (1., 42): „Moses ist die erhabenste Per- 
sönlichkeit der ältesten Zeit!''^) 



1) Wenn Professor Hugo Weiss in seinem Werke „Moses und sein 
Volk" S. 145 sq. annimmt, dass das Original des Moses nur bis zur Zer- 
störung des salomonischen Tempels (ac. 588 a. Chr.) existiert habe, so scheint 
er zu übersehen, dass die Bundeslade und das hl. Zelt vor jener Zer- 
störung im Auftrage Gottes durch den Propheten Jeremias in einer Höhle 
des Berges Nebo verborgen wurde. Nach der Überlieferung sollen sie 
daselbst bis zum Ende der Zeiten aufbewahrt bleiben. (Vgl. II. Macha- 
baeorum c. 2, 4 — 9.) Es ist anzunehmen, dass Jeremias bei dieser Gelegen- 
heit auch für die Sicherstellung des neben der Bundeslade hinterlegten 
Mosaischen Gesetzbuches gleichmässig Sorge getragen habe, welches unter 
der Regierung des Königs Josias (ca. 629 vi Chr.) in der Urschrift („von 
der Hand des Moses": II. Paralipomenon 34, 14) wieder aufgefunden 
worden war. (Vgl. auch IV. Regum c 22, 8 f.) Mach Neteler „Abriss 
der alttestamentlichen Literatur" S. 63; Reischl u. a. Jenes Original war 
bei der Zerstörung Jerusalems annähernd 850 Jahre alt, was bei Pergament- 
schriften keine ungewöhnliche Erscheinung ist. Das Coblenzer Staats- 
Archiv besitzt eine Urkunde d. d. Pfingstfest 1019, in welcher Heinrich II. 
(1002 — 1024) den Hof Hohingen in der Grafschaft Hammerstein a. Rh. 
dem Domstifte zu Bamberg in Bayern zu eigen übergab. Dieser Schenkungs- 
brief des deutschen Kaisers ist gegenwärtig bereits 886 Jahre alt, aber 
noch so gut erhalten, dass man glauben sollte, ein Dokument aus vorigem 
Jahre vor Augen zu haben. Daselbst ist auch die älteste Originalurkunde, 
welche die deutschen Archive aufzuweisen haben, nämlich ein Schenkungs- 
akt von dem fränkischen Könige Pipin dem Kurzen aus dem Jahre 760 
in welchem das Kloster zu Fulda Güter erhält. Jetziges Alter = 1 145 Jahre. 



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Die Entstehung des Heidentums. 



„Obgleich die Menschen den wahren Gott eikannt 
hatten^ so verehrten sie ihn dennoch nicht als Gott 
und sagten ihm nicht einmal Dank; sondern sie wurden 
ganz töricht in ihrer Gesinnung, und es verfinsterte sich 
ihr unverständiges Herz. Sie glaubten zwar, weise zu 
sein, wurden aber Toren, indem sie die Herrlichkeit 
des unvergänglichen Gottes mit Bildnissen von sterb- 
lichen Menschen, von Vögeln, vierfüssigen und kriechen- 
den Tieren vertauschten/' Ad Romanos c. i, 21 sq.^) 

Ungefähr 1500 Jahre nach Erschaffung der Welt ereignete 
sich die Stindflut. Um 170 Jahre später geschah der Turmbau 
zu Babel 2). 

Wie nämlich Josephus Flavius „Antiquitatum Jud." 1. I. 
c. 4, n. 2 sq. berichtet, hatten die Söhne des gerechten Noe : 
Sem, Cham und Japhet sich einer zahlreichen Nachkommen- 
schaft zu erfreuen, welche aber, ungewarnt durch die Strafe 
der grossen Flut („Sintflut*'), von Gott abfielen. Zu ihrer 
Lebenserhaltung wollten sie sich einen grossen Turm bauen, 



^) „Heidentum" bedeutet so viel als Zustand der Götzendiener. Das 
Wort „Heide" leitet sich her von „Haide"- (Wald), oder „Feldbewohner*', 
(Lateinisch: paganus, von pagus = Landgemeinde: Codex Theodosianus), 
wie es die alten vorchristlichen Deutschen waren. Von den nachchrist- 
lichen Zeiten würde der Ausdruck mit homo non christianus, und „Götzen- 
diener" mit falsorum deorum cultor, gentilis, ethnicus, wiederzugeben sein. 
(Gemäss Tertullian und Augustinus.) 

2) Ganz genaue Zahlen können nicht angegeben werden, weil die 
Art und Weise der Berechnung nicht überall gesichert scheint. Überdiess 
weichen die Zeitbestimmungen des hebräischen und griechischen (Septua- 
ginta) Textes um mehrere Jahrhunderte voneinander ab. Vgl. „Schöpfung, 
Bibel und Inspiration" von Prof. Dr. Holzhey; Stuttgart 1902, bei Joseph 
Roth, S. 20 u. 22 \ sowie Prof. Dr. Schanz „Das Alter des Menschen^ 
geschlechtes." Freiburg, Herder, 1896. 



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— 8 — 

um gegen eine neue Überschwemmung sicher zu sein. Ihr 
Anführer bei diesem Werke hiessNemrod, ein Enkel des Cham i). 

Derselbe verleitete die Menschen, nicht von Gott, dem 
Herrn, sondern nur von ihrer eigenen Kraft das Heil zu er- 
warten. Er gilt als Erbauer des babylonischen Turmes und 
Begründer des Götsendienstes, Vgl. Augustinus „de civitate 
Dei" 1. 16, c. 4; auch Genesis c. 10, 8—10. Gott, der Herr, 
aber Hess während jenes Turmbaues die Sprachverwirrung 
entstehen, so dass die Völker von dem Werke ablassen und 
sich zerstreuen mussten. Die Überlieferung (Augustinus „de 
civitate Dei" 1. 16, c. 11) nennt Babel („Verwirrung", Genesis 
c. 11, 8) als Ausgangspunkt von 72 Nationen und Sprachen. 
Diese Zersplitterung hatte ausser dem Charakter einer Strafe 
für den Ungehorsam und die Überhebung der Menschen, auch 
noch den Zweck, das zunehmende Böse in der Welt zu lokali- 
sieren und damit in bestimmten Schranken zu halten. Sie war 
ein Damm gegen eine allgemeine geistige Überschwemmung 
von Sünden und Lastern^). 

Nach der Stindflut ging das hohe Lebensalter der Menschen 
schnell zurück. Während Noe ein Alter von 950 Jahren er- 
reichte, wurde dessen Sohn Sem nur 600 Jahre, dessen Nach- 
komme Phaleg 239 Jahre alt. (Bei seiner Lebenszeit geschah 



*) Nemrod heisst in der hebräischen Sprache „der Empörer"; im 
Assyrischen kann sein Name (Nebrodes bei Josephus Flavius) „Held", 
„Tapferer" bedeuteten. Nach den assyrischen Keilinschriften wird seine 
Wirksamkeit um das Jahr 2250 v. Chr. angesetzt, was mit der biblischen 
Zeitrechnung sich vereinigen lässt. 

^) Bei dem Studium der alten Geschichte ist die Jugend vorwiegend 
geneigt, sich für Hannibal und gegen die Römer zu entscheiden. Und 
dennoch war der Sieg des Scipio Africanus über Chartago bei Zama 
(202 V. Chr.) von unberechenbarem Nutzen für die Kultur der ganzen 
Menschheit. Hätte nämlich Afrika den endgültigen Triumph über Italien 
erreicht, so wäre der blutige und grausame Molochdienst der Punier auf 
Jahrhunderte im römischen Reiche zur Herrschaft gelangt und hätte in 
der Folgezeit von hier aus das ganze Abendland wie eine Sündflut über- 
schwemmt. Auf unabsehbare Zukunft wäre damit die Entwickelung der 
Menschheit zurückgedrängt worden, und die Einführung des Christentums 
hätte ungeahnte Schwierigkeiten gefunden. Auch waren die Römer allein 
imstande, die Einheit auf dem bekannten Erdkreise herbeizuführen und 
dem Christentum© die Strassen für seine rasche Ausbreitung zu bauen. 



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- - 

der Turmbau zu Babel: Genesis 10, 25). Nachor erreichte 
148 Jahre; Abraham 175; Isaak 180 Jahre; Jacob 147 Jahre; 
Joseph 110 Jahre; Moses 120 Jahre. Er sagte aber: „Die Tage 
unserer Jahre sind 70 Jahre; wenn aber in Kraft, dann 80 Jahre, 
und was darüber ist Mühsal und Schmerz.'* Psl. 89, 9 sq. 

Diese Altersverhältnisse sind auch jetzt nach bereits 3400 
Jahren noch zutreffend: zum Nutzen der Menschheit. Welch 
eine Ausdehnung hätte nicht das Böse gewonnen, wenn ein 
Pharao der Verfolgung in Ägypten, ein Antiochus in Syrien, 
ein Herodes in Judäa und ein Nero im römischen Reiche die 
Lebensdauer von 900 Jahren hätte erreichen können! Wie 
unbeschreiblich gross wären dann die Prüfungen für die Gerech- 
ten geworden! 

Freilich war es auch eine Folge jener Spaltung, dass das 
Band der Eintracht, welches früher alle Menschen umschloss, 
nunmehr sich löste, so dass die einzelnen Nationen sich gegen- 
seitig entfremdeten und in feindseliger Gesinnung gegenein- 
ander auftraten: Anfang des Krieges. 

So berichtet Cicero „de officiis" 1. I., c. 12, n. 1 sq. ; 
„Hostis (Nebenform von hospes, = Gast und Gastfreund) enim 
apud majores nostros is dicebatur, quem nunc peregrinum dici- 
mus. Quamquam id nomen durius effecit vetustas. A peregrino 
enim recessit, et proprio in eo, qui arma contra ferret, remansit". 
Der Ausdruck „hostis*^ hatte bei unsern Vorfahren die Bedeutung, 
welche wir jetzt mit dem Worte „peregrinus" = ein Fremder, 
verbinden. Indessen hat sich in der Zeitenfolge der Sinn des 
Wortes verschärft. Denn die früher übliche Bedeutung „hostis^' 
= „Fremder" verlor sich, und man bezeichnet mit dem Worte 
„hostis*^ jetzt nur mehr einen ^Feind'-'-^ welcher im Kriege die 
Waffen gegen uns führt! — Dieser Sprachgebrauch aber bildete 
sich, weiljederFremdefür einen Feind angesehen und als solcher 
behandelt wurde. — Ähnlicher Weise bezeichnet das Wort ßdpßapo^ 
bei den Griechen ursprünglich einen Ausländer, einen Fremden. 
Später jedoch änderte sich die Bedeutung in ttoX^ilug^, dviaTu)- 
vi(7Tr|q = Feind, Widersacher. So heisst es bei Herodot 
,,Historiarum** 1. I. c. l,initio: „''EXXeveq Kai ßdpßapoi diroXeiiTi^yciv 
dXXnXuiv^'; die Griechen und Barbaren führten Krieg mitein- 
ander; wobei der Ausdruck ßdpßapoi sowohl die ausländischen 
Perser, als auch „die Feinde" der Griechen bedeutet. Ebenso 



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— 10 -*■ 

erzählt Cornelius Nepos in der vita Miltiadis c. VII. : „Post hoC 
proelium (apud Marathona) classem LXX navium Athenienses 
eidem Miltiadi dederunt, ut insulas, quae barbaros (= Feinde: 
adversarios, dvTaTOVKTTd^) adjuverant, bello persequeretur. Nach 
der Schlacht bei Marathon (490 a. Chr.) gaben die Athener 
dem Milthiadis eine Flotte von 70 Schiffen, damit er die Inseln, 
welche die Barbaren (= Feinde und Gegner der Griechen) 
Hülfe geleistet hatten, mit Krieg tiberziehe. 

„Mit dem Wurfspiess, mit dem Bogen, 
Schritt der Jäger durcli das Land: 
Wek' dem Fremdlinge den die Wogen 
Warfen an den Unglücksstrand!" 

Fr. V. Schiller, „Das eleusische Fest'^ I798. Iphigenie auf 
Tauris (Krim) II. Auftritt. Arkas: 

„Und dieses Ufer ward dir hold und freundlich, 
Das jedem Fremden sonst voll Grausens war\ 
Weil niemand unser Reich vor dir betrat, 
Der an Dianens heil'gen Stufen nicht 
Nach aliem Brauch zum Opfer fiel.^*^) 

Der Fremde wurde als Feind behandelt, weil das Bewusst- 
sein einer gemeinsamen Herkunft von Einem Stammvater bei den 
Völkern sich nach und nach verloren hatte. Die Überlieferungen 
der Vorzeit („die Urofifenbarung"), ihrer festen Unterlage beraubt, 
trübten sich bei dem gottentfremdeten Sinne der Menschen bis 
zu nur dunkelen Erinnerungen und kamen allmählich fast ganz 
in Vergessenheit. Aristoteles nennt daher dieselben in seiner 
Metaphysik (12. Buch 8. Kapitel in fine) „Trümmer einer unter- 
gegangenen Weisheit, welche sich noch bis auf unsere Tage 
gerettet haben.** Es waren eben nur einzelne missverstandene 
Bruchstücke übrig geblieben, von denen er (1. c.) sagt: „Nur 
insofern (d. h. teilweise) ist uns die Vorstellung unserer Väter 
und die Überlieferung der Urzeit noch verständlich." Vgl. 
Vorwort S. XIII. 

Bis zum Turmbau zu Babel nämlich hatte noch die 
Gesamtheit der Menschen den einen wahren Gott anerkannt 
und verehrt: man wusste es noch, dass von Ihm alles Gute 



1) Wolfgang von Goethe schrieb dieses Werk unter Anlehnung an 
Euripides im Jahre 1779 zuerst in Prosa; später aber während seiner 
italienischen Reise brachte er dasselbe in Verse: 1786. 



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— 11 -— 



herkomme, und dankte Ihm auch dafür in gemeinsamem Gottes- 
dienst. (Genesis c. 4, v. 26.) Nemrod überredete dieselben, 
Gott, den Herrn, in Zukunft nicht mehr als Spender aller Wohl- 
taten anzusehen, sondern nurmehr auf ihre eigne Kraft zu ver- 
trauen. Damit kam die wahre Gottesverehrung ausser Übung, 
und der Turm zu Babel hatte die Bestimmung, ein Trutzveste 
zu sein, welche bis zum Himmel reichen sollte. Die natürliche 
Folge aber war, dass, je weiter die Menschen vom Lichte 
zurücktraten, desto tiefer sie in den Schatten, d. h. in die Ver- 
finsterung sanken. S. Paulus charakterisiert den Verfall der 
höheren Kultur jenpr Zeit historisch und psychologisch sehr 
genau, wenn er im Römerbriefe (c. 1, v. 21 f.) ausführt: „Obgleich 
die Menschen den wahren Gott erkannt hatten, so verehrten 
sie ihn dennoch nicht als Gott und sagten ihm nicht einmal 
Dank (für seine Wohltaten); sondern sie wurden ganz töricht 
in ihrer Gesinnung, und es verfinsterte sich ihr unverständiges 
Herz. Sie glaubten zwar, weise zu sein, wurden aber Toren." 

Obgleich nun die Menschen in der Mehrzahl den wahren 
Gott verleugnet hatten, so fühlten sie sich dennoch, wie durch 
einen geheimen Instinkt ihrer Natur, dazu gedrängt, irgend ein 
höheres Wesen anzuerkennen und zu verehren. Damit aber 
waren die Bedingungen gegeben, aus denen sich das Heidentum 
(d. h. der Zustand der vom wahren Gott abgefallenen Mensch- 
heit) mit einer Art von Notwendigkeit entwickeln musste. 

Hatten sie sich nämlich durch ihren Willen mit Gott in 
einen so hartnäckigen Widerspruch versetzt, wie derselbe nach 
dem Stidenfalle offenbar geworden und bei Errichtung der 
Trutzveste in Babel zur Vollendung gekommen war, so lag nichts 
näher, als dass sich bei ihnen auch allmählich die wahre Er- 
kenntnis trübte, so dass sie, durch ihren freien Willen von 
Gott abgehalten^ nunmehr auch mit ihrem Verstände von ihm 
abfielen. Weil aber der menschlichen Natur das Bedürfnis 
angeboren ist, etwas Höheres zu verehren, so suchte man, statt 
des wahren Gottes, welchem man sich entfremdet hatte, andere 
Wesen auf, denen nun der Name Gottes beigelegt und eine 
religiöse Verehrung gewidmet wurde. Statt des Einen, wahren 
Gottes schufen sich die Menschen aber mehrere falschen Götter. 
Alles nämlich, was nicht der wahre Gott ist, kann nur beschränkt, 
unzureichend und endlich sein ; es kann daher dem menschlichen 



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— 12 — 

Herzen, welches unendliche Bedürfnisse hat, nie vollkommen 
gentigen. Was ihnen nun die eine Gottheit nicht gewähren 
konnte, das suchten sie bei einer anderen. Damit war die 
Vielgötterei gegeben. Nun wählte man sich die Götter selbst 
aus nach dem eigenen Sinne und nach dem verkehrten Herzen. 
Abgefallen nämlich von dem übersinnlichen, unsichtbaren 
und rein geistigen Gott, fielen die Menschen dieser sichtbaren 
Welt der Geschöpfe ganz anheim, so dass sie jene Verehrung^ 
welche nur dem unsichtbaren Schöpfer gebührte, zuerst auf 
die Geschöpfe in der Sinnenwelt (die Gestirne usw.), sodann auf 
die Werke der eigenen Hände (Bilder von Holz und Stein), und 
zuletzt noch auf die verkehrten Leidenschaften übertrugen. In 
dieser Weise entstand das Heidentum mit seinen unsähligen Ver- 
irrungen im Götzendienste: „Facilis descensus Averno!** Virgilii 
„Aeneidos" 1. VI., 126. „Leicht ist das Hinabsteigen zur Tiefe!" 
Sehr anschaulich wird die Entstehung des Heidentums 
und die hierauf folgende Entartung im 12. und 13. Kapitel des 
Buches der Weisheit (über Sapientiae) beschrieben; desgleichen 
im L Kapitel des Römerbriefes (epistola ad Romanos). Es 
heisst in demselben: „Die Heiden glaubten zwar weise zu sein, 
wurden aber Toren, indem sie die Herrlichkeit des unver- 
gänglichen Gottes mit Bildnissen von sterblichen Menschen, 
von Vögeln, vierfüssigen und kriechenden Tieren vertauschten." 
(L. c. c. 1,22 sq.) Der griechische Kirchenvater Athanasius 
(296—2. Mai 373) erklärt diese Stelle in folgender Weise: „Von 
dem wahren Gotte abgefallen, erwiesen die Menschen zuerst 
den Gestirnen, der Sonne und dem Monde, eine göttliche Ver- 
ehrung. In noch grösserer Verirrung hielten sie die Elemente 
der Dinge für göttliche Wesen: Feuer, Wasser, Luft und Erde 
(Vulkan, Poseidon, Aegir usw. Neptun, Oceanus); die Gestalten 
der Menschen sowohl lebender als auch verstorbener, versetzten 
sie unter die Götter (der Heroenkultus); sogar die sinnlichen 
und kriegerischen Gelüste, wie Aphrodite (Venus) und den 
Mars. Ihre Herrscher und dessen Söhne machten sie zu Göttern; 
sei es aus Furcht vor ihrer Tyrannei oder aus Ehrfurcht : wie 
die Bewohner der Insel Greta den Zeus^) und die Ägyptier 



^) Der Philosoph Euhemerus (300 v. Chr.) aus Messene wies in 
einer ausführlichen Schrift nach, dass die Götter des Volkes dadurch 



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— 13 — 

den Osiris. Noch kürzlich geschah es so mit Antinous aus 
Furcht vor dem Kaiser Hadrian, dessen Genosse er war." S. 
Athanasii „adversum Gentes" 1. I. c. 8. 

Über die vielen Ausschweifungen, welche mit dem Götzen- 
dienste der Heiden verbunden waren, berichtet Arnobius (a. 327) 
in seinem 7 Bücher umfassenden Werke ^adversus nationes", 
und S. Augustinus (a. 13. Novbr. 354—28. Aug. 430) „de civitate 
Dei" 1. VI. und VII. 

Die tiefe Erniedrigung^ welche durch den Götzendienst 
für die Menschen entstand, können wir aus dem Tierdienst bei 
den Ägyptiern (Apis, Ibis usw.) und Babyloniern (Schlange, 
Drache); aus dem iBnstern und grausamen Molochdienst der 
Phönizier und Punier (Menschenopfer) zur Genüge erkennen. 
Auch die alten Deutschen brachten Menschenopfer dar. So 
berichtet Julius Caesar „de hello Gallico" 1. VI., c. 16: „Natio 
est omnis Gallorum admodum dedita religionibus, atque eam 
ob caussam qui sunt adfecti gravioribus morbis quique in 
proeliis periculisque versantur, aut pro victimis homines immo- 
lant aut sc immolaturos voventy administrisque ad ea sacrificia 
druidibus utuntur, quod, pro vita hominis nisi hominis vita 
reddatur, non posse deorum immortalium numen placari arbi- 
trantur, publiceque ejusdem generis habent instituta sacrificia." 
Die gesamte Nation der Gallier ist den religiösen Gebräuchen 



entstanden seien, dass man Leute, welche sich in der Vorzeit grosse Ver- 
dienste um die Menschen erworben hätten, zu übernatürlichen Wesen erhoben 
habe. So seien die Götter ursprünglich menschlicher Natur gewesen; ihre 
Tempel wären nichts anders, als die Gräber solcher verstorbenen Menschen, 
und die Mythologie nur die sagenhaft ausgestaltete Geschichte ihres Lebens. 
In seiner lepdt dvatpaqpri; Fragm. XIL sagt er: „Jovis sepulchrum in Greta 
est et in oppido Cnosso, et dicitur Vesta hanc urbem creavisse inque 
sepulchro ejus est inscriptum antiquis litteris Graecis: ZAN KPONOY, 
id est Latine: Juppiter Saturni (filius)!" Das Grab des Zeus befindet sich 
auf der Insel Greta, in der Stadt Gnossus, und man sagt, Vesta habe 
diese Stadt erbaut. An dem Grabmal ist eine Inschrift angebracht mit 
alt-griechischen Buchstaben: ZanKronoy; das heisst in lateinischer Sprache : 
Juppiter Saturni (filius) — Zeus, Sohn des Satumus. Gicero „de natura 
Deorum" 1. L, c. 42 behauptet von dem Philosophen Euhemeros: „Ab 
Euhemero et mortes et sepulturae demonstrantur Deorum!" Euhemerus 
beweist die Todesfälle und die Begräbnisse der Götter (,,der vergötterten 
Menschen"). 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 3 



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-^ 14 — 

sehr ergeben, und das ist auch die Ursache, warum die Schwer- 
erkrankten sowie diejenigen, welche sich im Kampfe oder in 
Gefahren befinden, entweder Menschenopfer darbringen oder 
doch solche darzubringen geloben) sie bedienen sich hierbei 
der Druiden (von „Derwydd" oder „Dryod", altbritisch = weiser 
Mann). Ihr Spruch aber lautet: ^Wenn nicht für das (schuld- 
volle) Leben eines Menschen das {reine) Leben eines Menschen 
geopfert wird, so kann der Zorn der unsterblichen Götter nicht 
besänftigt werden^. (Numen deorum imm. = Die (beleidigte) 
Majestät der Gottheit.) Im öffentlichen Interesse haben sie 
Opfer dieser Art („Menschenopfer") eingesetzt. (Cf. Flav.Josephi 
„de Bello Judaico" 1. VII., c. 6.) 

Die Römer pflegten bei ihren Triumphzügen nach der 
Hinrichtung der Kriegsgefangenen zu sagen: „actum est!" = 
„es ist vorbei damit!" (Das Menschenopfer ist vollbracht). Die 
Griechen waren nicht besser. 

Der Heroenkultus mit seiner Menschen Vergötterung (Apo- 
theose) wird schon von Titus Livius in seiner „Römischen 
Geschichte" : ab urbe condita 1. 1., c, 16 in bezug auf Romulus 
erwähnt: „Quum Romulus ad exercitum recensendum con- 
tionem in campo ad Caprae paludem haberet, coorta tem- 
pestas cum magno fragore tonitribusque tam denso regem 
operuit nimbo, ut conspectum ejus contioni abstulerit: nee 
deinde in terris Romulus fuit. Romana pubes sedato tandem 
pavorCj postquam ex tam turbido die serena et tranquilla 
lux rediit, ubi vacuam sedem regiam vidit, etsi satis cre- 
debat patribus, qui proxumi steterant, sublimen raptum pro- 
cella, tarnen velut orbitatis metu icta moestum aliquamdiu 
Silentium obtinuit. Deinde a paucis initio facto deum deo natum, 
regem parentemque urbis Romanae salvere universi Romulum 
jubent\ pacem precibus exposcunt, uti volens propitius suam 
semper sospitet progeniem. Fuisse credo tum quoque aliquos, 
qui discerptum regem patrum manibus taciti arguerent — 
manavit enim haec quoque, sed perobscura fama — ; illam alteram 
admiratio viri et pavor praesens nobilitavit. Et consilio etiam 
unius hominis addita dicitur rei fides. Namque Proculus Julius, 
soUicita civitate desiderio regis et infensa patribus, gravis ut 
traditur, qamvis magnae rei auctor, in contionem prodit. 'Romu- 
lus', inquit, 'Quirites', parens urbis hujus, prima hodierna luce 



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- IS - 

coelo repente delapsus se mihi obviam dedit. Quum perfusus 
horrore venerabundus adstitissem, petens precibus ut contra 
intueri fas esset, 'abi', inquit, 'nuntia Romanis coelestes ita 
velle, ut mea Roma caput orbis terrarum sit ; proinde rem mili- 
tarem colant sciantque et ita posteris tradant nuUas opes hum- 
anas armis Romanis resistere posse'. Haec inquit locutus^ 
sublimis abiit.^ 

Als Romulus bei Gelegenheit der Heerschau im Marsfelde 
in der Nähe des Ziegenteiches eine Rede hielt, entstand plötz- 
lich ein Ungewitter: Mit grossem Krachen und furchtbaren 
Donnerschlägen umhüllte eine so dichte Nebelwolke den König, 
dass sein Anblick der Versammlung des Heeres entzogen 
wurde; von dieser Zeit an weilte Romulus nicht mehr auf 
Erden, (Cf. L. Genesis c. 5, v. 2B sq. : „Und Hennoch ward nicht 
mehr gesehen".) Als nun die römische junge Mannschaft, so- 
bald sich ihre Bestürzung infolge der nach einem solchen 
Sturmwetter am Himmel zurückgekehrten Ruhe, gelegt hatte, 
den königlichen Sitz leer sah, schenkte sie zwar den Patri- 
ziern, welche zunächst gestanden hatten, Glauben: Romulus 
sei im Sturm wetter zum Himmel entrückt worden; aber sie be- 
obachtete doch im bangen Gefühle der Verwaisung ein tief- 
trauriges Stillschweigen. Hierauf sodann, als einige den Anfang 
gemacht hatten, fingen alle an, den Romulus als Gott, von 
einem Gott [dem Mars) entsprossen^ als König und Vater der 
Stadt Rom qu begrüssen und bu verehren. Flehentlich baten 
sie um Heil, dass er seine Nachkommen huldreich und gnädig 
allezeit beschirmen woUe.^ 

Damals schon, so glaube ich, gab es einige, welche im 
stillen den Vorwurf erhoben, Romulus sei von den Händen 
der Patrizier erschlagen worden — denn auch dieses wenn- 
gleich sehr dunkele Gerücht verbreitete sich — ; die erste An- 
nahme jedoch hat mehr Gewicht wegen der Bewunderung, 
welche man jenem augezeichneten Manne zollte und auch wegen 
der gegenwärtigen Verehrung desselben. — Und durch die 
staatsmännische Entschliessung eines Einzigen erhielt gemäss 
der Überlieferung dieser Vorgang eine Bestätigung. Proculus 
Julius nämlich, ein unanfechtbarer Gew^ährsmann für die wenn- 
gleich wunderbare Sache, kam zur Versammlung, als die Bür- 
gerschaft um den König trauerte und Sehnsucht nach ihm 



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— i6 - 

hatte, den Patriziern aber feindselig gesinnt war, und sprach: 
„Quiriten! Romulus der Vater dieser Stadt, fuhr heute morgen, 
als der Tag eben graute, urplötzlich vom Himmel und kam 
mir entgegen. Als ich nun von heiligem Schauer durchbebt 
stillstand, bat ich flehentlich, ihn anschauen zu dürfen. Er 
aber gab mir zur Antwort : *Gehe und verkündige den Römern, 
die Himmlischen wollten es also, dass mein Rom die Haupt- 
stadt des ganzen Erdkreises werde. Daher sollten sie das 
Kriegswesen eifrig pflegen und wissen und ebenso ihren Nach- 
kommen überliefern, dass keine menschliche Gewalt den römi- 
schen Wafien widerstehen könne!' Als er das gesagt hatte^ 
fuhr er wieder sunt Himmel .^ 

Livius fügt hinzu : mirum, quantum illi viro nuntianti haec 
fides fuerit quamque desiderium Romuli apud plebem exerci- 
tumque facta fide immortalitatis lenitum sit. Es ist wunderbar, 
wie schnell man der Mitteilung dieses Mannes Glauben schenkte, 
und wie rasch die Sehnsucht nach Romulus bei dem Volke und bei 
dem Heere sich milderte, nachdem (durch die Verkündigung des 
Proculus) eine Beglaubigung seiner Unsterblichkeit erfolgt war. 

Der vergötterte Romulus, der Stammheros der Ramnes 
(der latinischen Untertanen), identifiziert mit dem sabinischen 
Quirinus (Mars), wird gemeinsamer Schutzgott der Ramnes 
und Tities (Sabiner) d. h. Quirlten: Romulus Quirinus l Sein 
Fest die Quirinalia, wurde am 17. Februar (XIII. Calendas 
Martias) mit grossem Prunk gefeiert. Cf. Ciceronis ad Quintum 
fratrum epistola 2, 3, 4 und 13, 3. Derselbe berichtet „de re- 
publica" 1. 1., c. 25: Romulus sei während einer Sonnenfinsternis 
zu den Himmlischen entrückt worden. Vgl. auch „de natura 
Deorum** 1. IL, c. 24, und „de senectute" 1. III., c. 2. 

Von Julius Caesar bringt Suetonius Tranquillus folgende 
Nachricht („Divi Julii" c. 88) : „Periit (interfectus est) sexto et 
quinquagesimo aetatis anno atque in Deorum numerum relatus 
est, non ore modo decernentium sed etiam persuasione vulgi." 
„Plebs solidam columnam in foro statuit scripsitque: Parenti 
Patriae! Apud eam longo tempore sacrificare, vota suscipere, 
controversias quasdam interposito per Caesarem jurejurando 
distrahere, perseveravit." L. c. c. 85. Er starb (d. i. er wurde 
ermordet) in seinem 56. Lebensjahre und wurde unter die Zahl 
der Götter versetst, nicht bloss durch den Ausspruch des 



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— 17 — 

Senates, sondern auch gemäss der Überzeugung des Volkes. 
Dasselbe errichtete ihm eine gediegene Säule auf dem Markte 
mit der Inschrift: „Dem Vater des Vaterlandes!" Und lange 
Zeit war es gewohnt, daselbst zu opfern, Gelübde zu machen 
und gewisse Streitigkeiten zu schlichten, indem unter Anrufung 
des Caesar der Eidschwur abgelegt wurde. 

Ebenso berichtet er von Augustus. 

„Verum adhibito honoribus modo bifariam laudatus est : pro 
aede divi Julii a Tiberio et pro rostris veteribus a Druso Tiberii 
filio, ac senatorum humeris delatus in Campum (Martium) cre- 
matusque. Nee def uit vir praetorius, gut se effigiem crentati eun- 
tem in coleuni vidisse juraret.^ L. c. Divi Augusti c. 100. 

Man setzte aber ein festes Programm für die Leichenfeier 
des Augustus auf: an zweien Stellen wurde ihm eine Leichen- 
rede (laudatio funebris) gehalten, und zwar vor dem Tempel 
des göttlichen Julius (Caesar) durch Tiberius und auf der alten 
Rednerbtihne von Drusus, dem Sohne des Tiberius. Auf den 
Schultern der Senatoren wurde seine Leiche zu dem Marsfeld 
getragen und dort verbrannt. Auch trat ein früherer Praetor 
auf, welcher unter einem Eidschwur beteuerte, er habe die 
verklärte Gestalt des Caesar sum Himmel aufsteigen sehen. 

Desgleichen von Claudius. 

„Vita cessit IIL Idus Octobres Asinio Marcello, Acilio 
Aviolo consulibus, sexagesimo quarto aetatis, imperii quarto 
decimo anno, funeratusque soUemni principum pompa et in 
Deorum numerum relatus est.^ 

Er schied am 13. Oktober (54 n. Chr.) aus dem Leben, 
unter dem Konsulate des Asinius Marcellus und Acilius Avi- 
olus, in seinem 64. Lebens- und 14. Regierungsjahre. Die 
Leichenfeier wurde nach dem für die Kaiser festgesetzten 
Programme gehalten und er seiher unter die Zahl der Götter 
aufgenommen. 

Auch die alten Deutschen versetzten ihre Helden und 
Könige zu den Himmlischen nach Walhalla, und der ihnen 
geweihte Tempel stand nach Olaus Magnus („De gentibus 
Septentrionalibus etc." Romae 1855: Über die nordischen Völker) 
schon seit Ninus (a. 1250 a. Chr.) auf der Stelle, wo sich später 
die Stadt Upsala erhob. Gemäss der Überlieferung war der 
Tempel ein Werk des Yngwe-Freyr, des H. Königs von Schweden, 



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— i8 — 

dessen Vorgänger: König Odin als 1, Regent in Upsala sunt 
Gott erhoben wurde. Auf einer hochgelegenen und schönen 
Ebene bei seiner ehemaligen Hauptstadt, nahe den drei, auch 
heute noch von den Reisenden mit Verehrung besuchten 
Riesengräbern Odins, Thors und FreyrSy erglänzte in alt- 
asiatischer Pracht, gleich den indischen am Strande des 
Ganges, dieses uralte Heiligtum. Während der ganzen Dauer 
des Heidentums im Norden war der Tempel zu Upsala die 
Zentralstätte, zu welcher das schwedische Volk selbst und die 
übrigen umherwohnenden Nationen, wie die Norweger und 
Dänen, sowohl zur Feier ihrer jährlich wiederkehrenden heiligen 
Tage, als auch zur gemeinsamen Beratung in sonstigen wichtigen 
Angelegenheiten zusammenkamen i). 

Cicero „de natura Deorum" 1. II., c. 24 sagt: „Suscepit 
autem vita hominum consuetudoque communis, ut beneficiis 
excelentes viros in coelum fama ac voluntate toUerent." 

Diese klassische Sentenz gibt Friedrich von Schiller mit 
folgenden Versen wieder: 

^,Was leisteten die tapferen Helden, 

Von denen uns die Lieder melden, 

Die zu der Götter Glanz und Ruhm 

Erhob das blttide Heidentum /" 

(Kampf mit dem Drachen 1798.) 
Hier nun ist eine Gelegenheit, das Walten der göttlichen 
Vorsehung zu erkennen^ welche zwar die Heiden ihre eigenen 
Wege gehen Hess (Apostelgeschichte c. 17. 26 f.), das Volk 
Israel aber hütete wie den Augenapfel. (V. Buch Moses 32, 14.) 
Die Leiche des Moses nämlich überliess Jehova nicht seinem 
Volke zur abgöttischen Verehrung (Deuteronomii c. 34, v. 5 
sq.); sondern entrückte dieselbe difrch den Erzengel S. Michael 
(Ep. S. Judae, v. 9), so dass „kein Mensch sein Grab weiss bis 
auf den heutigen Tag." Darin liegt auch die Bedeutung des 
Kampfes, welchen der Engelfürst mit dem Satan um die Leiche 



1) Upsala ist der Genitiv des Wortes Upsalir = Hohe Säle, wie 
der berühmte Tempel selber hiesS;, und demnach buchstäblich = die Stadt 
des Tempels. Vgl. Esaias Tegners „Frithjofs-Sage". Übersetzt durch 
Gottfried Freiherr von Lüttgendorf- Leimburg. 15. Auflage. Halle bei 
Hermann Gesenius. Sr. Majestät Oskar H., König von Schweden, gewid- 
met. Anmerkung zum 24. Gesänge. S. 269 f. 



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— 19 — 

des Moses zu führen hatte (Ep. S. Judae Ap. v. 9); um so mehr, 
als in derselben Gegend ein Tempel dem Götzen Phogor sich 
befand. L. Deuteronomii c. 3, v. 29: „Und wir blieben im Tale, 
gegenüber dem Götzentempel Phogor.^ (Cf. Dr. Hugo Weiss 
„Moses und sein Volk", S. 157, f. Freiburg, Breisgau, bei 
Herder 1885.) 

Bisher haben wir das Heidentum in seinem Entstehen 
und in seinen Verirrungen betrachtet, es erübrigt noch, auch 
die Vorzüge und Lichtseiten desselben zu behandeln. 

Athen und Rom waren durch Geist und Schwert die 
Wegebahner für das Christentum, wie es in höherem Masse 
durch Erhaltung und Verbreitung der göttlichen Offenbarung 
das Judentum war. Vgl. L. Sapientiae c. 18, v. 4. Das klas- 
sische Altertum, besonders jene Zeit, in welcher Hellas und 
Hesperien die grossen Dichter und Denker wie einen duftigen 
Blütenstrauss hervorbrachte, ist ein leuchtendes Glied in der 
Entwickelung der Menschheit. Auch flir uns Christen ist dasselbe 
ein herrliches Licht, besonders durch sein immer mehr gestei- 
gertes Verlangen nach höherer Erleuchtung. Wenn auch das 
Heidentum sehr entartete, so nimmt aber auch sein Verlangen 
nach Erlösung aus diesen Zuständen in gleichem Masse zu. 
Das Gefühl des Bedürfnisses einer göttlichen Befreiung aus 
seinem tiefen Elende durchdringt wie ein wehmütiger Hauch 
mehr oder weniger das ganze Altertum. Interessant ist das 
Bekenntnis des Cicero („Tusculanarum Disputationum'^ 1. III. 
c. 1): „Nunc autem simulatque in lucem editi et suscepti sumus, 
in omni continuo pravitate versamur, ut paene cum lacte 
nutricis errorem suxisse videamur. Quum vero parentibus 
redditi, deinde magistris traditi sumus, tum ita variis imbuimur 
erroribus, ut vanitati veritas, opinioni confirmatae natura ipsa 
cedat." 

Sobald wir das Licht des Lebens erblickt haben und als 
Kinder aufgenommen worden sind, befinden wir uns sogleich 
schon in aller Verdorbenheit, so dass es scheint, wir hätten 
den Irrtum bereits mit der Milch unserer Amme eingesogen. 
Wenn wir aber (aus der Pflege unserer Amme) den Eltern 
übergeben und sodann (zur Erziehung) den Lehrer anvertraut 
worden sind, dann aber werden wir in so verschiedene 
(mannigfache) Irrtümer eingeführt, dass dem leeren Scheine 



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— 20 — 



die Wahrheit und dem eingefleischten Vorurteil die Natur selber 
weichen muss. L. c. 1. I., c. 11 n. 23 sagt er von den Ansichten 
über die Unsterblichkeit der Seelen: „Harum sontentiarum, 
quae vera sit deus aliquis viderit: quae veri simillima, magna 
quaestio est**. — Welche nun von den angeführten Meinungen 
die wahre ist, kann nur Gott entscheiden] welche aber der 
Wahrheit am nächsten kommt, darüber besteht eine grosse 
Streitfrage. — Wahrhaft rührend ist das Flehen des Euripides 
(Fragmentorum Nr. 667. Edito Wagneri II. Vol. p. 475. Breslau 
1844) : 

TleiLiviiov )iev cpujq vp^X«^ dv^piuv 
Toi^ ßouXo)ievoi^ äOXou^ irpoiiiaGeTv 
TTöGev ^ßXacTTOv, Tiq ^\la KaKOüv 
Tiva bei jiiaKdpuüV ^KÖuaaiiievouq 
Eupeiv )iöxöu)V dvdirauXav 
Emitte lucem, quae clarescere faciat animas, 
Quaerentibus pugnae cognoscere originem, 
Quae turbat animam. dolorisque radicem, 
Vimque coelestem, quae hostiis placata 
Pressam redimat animam! 
O, send' ein Licht, zu erhellen den Geist, 
Der den Ursprung sucht zu erfahren des Kampfs, 
Der die Seele bewegt, und die Wurzel des Leides 
Und die himmlische Macht, die durch Opfer versöhnt, 
Die bekümmerte Seele erlöse I^) 
Die Kunstkenner bemerken, dass selbst den vollendetsten 
plastischen Gebilden der Griechen ein Zug stiller Wehmut ein- 
geprägt sei, welcher in der Gruppe des Laokoon, worüber 
später noch mehr gesagt werden soll, den ergreifendsten Aus- 
druck gewinnt. Winkelmann (9. Dezbr. 1717 bis 8. Juni 1768), 
der Begründer der neuen Kunstgeschichte, sagt von dieser 
Statue: ^,Die Augen des leidenden Vaters sind nach der höheren 
Hülfe gewandt. ^^ Sodann sind Griechen und Römer unerreichte 
Vorbilder für Kunst und Literatur. Diese Nationen werden 



^) In den Versen des Euripides (ca. 480 a. Chr. zu Athen) liegt ein 
Anklang an den Hymnus : „ Veni Sancte Spiritus Et emitte coelitus Lucis 
tuae radium etc.", welcher dem Papste Innozenz IIL (a. iiq8 — 12 16) 
zugeschrieben wird. 



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— 21 — 



die Bannerträger der literarischen Vortefflichkeit bleiben, wie 
sie bis zum heutigen Tage noch die ersten Modelle für Archi- 
tektur und Skulptur uns bieten. Die Reden eines Cicero und 
Demosthenes können, was Stil und Aufbau angeht, immer als 
die ersten Muster für die christliche Rhetorik gelten. Salomon 
schmückte den Tempel des Herrn mit heidnischem Golde aus 
Ophir, und Judas Machabäus zierte dessen Mauern mit den 
Trophäen der überwundenen Syrer. Die Kirchenväter (Basi- 
lius u. a.) versichern uns, dass, wie die Kinder Israels von dem 
allmächtigen Gott die Erlaubnis erhielten, die Familienkleinode 
der Ägypter zu entnehmen, so auch den Christen es gestattet 
sei, sich die geistigen Reichtümer des klassischen Altertums 
anzueignen, und damit die Lehren der Kirche zu beleuchten 
und in einem gefälligen Sprachgewande darzustellen, ^fioldene 
Früchte in silbernen Schalen y- Proverbiorum c. 25, v. 11. Und 
wirklich ist heutzutage die Beredsamkeit von Hellas und 
Hesperien (vom alten Rom und Athen) im Besitze der christ- 
lichen Welt, während das Heidentum und der Mohammedanismus 
im geistigen Verfalle sich befinden. Der königliche Sänger 
sagt im 110. Psalme v. 6 sq.: „Der Herr gab seinem Volke das 
Erbe der Heiden** = Kunst, Literatur und Wissenschaft. Die- 
jenigen, welche Müsse haben, die lateinischen und griechischen 
Klassiker zu pflegen, werden auch belohnt durch die Schätze 
natürlicher Weisheit und bezaubert durch die poetischen Bilder, 
von welchen dieselben überfliessen. Wenn wir dieselben in 
unserem reifen Alter lesen, so befähigt uns die gewonnene 
Lebenserfahrung, ihre vielseitige Vortrefflichkeit weit besser 
zu würdigen, als zu jener Zeit, in welcher das Studium der- 
selben unserem noch unentwickelten Geiste als Schulpensum 
auferlegt wurde. Keine Wahrheit nämlich ist für die Christen 
ein Fremdling: Die Religion eignet sich jede Wahrheit an 
und heiligt sie; denn ihr Urheber ist die Quelle der Wahrheit. 
(Cf. Evgl. S. Johannis c. 14, v. 6.) Moses war unterrichtet in 
aller Weisheit der Ägypter (Act. Apostolorum c. 7, v. 22). Er 
war zu Hause in allen Wissenszweigen, welche dieselben 
betrieben : in der Astronomie, in der Naturkunde und Mathema- 
tik sowie auch in der einheimischen Literatur. Gerade um 
dieses alles lernen zu können, hatte die Vorsehung Gottes ihn 
an den Hof des Pharao kommen lassen. So wurde er hin- 



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— 22 — 

reichend vorbereitet, ein Führer,. Gesetzgeber und Geschicht- 
schreiber seines Volkes zu werden. — Daniel tibertraf an Wissen 
alle Magier und Weisen des chaldäischen Reiches um das Zehn- 
fache. (S. Danielis c. 1, v. 20.) Aus diesem Grunde war er 
befähigt, die Stelle eines obersten Statthalters aller 120 Provinzen 
der babylonischen Monarchie zu bekleiden. (Ibidem c. 2, v. 48.) 
Wenn nun Moses und Daniel in der Wissenschaft der Ägypter 
und Chaldäer hervorragten; so lehrt uns das: wir sollen die 
weltliche Gelehrsamkeit nicht verachten, sondern dieselbe viel- 
mehr ehren und pflegen. (Cf. Cardinal Gibbons „Der Gesandte 
Christi", S. 245 sq.) Darum war es auch keine vermessene 
Überhebung, sondern nur ein klares Erkennen des eigenen 
Wertes, wenn Horatius sang: 

„Exegi monumentum aere perennius 
Regalique situ pyramidum altius, 
Quod non imber edax, non Aquilo impotens 
Possit diruere aut innumerabilis 
Annorum series et fuga temporum!'^ 

(L. Carminum III., 30.) 
Aufgerichtet ein Werk^ dauernder als von Ers^ 
Das noch höher empor als Pyramiden ragt, 
Hab' ich mir; und des Nords Toben, und des Regens Zahn 
Bringen es nicht zu Fall, noch der Jahrhunderte 
Unabsehbare Zahl und der Zeiten Flucht! 
In ähnlicher Weise verkündet der Dichter Ovidius Naso: 
(Metamorphoseon 1. 15, v. 869—877.) 
„lamque opus exegi, quod nee lovis ira nee ignis 
Nee poterit ferrum nee edax abolere vetustas. 
Quum volet, illa dies, quae nil insi corporis hujus 
lus habet, incerti spatium mihi finiat aevi: 
Parte tarnen meliori mei super alta perennis 
Astra ferar, nomenque erit indilebile nostrum. 
Quaque patet domitis Romana potentia terris, 
Ore legar populi, perque omnia saecula fama, 
Si quid habent veri vatum praesagia, vivam!** 
Und nun hab* ich ein Werk vollbracht, das Feuer und 

Eisen 
Nimmer zerstört, noch Jupiters Zorn, noch zehrendes 

Alter: 



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— 23 — 

Mag dann kommen der Tag, der nur an vergänglichem 

Leibe 
Recht ausübt, und den Raum unsicheren Lebens be- 

schliessen: 
Trotz wird bieten der Zeit und über die hohen Gestirne 
Schweben mein besseres Ich, und nie mein Name 

getilgt sein. 
Rings, soweit Roms Macht sich erstreckt in bezwungenen 

Ländern, 
Wird mich lesen das Volk, und wofern nicht trügen 

der Dichter 
Ahnungen, werd' ich im Ruf fortleben in ferneste 

Zukunft! 
In noch höherer Weise sagt der Priester und gesetzes- 
kundige Nehemias (1. II. Esdrae c. 13, v. 14 und 31): 

MvrjcrOriTi |liou ö Geö^ iv xauTri Kai juri ^EaXeiqpGrjxo eXeö^ |liou 8 
€7roiTi(Ta ^v oTku) Kupiou tou eeoö* Mvr|<T9TiTi |liou 0€Ö^ f||Liuiv ei^ dya- 
OiüiJuvTiv (Septuaginta). Die Vulgata übersetzt nach dem 
masoretischen Texte des Hebräischen: ^Memento mei, Deus 
meus pro hoc, et ne deleas miserationes meas, quas feci in 
domo Dei mei et in ceremoniis ejus!" „Memento mei Deus in 
bonum!'* (Amen). Gedenke meiner, mein Gott, deshalb, und 
lösclie nicht aus meine Erbarmungen, welche ich geübt habe 
am Hause meines Gottes und an seinem Dienste (Ceremonien)!" 
„Gedenke meiner, mein Gott, zum Guten!*' (Amen). 

Aus allem nun geht hervor, dass es den Theologen wohl 
ansteht, die Studien des klassischen Altertums zu pflegen, und 
dass sie auch eine Pflicht der schuldigen Dankbarkeit erfüllen, 
wenn sie zeitlebens derer am Altare eingedenk bleiben, welche 
ihnen die Kenntnis der antiken Sprachen und Literaturschätze 
vermittelt haben. 

„Körper und Stimme verleiht die Schrift dem stummen Gedanken: 
Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt." 

(Friedrich von Schillers „Spaziergang" 1795.) 



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Die Beschäftigung der Theologie mit der klassischen 
Literatur der Vorzeit ist uralt. 



. . . „Quanta est ubertas condita in illis 
„Areis divitibus, terrae bona semina doctis 
„Mandare!" 

Dantis Alligherii Parad. cant. XXIII, v. 109 sq. 
O, welche Fülle in jenen überreichen 
Kornspeichern aufbewahrt wird, die hienieden 
Im Sä'n so gute Feldbesteller waren! 

Weil das Evangelium Gottes gleich im Anfange schon die 
Aufgabe hatte, eine Weltkirche zu gründen (Matth. 28, 18 u. 19); 
so sahen sich die ersten Verkündiger desselben einer Gesell- 
schaft gegenüber, welche ihre ganze Bildung aus der römischen 
und griechischen Literatur vorzugsweise gewonnen hatte. Da- 
her trat die Notwendigkeit an sie heran, aus der Zeit^ für die 
Zeit und an die Zeit sich zu wenden. Der Völker-Apostel 
S. Paulus nimmt deswegen im Briefe an die Korinther (I. Kor. 9, 
24 sq.), von den auf dem Isthmus gefeierten Fest- und Kampf es- 
Spielen die Veranlassung, seine Christen zum Wettlaufe auf 
der Bahn der Tugend zu ermahnen. In seinem Schreiben an 
die Ephesier (Ad Eph. 6, 10 sq.) nimmt er von der antiken 
Waffenrüstung ein Beispiel, um das Bild der christlichen Ritter- 
schaft zu zeichnen. 

In dem I. Briefe an die Korinther (14, 8) spricht derselbe 
von den Kampf es-Signalen : „Etenim si incertam vocem proferat 
tuba, quis bellum parabit?" 

„Denn wenn die Kriegs-Trompete einen unsicheren (keinen 
hellen, deutlichen und unterschiedenen) Klang gibt, wer soll 
sich dann zum Streite rüsten?'* 

Um nämlich die Pflicht einzuschärfen, herzhaft und über- 



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-- ^5 - 

zeugungsvoll das Wort Gottes zu predigen, nimmt er ein Bei- 
spiel von den militärischen Kriegs-Signalen. 

Auch die Kampfes-Gesetse^ in Glaube und Treue für Christus 
zu streiten, erwähnt S. Paulus in seinem Schreiben an Timo- 
theus (II. Tim. 2, 5): „Nemo coronabitur nisi legitime certaverit !" ^) 
„Niemand wird gekrönt, welcher nicht gesetzmässig ge- 
stritten hat!** 

Die Kampfes- Ausdauer empfiehlt derselbe (II. ad Tim. 2, 2) 
„Labora sicut bonus miles Christi!*' „Arbeite (ertrage die 
Mühen) wie ein guter Soldat Jesu Christi!** 

Und die völlige Hingabe an den Kriegsdienst macht er 
seinem Schüler zur Pflicht (II. Tim. 2, 4) mit den Worten: 
„Nemo Deo militans implicat se negotiis saecularibus!** „Nie- 
mand, der für Gott Kriegsdienste tut, darf sich in weltliche 
Geschäfte einmischen — ut ei placeat, cui se probavit — , da- 
mit er dem genehm sei, welchem er sich verpflichtet hat!** 

Die Folgezeit legte den Aposteln und ihren Nachfolgern 
ein noch tieferes Eingehen auf die Zeitbestrebungen um so 
näher, als das junge Christentum in der neuen Platonischen 
Philosophie einer gelehrten Bestreitung sich gegenüber fand 2). 



^) ,jLegittme certantibus'^ : Wahlspruch des Kaisers Ferdinand II. 
(1619— 1637). 

2) Damit nämlich alle menschlichen Kräfte an dem siegreich auf- 
strebenden Christentum sich versuchten, um im Kampfe mit demselben 
ihre Ohnmacht zu offenbaren, sollte auch die Wissenschaft noch mit ihm 
in die Schranke treten. x\ls solche, welche das Christentum mit den Waffen 
der Gelehrsamkeit bestritten, haben sich besonders hervorgetan: 

1. Celsus (um 150 p. Chr.) in seiner Schrift: dXrief|^ Xöyo^. 

2. Lucianus (ca. 200) in dem Buche: de morte peregrini, in welchem 
die Christen als törichte Menschen verspottet werden; er bezeugt aber ihre 
Bruderliebe und ihren Todesmut. 

3. Poiphyrius (233 — 305), welcher besonders gegen die Weissagungen 
des alten Testamentes seine Angriffe richtete. 

4. Hierocles (ca. 300), von dem Kaiser Diocletian zum Statthalter 
von Bithynien und Präfekten von Alexandrien bestellt. In seiner Ab- 
handlung: XÖToi <piXaXrie€l(; Trpö<; XpKJTiavoOq („Wahrheitsliebende Reden 
gegen die Christen") nimmt derselbe alle früheren Beschuldigungen gegen 
die Christen wieder auf, und stellt dem Leben Jesu den Wandel des 
abenteuerlichen Apollonius von Tyana entgegen. 

Diese Streitschriften sind uns nur bruchstücksweise in den Wider- 
legungen der Apologeten enthalten, welche die darin aufgestellten Behaup- 



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— 26 — 

Daher nahmen die christlichen Apologeten lustinus, TertuUian, 
Origenes, Clemens von Alexandrien und Eusebius von Cäsarea 
ihre Waffenrtistung mit Vorliebe aus den alten Klassikern, um 
nach dem Ausdrucke des Kirchenlehrers S. Hieronymus (340 
bis 420) „den Goliath mit seinem eigenen Schwerte zu er- 
schlagen". Ein Brief dieses gelehrten Streiters für das Christen 
tum an den römischen Redner Magnus gibt eine gute Über- 
sicht über die Bemühungen der lehrenden Kirche in bezug auf 
das Studium und die Verwendung der heidnischen Literatur. 
Wir wollen denselben ganz mitteilen. 

Hieronymus Magno, Oratori Romano, S. D. P. 

Sebesium nostrum tuis monitis profecisse, non tam epistola 
tua, quam ipsius poenitentia didicimus. Et mirum in modum 
plus correptus placuit, quam errans laeserat. Certaverunt inter 
se indulgentia patris et filii pietas: dum alter praetcritorum non 
meminit, alter in futurum quoque officia pollicetur. Unde etiam 
mutuo nobis tibique gaudendum est: quia nos filium recepimus, 
tu discipulum comprobasti. 

Quod autem quaeris in calce epistolae tuae, cur in opus- 
culis nostris saecularium interdum ponamus exempla, et can- 
dorem Ecclesiae ethnicorum sordibus polluamus, responsum 
breviter habeto: 

Nunquam hoc quaereres^ nisi te totum Tullius (Marcus 
Tullius Cicero) possideret^ si scripturas sanctas legeres, st inter- 
pretes earum^ omisso supercilio, evolveres. 

Quis enim nesciat, et in Moyse et in prophetarum volu- 
minibus quaedam assumpta esse de gentilium libris, et Salo- 
monem philosophis Tyri et nonnuUa proposuisse et aliqua 
respondisse? Unde in exordio Proverbiorum commonet, ut 
intelligamus sermones prudentiae versutiasque verborum, pära- 
bolas et obscurum sermonem, dicta sapientum et aenigmata, 
quae proprie dialecticorum et philosophorum sunt. Sed etiam 
Paulus Apostolus Epimenidis poetae usus est versiculo scribens 
ad Titum (1, 12): Kpfixeq dei ipeucrrai KaKa Gripia Tucjx^peq dpTai, 



tungen in ihrer ganzen Gehaltlosigkeit aufgedeckt haben. Zur Widerlegung 
bedienten sich dieselben mit Vorliebe der heidnischen Klassiker, um die 
Gegner mit ihren eignen Waffen zu schlagen. ^Vgl. Brief des hl. Hiero- 
nymus an den Redner Magnus.) 



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— 27 — 

id est: „Cretenses semper mendaces, malae bestiae, ventres 
pigri." Cujus versus heroici hemistichium postea Callimachus 
usurparvit. Nee mirum est, si apud Latinos metrum non servet 
ad verbum expressa translatio, quum etuim Homerus eadem 
lingua versus in prosam vix cohaereat. 

In alia quoque epistola (cf. II. Tim. 2, 16) Menandri ponit 
Senarium: (pGeipoudi yoip fOn XPn^^Ta öjLiiXiai KttKai. Id est: „Corrum- 
punt enim bonos mores colloquia prava.** Et apud Athenienses 
in Martis curia diputans Aratum testem vocat: ^Ipsius enim 
etiam genus sumus**, quod Graece dicitur: Tou yctp Km t€vo^ 
ea^ev. (Actus Apost. 17, 28), et est clausula versus heroici. Ac 
ne parum hoc esset, ductor Christiani exercitus et orator in- 
victus pro Christo caussam agens, etiam inscriptionem fortuitam 
arte torquet in argumentum fidei: 'AtviIkttiij Oeiji (Ignoto Deo!) 
Actus Apost. 17, 23. Didicerat enim a vero David, extorquere 
de manibus hostium gladium et Goliae superbissimi caput proprio 
mucrone truncare. Legerat enim in Deuteronomio domini voce 
praeceptum esse, mulieris captivae radendum caput et sie eam 
habendam esse in conjugio (legitimo). Quid igitur mirum est, 
si etiam ego sapientiam saecularem propter eloquii venustatem 
et membrorum pulchritudinem de ancilla atque captiva Israe- 
litidem facere cupio. Et si quid in ea mortuuni est Idololatriae, 
voluptatis, erroriSy libidinum^ vel praecido vcl rado. 

Esechi'el propheta in typo fornicantis Hierusalem tondet 
cesariem suam: ut quidquid in ea absque sensu et vita sit, 
auferatur. 

Cyprianus vir et eloquentia poUens et martyrio, Firmini- 
ano narrante mordetur, cur adversus Demetrianum scribens testi- 
moniis usus sit prophetarum et apostolorum, quae ille ficta et 
commentitia esse dicebat, et non potius philosophorum et poe- 
tarum, quorum ille auctoritati, ut ethnicus, contraire non pote- 
rat. Scipserunt, contra nos Celsus atque Porphyrius. Priori 
Origenes^ alteri Methodius^ Eusebius, Apollinarius fortissime 
responderunt. Quorum Origines octo scripsit libros, Methodius 
usque ad decem millia procedit versuum. Eusebius et Apolli- 
narius viginti quinque et triginta volumina condiderunt. — Lege 
eos et invenies nos comparatione eorum iraperitissimos esse: 
atque post tanti temporis otium vix quasi per somnium, quod 
pueri didicimus, recordari. 



.\KV 




— i8 - 

Julianus Augustus in expeditione Parthica (363) Septem 
libros adversum Christum evomuit potius, quam scripsit: et 
secundum fabuias poetarum suo se ense laceravit. Si contra 
hunc scribere tentavero, puto interdices mihi, ne in canem 
rabidum Philosophorum et Stoicorum doctrinis, id est Herculis 
clava, repercutiam. Quamquam ^Nasarenum nostrum^ et velut 
ipse solebat dicere ^Galilaeum'^ statim in proelio senserit atque 
mercedem linguae pudidissimae contumeliis perfossus acceperit. 

Josephus (Flavius) antiquitatem approbans populi Judaici 
duos libros scripsit contra Appionem. Grammaticum Alexan- 
drinum, et tanta saecularium profert testimonia, ut mihi miraculum 
subeat, quomodo vir Hebraeus et ab infantia sacris litteris eru- 
ditus, cunctam Graecorum bibliothecam evolverit. 

Quid loquar de Philone quem vel alterum vel secundum 
Platonem Judaeum critici pronuntiant. Curram per singulos. 
Quadratus Apostolorum discipulus et Atheniensis pontifex eccle- 
siae, nonne Hadriano principi Eleusinea sacra invisenti librum 
pro nostra religione (defendenda) tradidit? Et tantae admirati- 
oni Omnibus fuit ut persecutionem gravissimam illius excellens 
sedaret ingenium. 

Aristides philosophus^ vir eloquentissimus, eidem principi 
librum apologeticum pro christianis obtulit contextum philoso- 
phorum sententiis: quem imitatus postea Jusiinus ipse quoque 
philosophus, Antonino Pio et filiis ejus Senatuique librum contra 
gentes tradidit, defendens ignominiam crucis et resurrectionem 
Christi tota praedicans libertate. 

Quid loquar de Af elttone Sardensi episcopo? 

Quid de Apollinario^ Hierapolitanae ecclesiae sacerdote, 
Dionysioque^ Corinthiorum episcopo, et Tatiano et Bardesane 
et Irenaeo Photini martyris successore ? Qui Origenis haereseon 
singularum venena, ex quibus Philosophorum fontibus emana- 
rint, multis voluminibus explicaverunt. 

Pantaenus sectae Stoicae philosophus ob praecipuae erudi- 
tionis gloriam a Demetrio, Alexandriae Episcopo, missus est in 
Indiam, ut Christum apud Brachmanos et illius gentis philoso- 
phos praedicaret. 

Clemens Alexandrinae ecclesiae hresbytery vir meo judicio 
omnium eruditissimus, octo scripsit Stromatum libros et totidem 
u7TOTU7TU)<T€iuv, id est dispositionum, et alium contra gentes, Paeda- 



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— 29 — 

gogi quoque tria Volumina. Quid in illis indoctum? Imo quid 
non e media philosophia est? Hunc imitatus Origines decem 
scipsit Stromateas, Christianorum et Philosophorum inter se sen • 
tentias comparans, et omnia religionis nostrae dogmata de Pia- 
tone et Aristotele, de Numenio Cornutoque confirmans. 

Scripsit etiam Miltiades contra gentes Volumen egregium. 
Hippolytus quoque et Apollonius, urbis Romanae senatores, pro- 
pria opuscula condiderunt. 

Exstant etiam Julii Africani libri, qui temporum scripsit 
historias: et Theodoriy qui postea Gregorius appellatus est, viri 
Apostolicorum signorum atque virtutum, et i)/o«ys// Alexandrini 
Episcopi, AnatolUy quoque, Laodicaenae ecclesiae sacerdotis, 
quin etiam presbyterorum Pampkth\ Pierii, Luciani^ Malchionis, 
Eusebii, Caesarensis Episcopi et Eustathii Antiocheni et Athanasii 
Alexandrini: Eusebii quoque Emiseni, et Triphylii Cyprici et 
Asterii Scythopolitae, et Serapionis confessoris: Titi quoque 
Bostrensis, Episcopi Cappadocumque Basilii^ Gregorii, Amphi- 
lochii. 

Qui omnes in tantum philosophorum doctrinis atque sen- 
tentiis suos refarciunt libros, ut nescias, quid potissimum admi- 
rari debeas in illis eruditionem saeculi, an scientiam scriptura- 
rum. Veniam ad Latinos. 

Quid Tertulliano eruditius? quid acutius? Liber ejus Apolo- 
geticus et contra gentes libri cunctam saeculi obtinent dis* 
ciplinam. 

Minutius Felix, causidicus fori Romani, in libro, cui titulus 
est Octavius et in altero contra Mathematicos, si tamen in- 
scriptio non mentitur* auctorem, quid gentilium scripturarum 
dimisit inf actum? 

Septem libros ad versus gentes Arnobius edidit, totidemque 
discipulus ejus Lactantius, qui de Ira quoque et Opificio Dei 
duo Volumina condidit, quos si legere volueris, Dialogorum 
Ciceronis in eis ^7riT0|Lir|v reperies. 

Victor ino martyri in libris suis licet desit eruditio, tamen 
non deest eruditionis voluntas. 

Cyprianus, quod idola dii non sint, qua brevitate, qua 
historiarum omnium scientia, quoque verborum et sensuum 
splendore perstrinxit? 

Hilarius meorum confessor temporum et episcopus duodecim 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 4 



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— 30 - 

Quintiliani libros et stilo imitatus est et numero, brevique 
libello, quem scripsit contra Dioscurum medicum, quid in litteris 
possit, ostendit. 

Juvencus presbyter sub Constantino historiam Domini Sal- 
vatoris versibus explicavit: nee pertimuit, evangelicam majesta- 
tem sub metri leges mittere. 

De ceteris vel mortuis vel viventibus taceo, quorum in 
scriptis suis et vires manifestae sunt et voluntas. Nee statim 
prava opinione falleris, contra gentes hoc esse licitum, in aliis 
disputationibus discimulandum : quia omnes paene omnium libri, 
exceptis bis, qui cum Epicuro litteras non didicerunt, eruditionis 
doctrinaeque plenissimi sunt. Quamquam ego illud magis reor, 
quod dictanti venit in mentem, non te ignorare quod scmper a 
doctis viris usurpatum est: sed per te mihi proponi ab alio 
quaestionem, qui forte propter amorera historiarum Salustii, 
Calpurnius cognomento Sanarius sit. Cui quaeso ut suadeas, ne 
vescentium dentibus edentulus invideat et oculos caprearum 
talpa contemnat. Dives, ut cernis, ad disputandummateria; sed 
jam epistolarum angustia finienda est. Vale!^) 

Hieronymus entbietet dem römischen Redner Magnus 
seinen Gruss. 
Dass unser Sebesius infolge deiner Ermahnungen sich 
gebessert hat, habe ich nicht so sehr aus deinem Briefe, als 
durch seine Reue erfahren. Und wunderbar: nach seiner Zu- 
rechtweisung hat er uns mehr Freude bereitet, als er in seinem 
Irrtume uns Verdriesslichkeiten gemacht hatte. Es entstand 
nämlich ein Wettstreit zwischen der Nachgiebigkeit des Vaters 
und der Anhänglichkeit des Sohnes: indem der Vater das 
Vorgekommene mit dem Mantel der Liebe zudecken wollte, 
und der Sohn seine Dienstleistungen für die Zukunft in Aus- 
sicht stellte. Daher haben wir Grund, uns gegenseitig zu freuen; 
ich freue mich, dass ich meinen (geistlichen) Sohn wieder- 
gewonnen habe, und du wirst dich freuen, weil dein Schüler 
den Erwartungen entsprochen hat. 

^) Epistolae Beati Hieronymi Stridonis, Ecclesiae Doctoris, in libros 
tres distributae. Praefatus est B. Petrus Canisius, S. J., Dilingae anno Do- 
mini M. D. LXV., libri IL, epistola L, p. 55 — 59. Zum leichteren Ver- 
ständnis ist die alte Schreibweise der heutigen angepasst. Scriptor. 



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- 31 - 

Am Schlüsse deines Briefes aber stellst du die Frage, 
aus welchem Grunde ich wohl bei meinen schriftlichen Arbeiten 
mitunter auch Beispiele aus den heidnischen Klassikern anführe 
und es so zulasse, dass der Glanz der christlichen Kirche durch 
die niedrigen Anschauungen der Heiden verdunkelt werde. 
Hierauf will ich dir in Ktirze eine Antwort geben. Set ver- 
sichert: niemals würdest du eine solche Frage gestellt haben, 
wenn du nicht gans und gar von Cicero eingenommen wärest; 
wenn du vielmehr statt dessen die hl. Schriften fleissig gelesen 
und ihre Ausleger ohne Selbstüberhebung gründlich studiert 
hättest. (Trifft auch heute noch zu!) 

Denn wer sollte nicht wissen, dass bei Moses und den 
Büchern der Propheten manches aus den Schriften der Heiden 
entlehnt ist, und dass Salomon den Philosophen von Tyrus 
sowohl einige Fragen vorgelegt, als auch selbst deren Fragen 
beantwortet hat! 

Daher gibt er zu Anfang der „Sprüchwörter" uns die Er- 
mahnung, wir sollten uns Mühe geben, dass wir die Reden 
der Weisheit verstehen, den verborgenen Sinn der Aussprüche 
erforschen, die Redewendungen und dunklen Ausdrücke er- 
gründen, sowie die Sprüchworte der Weisen und ihre Rätsel 
begreifen lernen; obgleich dies eigentlich Sache der Rede- 
künstler und der Philosophen ist. 

Sogar der Apostel Paulus bedient sich im Briefe an Titus 
(c. 1, v. 12) eines Verses von dem Dichter Epimenides (6. Jahr- 
hundert V. Chr.) : „Die Kreter sind allezeit Lügner, böse Tiere 
und auch faule Bäuche.*' Von dem Halb-Verse dieses Spruches 
machte später Callimachus (Dichter aus Cyrene a. 250 v. Chr.) 
seine Anwendung. Man darf sich aber nicht wundern, wenn 
bei einer wörtlichen Übertragung des griechischen Textes in 
die lateinische Sprache das Versmass verloren geht, wie ja 
auch die homerischen Gesänge bei ihrer Übersetzung ins 
Lateinische den Rhythmus einbüssen. Auch in einem anderen 
seiner Briefe (I. ad Corinthios 15, 33; vgl. II. Timothei 2, 16) 
zitiert er einen Vers des Menander (Dichter der Thais, 342 — 291 
zu Athen): „Gute Sitten werden durch schlechte Reden (schlechten 
Umgang) verdorben!** Und als er zu Athen auf dem Areopage 
einen Vortrag hielt, rief er den Aratus als Zeugen an (Aratus 
aus Soli in Cilicien, geboren um 270 v. Chr., Dichter der Oaivö- 



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-- 32 - 

jLieva Kai Aio(TTiM€Ta „Stern-Erscheinungen'^ und „Wetter-Zeichen'*): 
„Denn wir sind ja seines Geschlechtes!" (Nach Gottes Eben- 
bild und Gleichnis.) Cf. Apostel-Geschichte c. 17, 28. Diese 
Worte bilden den Schlussatz eines heroischen Verses. Und 
gleichsam als genüge dies noch nicht, wendet jener berühmte 
Führer „der streitenden Kirche" und niemals besiegte Redner 
in seiner Tätigkeit für die Sache Christi sogar eine zufällig 
gelesene Denkmal-Inschrift kunstgerecht zu einem Glaubens- 
beweise an: „Dem unbekannten Gott!'' (Ap.-G. c. 17, 23). Denn 
er hatte es von dem echten David („der Geliebte") gelernt, 
wie man das Schwert aus den Händen der Feinde entwinden, 
und den Kopf des hochmütigen Goliath mit dessen eigener 
Degenschneide abhauen könne. Auch hatte er im 5. Buche 
Moses (Deuteronomium) gelesen, dass nach der Vorschrift des 
Herrn das Haupt eines gefangenen Weibes zu scheren sei, 
und sie hierauf rechtmässig zur Ehe genommen werden dürfe. 
Wer kann sich nun darüber wundern, wenn ich die Weisheit 
der heidnischen Klassiker wegen ihrer Feinheit im Ausdrucke 
und wegen der Schönheit in der Darstellung gleichsam aus 
einer dienenden und gefangenen Magd zu einer freien Israelitin 
zu machen suche?! 

Und sollte sich darin etwas Bedenkliches vorfinden in besug 
auf den Götsendienst^ die Sinnlichkeit, irrtümliche Grundsätze, 
oder was Ausschweifungen angeht; so beschneide ich einfach 
den Ausdruck^ oder unterdrücke ihn gans. 

Der Prophet Esechiel (blühte um 590), schor sein Haar, 
um das treulose Jerusalem damit zu versinnbilden, und anzu- 
deuten, dass alles, was Sinn und Leben für Gott verloren habe, 
gänzlich vernichtet werden müsse. 

Cyprian (Bischof von Carthago ca. 200—258), berühmt 
wegen seiner grossen Beredsamkeit und seines glorreichen 
Martyr-Todes (f 14. September 258), wird nach dem Zeugnisse 
des Firmianus Lactantius deswegen getadelt, weil er in der 
Bekämpfung des Demetrianus (eines heidnischen Philosophen) 
sich nur auf das Zeugnis der Propheten und Apostel berufen 
habe, welches jener für erdichtet und unecht betrachtete; und 
nicht vielmehr auf die heidnischen Philosophen und Dichter, 
deren Beweiskraft er als Heide nicht habe anfechten können. 
Es schrieben gegen uns Christen die heidnischen (Neu-)Plato- 



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- 33 - 

niker Celsus (178) und Porphyrius (233—305). Dem ersten 
antwortete Origenes (185—254), dem zweiten Methodius (f 311), 
Eusehius (265—340), und Apollinarius junior (f 390) in sehr 
kräftiger Weise. Origines schrieb acht Bücher gegen Celsus, 
Methodius gegen 10000 Verse. Eusebius verfasste 25, und 
Apolhnarius 30 Bücher. Lese dieselben, und du wirst finden, 
dass ich im Vergleiche mit jenen sehr unerfahren bin, und 
dass ich mich nach so langer Ruhe nur traumhaft dessen noch 
erinnere, was ich früher als Knabe gelernt habe. 

Der Kaiser Julian (der Abtrünnige) schrieb während 
seines Kriegszuges gegen die Perser (363) sieben Bücher gegen 
Christus, oder spie sie vielmehr aus; er hat aber, wie die 
Fabeln der Dichter lauten, sich mit seinem eigenen Schwerte 
verwundet. Wenn ich nun versuchen würde, gegen ihn schrift- 
lich aufzutreten, so wirst du mir vielleicht verbieten wollen, 
wider diesen rasenden Hund mit den Lehrsätzen der Philosophen 
und Stoiker, d. h. mit der Keule des Hercules, loszuschlagen! 

Freilich hat jener die Macht „unseres Nasareners'^ oder, 
wie er sich selbst auszudrücken pflegte, „des Galiläersf' sofort 
empfinden müssen, und die Strafe für seine blasphemische 
Zunge sehr bald empfangen, als er im Kampfe schmählich 
durchschossen wurde und mit dem Ausrufe zusammenbrach: 
„Galiläer, du hast mich überwunden^) f'^ Josephus Flavius 
(37—101) hat zum Beweise für das hohe Altertum seines Volkes 
zwei Bücher gegen den Apion, einen alexandrinischen Gram- 
matiker, geschrieben und dabei so viele Zeugnisse aus den 
heidnischen Schriften angeführt, dass ich mich in der Tat 
wundern muss, wie ein hebräischer Mann, welcher doch von 
Jugend auf in den hl. Büchern unterrichtet war, die ganze 
Bibliothek der griechischen Schriftsteller durchstudieren konnte. 

Was soll ich nun sagen von Philo (20 vor Christus bis 
54 nach Christus zu Alexandrien), welchen die Kritiker einen 
zweiten, oder den jüdischen, Plato nennen? 

Nunmehr will ich einzelne durchgehen. 

Hat nicht Quadratus (126 n. Chr.), ein Apostel-Schüler 
und Bischof der Kirche zu Athen, dem Kaiser Hadrian (117 



*) „Galiläer, du hast mich überwunden, oder: du hast gesiegt!", 
ist historisch nicht ganz sicher. 



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- 34 - 

bis 138), als derselbe die Eleusinischen Feste dort besuchte, 
eine (die erste) Schutzschrift für unsere hl. Religion über- 
reicht ? Und so grosse Bewunderung erregte er bei allen, dass 
jener furchtbaren Christen- Verfolgung durch sein hervorragendes 
Genie bald hierauf Einhalt geboten wurde. 

Der Philosoph Aristides (126 zu Athen), ein sehr beredter 
Mann, legte demselben Fürsten eine Schutzschrift zugunsten 
der Christen vor, welche ganz aus Gedanken der heidnischen 
Philosophen zusammengestellt war. 

Ihm folgte später Justinus nach (ca. 110 — 165), auch ein 
Philosoph, welcher (150) dem Kaiser Antoninus Pius, seinen 
Söhnen und dem Senate eine Schrift gegen die Heiden über- 
gab, in welcher er die Schmach des Kreuzes verteidigte und 
die Auferstehung Christi mit aller Freiheit verkündigte. 

Was soll ich nun sagen von Melito (170), Bischof von 
Sardes? Was von Apollinarius (161—180 ca.), Priester der 
Kirche zu Hierapolis in Klein-Phrygien ; was von Dionysius^ 
(wie vorhin), Bischof von Korinth, von Tacian (152), von 
Bardesanes (2. Jahrhundert), von Irenaeus (130—202, f 3.1s 
Bischof von Lyon den Martyr-Tod), dem Nachfolger des Pho- 
tinus, welcher ebenfalls Blutzeuge war (f 177)? 

Diese alle haben in zahlreichen Schriften nachzuweisen 
gesucht, aus welchen philosophischen Anschauungen das Gift 
der einzelnen Irrtümer des Origenes hervorgegangen ist. 

Panthaenus (f ca. 212), ein Philosoph der stoischen Schule, 
erhielt wegen des Ruhmes seiner ausgezeichneten Wissenschaft 
von seinem Bischöfe Demetrius zu Alexandrien eine Sendung 
nach Indien, um bei den Brahmanen und Philosophen dieses 
Volkes Christum zu verkündigen. 

Clemens, Priester der Alexandrinischen Kirche (f ca. 217), 
welcher nach meinem Urteile alle vorgenannten an Bildung 
und Kenntnissen übertraf, schrieb acht Bücher Stromata = 
„Teppiche", wegen ihres mannigfachen Inhaltes so genannt, 
und ebensoviele, welche er Dispositionen („Ermahnungen") 
hiess; ein anderes „gegen die Heiden", ebenso den „Erzieher** 
in drei Bänden. Jede Zeile in denselben verrät die grösste 
Gelehrsamkeit und ist gleichsam aus dem Herzen der Philo- 
sophie geschrieben. 

Diesem ahmte Origenes nach und schrieb 10 Bücher 



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- 35 - 

(TTpiDjüiaTeTq = „Vermischten Inhaltes". Er war der glänzendste 
Vertreter der Theologie in seiner Zeit und brachte die christ- 
liche Lehre mit den Ansichten der Philosophen in Vergleich 
und hat alle Dogmen unserer Religion aus Plato, Aristoteles, 
Numenius und Cornutus zu begründen versucht. 

Es schrieb auch Mütiades (unter Marc Aurel und Lucius 
Verus) ein vorzügliches Buch gegen die Heiden; auch Hippo- 
lytus (t 235) und Apollonius, Senatoren der Stadt Rom, haben 
besondere Werke verfasst. 

Vorhanden sind auch noch die Bücher von Julius Afri- 
canus (t ca. 237) in 5 Bänden über die „Zeit Geschichte", in 
welcher er von Erschaffung der Welt oder 5499 Jahren vor 
Christus bis zu 221 nach Christus ging, und die biblische 
Geschichte mit der Geschichts-Überlieferung der heidnischen 
Völker in Zusammenhang zu setzen und in Einklang zu bringen 
suchte. Eusebius machte das Werk zur Grundlage seiner Chronik. 

Ebenso besitzen wir noch die Werke von Theodorus^ 
welcher später Gregorius genannt wurde (f 363), eines Mannes 
von apostolischen Wundertaten und Tugenden; auch von 
DionysiuSy Bischof von Alexandrien (f 265); von Anatolius^ 
Bischof von Laodicaea (270), einem ausgezeichneten Kenner 
der mathematischen Wissenschaften. 

Ferner sind die Priester Pamphilus (f 309 als Märtyrer), 
Pierius, Lucianus, Malchion; Eusebius, Bischof von Caesarea 
(265 — 340), Vater der Kirchengeschichte und christlicher Hero- 
dot ; Eustathius von Antiochien (f 360 im Exil) ; Athanasius, 
Bischof von Alexandrien (296—2. Mai 373), „die Säule der 
Kirche in sturmvollen Tagen", war auch 335 su Trier in der 
Verbannung; ein Banner-Träger der Katholiken des ganzen 
Morgenlandes, in hervorragender Weise zu nennen. Desgleichen : 

Eusebius von Emesa, Triphylius von Cypern, Asterius von 
Scythopolis und Serapion, der Bekenner; Titus, Bischof von 
Bostra (f 374), und die drei grossen Kappadocier : Basilius 
(331— I.Januar 379); Gregorius von Nasians (330—390); Gre- 
gorius von Nyssa (f ca. 394), „das hehre Dreigestirn am Himmel 
der Kirche"; „in diese Dreiheit laufen alle Strahlen des Herr- 
lichen zusammen, was jene Zeit in der Christenheit erzeugte**. 
Ebenso: Amphilochius (f ca. 394). Basilius gilt als Mann der 
Tat; Gregor v. Hamann als Meister des Wortes; Gregor v. Nyssa 



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- 36 - 

als tiefer Denker. Diese vorgenannten haben ihre Bücher alle 
so sehr mit den Lehren und Grundsätzen der Philosophen an- 
gefüllt, dass man nicht leicht unterscheiden kann, was bei 
ihnen am meisten zu bewundern ist: ihre grossen Kenntnisse 
in der klassischen Literatur oder ihr umfassendes Wissen in 
den Büchern der hl. Schrift. 

Nun komme ich zu den lateinischen christl. Schriftstellern. 
Wer ist gelehrter als Tertullian? (160—240). Seine 
Apologie und die Bücher gegen die Heiden, repräsentieren die 
gesamte Wissenschaft jener Zeit. 

Minutius Felix, Sachwalter an dem Forum Romanum, hat 
in seinem Buche, welches den Namen „Octavius" führt (180 
bis 192) und nach dem Dialoge Ciceros „De natura deorum" be- 
arbeitet ist, sowie in einem anderen „Gegen die Mathematiker", 
wenn nämlich die Inschrift den Autor nicht verleugnet, die 
ganze Literatur der heidnischen Klassiker benützt, und hat 
damit zwei der vorzüglichsten Werke der christlichen Apolo- 
getik geschaffen. 

Arnohius schrieb sieben Bücher „Gegen die Heiden*' (f 327); 
ebensoviele sein Schüler Lactantius (f 340 zu Trier); auch über 
den „Zorn" und das „Werk Gottes" schrieb er zwei Bücher. 
Wenn du dieselben lesen willst, so kannst du in ihnen einen 
Auszug aus Ciceros Dialogen finden. Er wird auch „der christ- 
liche Cicero" genannt. 

Wenn nun aber in den Schriften des Martyrs Victorinus 
(t 303 als Bischof von Pettau in Steiermark) eine umfassendere 
Gelehrsamkeit vermisst wird, so zeigt er doch den guten 
Willen dazu. Er ist der älteste Exeget der lateinischen Kirche 
und besitzt eine grosse Selbständigkeit, sowie ein gesundes 
Urteil. 

Cyprian (f 14. September 258), Martyr-Bischof von Car- 
thago, hat in seiner Schrift : „De idolorum vanitate", Über die 
Torheit der Götzenbilder, in gedrängter Kürze, mit ausgezeich- 
neter Geschichtskenntnis, in glänzender Darstellung und geist- 
reicher Ausführung den Beweis erbracht, dass die Götzenbilder 
keine Götter sein können. 

Hilarius (ca. 315 — 366) „ein gedankentiefer und sprach- 
gewaltiger Theologe", ein „Athanasius des Abend-Landes", ein 
Bekenn er (confessor) in meiner Zeit und Bischof von Poitiers, 



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— 37 — 

hat die 12 Bücher des Quintilian (f 118 nach Christus, „Insti 
tutio Oratoria^S „Über die Anleitimg zur Beredsamkeit* sowohl 
im Stile als auch in der Anzahl der Bücher nachgeahmt, und 
in einer kleinen Schrift „Gegen den Arzt Dioscurus'* gezeigt, 
wie Bedeutendes er in der Wissenschaft zu leisten imstande war. 

Juvencus, Priester in den Tagen des Kaisers Constantin, 
schrieb ca. 330 eine Art Evangelien-Harmonie in Hexametern 
unter dem Titel: „Evangeliorum libri quattuor" (früher: historia 
Evangelica genannt = Lebens-Geschichte unseres Herrn und 
Heilandes); und scheute sich nicht, die Majestät der evangelischen 
Ausdrucksweise unter das Gesetz des Vers-Masses zu bringen. 

Von den übrigen, welche zum Teil noch leben, zum Teil aber 
schon gestorben sind, will ich schweigen: in ihren Schriften 
offenbart sich sowohl ein tüchtiges Können, als auch ein ent- 
schiedener Wille dazu. 

Du aber täuschest dich durchaus nicht in der Annahme, 
gegen die Heiden sei zwar eine solche Kampfes- Weise gestattet, 
in anderen Abhandlungen dagegen müsse man davon absehen: 
denn alle Bücher aller heidnischen Schriftsteller, mit alleiniger 
Ausnahme derer, welche mit Epicur die Wissenschaft vernach- 
lässigt haben, bieten eine reiche Fülle von Gelehrsamkeit und 
Kenntnissen. 

Obgleich ich nunmehr das vermute, was mir bei dem 
Diktieren in den Sinn kam, es sei dir nämlich nicht unbekannt, 
was alle Gelehrten zu tun pflegen (d. h.: die Klassiker zu 
zitieren); so glaube ich doch, unter deinem Namen hat ein 
anderer mir eine Frage vorgelegt, welcher sich vielleicht aus 
Liebe zu den Geschichts- Werken des Sallustius (87 — 35 a. Chr.) 
Calpurinius, mit dem Zunamen: Sanarius (gens indocta) nennt. 

Ich bitte dich, ihn zu überreden, er möge, wenn er auch 
selbst keine Zähne mehr hat, doch nicht die Speisenden um 
ihre guten Zähne beneiden, und bedenken, dass ein Maulwurf 
die Augen der wilden Ziegen (Rehe) verachtet. 

Du siehst, wir hätten noch viel Stoff zur gegenseitigen 
Unterhaltung; aber die engen Grenzen, welche einem kurzen 
Briefe zugemessen sind, dürfen nicht überschritten werden. 
Lebe wohl! 

Aus vorstehendem Briefe des hl. Hieronymus geht zur 
Gentige hervor, dass die christlichen Schriftsteller der alten 



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~ 3« - 

Zeiten die Literatur der Griechen und Römer mit grossem 
Fleisse studierten und sehr gut anzuwenden verstanden. 

Das Studium der klassischen Schriftsteller des Altertums, 
das man gewöhnlich als der neueren Zeit angehörig betrachtet, 
(renaissance), wurde von den Apologeten an durch das ganze Mittel- 
alter hindurch eifrig betrieben. Wie sehr die christliche Kirche 
schon in den ersten Zeiten ihres Bestehens die Wissenschaft 
hegte und pflegte, bewiesen die sog. Katechetenschulen zu Alexan- 
drien, Cäsarea, Antiochien, Edessa, Carthago, Mailand usw., 
welche sowohl ausgezeichnete Lehrer hatten, als auch ebenso 
tüchtige und scharfsinnige Schüler ausbildeten. Diese leuchteten 
als Redner, als Schriftsteller und auch selbst wieder als Lehrer 
hervor, in deren Schulen das Studium der klassischen Literatur 
einen Teil des Lehrplans ausmachte. So bewahrte das auf- 
blühende Christentum die Geistesschätze des Altertums und 
förderte dessen Wissenschaft selbst während der zerstörenden 
Kämpfe in dem römische Reiche und in den Stürmen der 
Völkerwanderung, in welcher die alte Welt unterging. Bis 
zum Ende des weströmischen Reiches nämlich hatte die Kirche 
teils gegen das Heidentum zu kämpfen gehabt, teils auch ihre 
grösste Kraft darauf 'gewandt, die rohen Völker, welche als 
wilde Meereswogen ganz Europa überfluteten und hin- und her- 
zogen, zu besänftigen und zu beruhigen und zum Stillstande 
zu bringen. Endlich hatte sie auch hier den Sieg über die 
unruhigen und tobenden Massen erlangt. 

Hierbei nahm zu Anfang des Mittelalters das aus dem 
Geiste des Christentums hervorgegangene Mönchtiim eine 
führende Stellung ein. Im Abendlande erhielt diese religiöse 
Einrichtung einen höheren Aufschwung, als der grosse Staats- 
mann Cassiodorus, welcher seinem Könige Theodorich, dem 
Ostgoten, 50 Jahre als Präfekt von Unteritalien (494) gedient 
hatte, sich in die Einsamkeit zurückzog und bei seinem Geburts- 
orte Vivarium ein Kloster mit mehreren gleichgesinnten Männern 
gründete. Schon er gebot seinen Mönchen nicht nur die 
Pflege der Wissenschaft, sondern legte auch eine Bibliothek 
in seinem Kloster an: „Cassiodorus nämlich", sagt der Protestant 
Weber in seinem Lehrbuche der Weltgeschichte, „gründete noch 
in seinem Alter ein Kloster in Calabrien, welches neben der 
Beschäftigung mit geistlichen Dingen und mit nützlichen Hand- 



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— 39 — 

arbeiten auch das Muster einer geistlichen Schule werden 
sollte. Zu diesem Ende gab er die Anweisung, wie die Kloster- 
bewohner die dürftige allgemeine Bildung jener Zeit durch 
die Pflege gewisser Teile der antiken Wissenschaft mit dem 
asketischen Leben und den körperlichen Arbeiten verbinden 
könnten. Er empfahl hierzu neben dem Schulunterricht nament- 
lich Bücherabschreiöenj Landwirtschaft, Viehzucht und Obst- 
kultur.'* 

Etwas später gründete der hl. Benedictus von Nursia ein 
Kloster auf dem Monte Cassino, dem Sinai für das Mönchtum 
im Abendlande (529), und gab durch seine fast überall an- 
genommene Regel dem klösterlichen Leben eine festere Ein- 
richtung und Verfassung, Die Regula Sancti Benedicti be- 
zeichnete der protestantische Professor H ü 1 1 m a n n vom Katheder 
herab als Meisterstück einer weisen Gesetzgebung, in welcher 
Milde und Strenge in der schönsten Harmonie verbunden seien. 
Er schrieb seinen Mönchen die Beschäftigung mit Handarbeit, 
Lesen und Unterricht für die Jugend vor, und bestimmte, 
dass in jedem Kloster eine Bibliothek sein sollte. Somit vvurde 
das, was Cassiodorus empfohlen hatte, zur Regel erhoben, und 
sein Gedanke erhielt fundamentale Bedeutung für das spätere 
Klosterwesen. ^Die Benedictiner, so sagt der protestantische 
Minister Guidzot, haben Europa urbar gemacht^ nicht bloss, 
was den Ackerbau betrifft, sondern auch in wissenschaftlicher 
Beziehung." Cf. „Die Zivilisation in Europa", 1828; 10. Auflage 
1868; deutsch 1844. — „La civilisation en Europe.*^ (Vgl. 
F. W. Weber, „Dreizehn -Linden" S. 10—17.) 

Der oben genannte Professor Weber spricht sich über 
die Klöster in folgender Weise aus: „Die Klöster waren in 
jenen Zeiten (und auch heute noch) eine Wohltat für die Menschen. 
Sie schufen Wälder und Haiden in blühendes Ackerland um; 
sie veredelten die rohen Gemüter durch die Verkündigung des 
Evangeliums ; sie legten durch ihre Schulanstalten in die Herzen 
der Jugend den Keim zur Sittigung und Bildung; sie bewahrten 
die Reste der alten Literatur und die Elemente der Wissen- 
schaft vor gänslichem Untergänge.^ 

„Die Benediktinerklöster w^urden die Pflanzschulen der 
Bildung, Wissenschaft und Künste: so in Tours, St. Gallen, 
Hirschau, Reichenau, Weissenburg im Elsass, Corwey an der 



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— 40 — 

Weser usw. Die wenigen Überreste aus germanischer, skan- 
dinavischer und britischer Vorzeit verdanken wir grösstenteils 
dem Fleisse und dem Interesse der Mönche.'* Dieselben waren 
auch gehalten, mit Abschreiben von Werken der alten Klassiker 
sich zu befassen. Auf diese Weise sind uns dieselben erhalten 
geblieben. Wer Gelegenheit hatte, sich Mönchshandschriften 
anzusehen, wird aus der Festigkeit, Eleganz und Flüssigkeit 
der Schriftzüge sich leicht überzeugen, dass dieselben wie 
gelehrte und in die Sache eingeweihte Männer geschrieben 
haben. Erwägen wir zudem, dass die Mönche auch Hand- 
schriften der früheren, sogar heidnischer Vorzeit abschrieben, 
welche gewiss nicht immer leicht zu lesen und entziffern waren, 
auch einzelne wohl Lücken enthielten, welche man durch Ver- 
gleichung mit anderen zu ergänzen suchte, so müssen wir 
ihren Fleiss und ihre Geduld bewundern, sowie eingestehen, 
dass solche Männer zugleich von wahrem Eifer für die Wissen- 
schaft beseelt sein mussten. Um nämlich der Nachwelt die 
Geist eS'Schätse der Vorzeit bu retten^ war ihnen keine Mühe 
zu gross. 

Mit Recht sagt daher Friedrich Wilhelm Weber, der 
Sänger von „Dreizehn-Linden": 

„Preis den braven, schwarzen Mönchen, 
Preis den wackem Kutten-Trägem, 
Alles menschlich schönen Wissens 
Frommen Hütern, treuen Pflegern!" 
„Was auf Hellas' blauen Bergen, 
Was einst am Tyrrhener Meere 
Dichter sangen, Denker dachten, 
Später Welt zu Lust und Lehre;" 
„Was der Geist geweihten Sehern 
Offenbart in Sturm und Stille, 
Wort und Werk des Gottes-Sohnes 
Als er ging in Mannes-HüUe": 
„ Von der Mönche Hand geschrieben, 
Blatt auf Blatt mit Müh' und Sorgen, 
In den Truhen der Abteien 
Lag es liebevoll geborgen." 
j^Solch ein kostbar Gut zu sichern 
Treu dem künftigen Geschlechte, 
Schrieben sie die braven Mönche: Sommertag und 

Wintemächte. 



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- 4t — 

„Sei gedenk der wetterfesten 
Lanzen- Knechte der Konvente, 
Sei gedenk der schwarzen Krieger 
Auf dem weissen Pergamente!" 
,Ja sie sind*s, die schwarzen Krieget, 
Die von einer weggestürmten 
SchönheitS'Well die letzten Inseln 
Kettend vor den Wogen schirmten.''' 
„Aber noch ein andrer Acker 
Blieb den Vätern, reicher Boden, 
Tiefer Grund, doch schwer zu bauen 
Und voll heidnisch wilder Loden: 
jjEmstlich galt's der Römer- Runen 
Fremden Zauber zu ergründen usw.'' 

Cf. „Dreizehn-Linden", IL Gesang: Das Kloster, S. 12 f. 
5. Auflage. Paderborn 1880. 

Gegenüber diesen auf gründlichen Studien beruhenden 
Zeugnissen, nimmt sich die Aussage, welche der Professor 
Ladenburg aus Breslau auf dem 75. Naturforscher- und 
Ärzte-Tag im Herbste 1903 zu Cassel getan hat, sehr seltsam 
aus. Er stellte nämlich die Behauptung auf: das Christentum 
sei ein Toten-Gräber der klassischen Kultur geworden, 

Professor Hermann Schell aus Würzburg hat das Ver- 
dienst, in einem Vortrage, den er im Dezember 1903 in dem 
kaufmännischen Verein Mercuria zu Bamberg gehalten hat, die 
ganze Rückständigkeit sowie Unkenntnis, welche sich in der 
These des Professors A. Ladenburg kundgab, wissenschaft- 
lich beleuchtet zu haben. Der Breslauer Professor hat wohl 
keine Ahnung von den jahrhundertelangen Bemühungen der 
christlichen Ordens Genossenschaften, speziell der Benediktiner, 
um die Erhaltung und Verbreitung der literarischen Schätze 
des klassischen Altertums. Ihm sind z. B. die im Vatikan zu 
Rom aufbewahrten Kultur-Denkmale der alten Griechen und 
Römer ganz unbekannt, er weiss auch nicht, dass der grösste 
Theologe des Mittelalters, S. Thomas Aquinas, bei dem formalen 
Aufbau seiner unsterblichen Werke den klarsten und schärfsten 
Denker des Altertums, nämlich Aristoteles, sich zum Muster 
nahm. Ihm ist es gewiss verschlossen, dass die christliche 
Basilika nach der Ähnlichkeit der antiken römischen, für die 
Rechtspflege bestimmten Gebäude, konstruiert ist und sowohl 
Namen wie Form daher entlehnt hat. Wo werden die Reden 



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— 4ii — 

eines Demosthenes und Cicero mehr studiert, als gerade in 
den christlichen Schulen, z. B. in den Jesuiten- Schulen? Rück- 
ständige Thesis aus Breslau! A. Ladenburg ging in seinem 
Vortrage noch einen Schritt weiter und verwarf die gan.^e 
Offenbarung des alten und neuen Testamentes. Die beiden 
Worte am Beginn der Weltschöpfung: „Fiat Lux!" (Es werde 
Licht!) deutet er höchst willkürlich: „Licht ist geworden durch 
die Entdeckung der griechischen Kultur und des im Westen 
liegenden Erdteils. Was dazwischen liegt, ist im Banne des 
alten und neuen Testamentes, d. h.: im Banne des Dunkels 
und der Finsternis. Nicht Israel ist das auserwählte Volk ge- 
wesen, sondern Griechenland. Und doch hat Griechenland, 
das klassische Volk der Schönheit, der Philosophie und der 
Naturwissenschaft, einen Gott der Offenbarung nicht gekannt." 
Leider! — Es setzte aber diesem „unbekannten Gott" (dTvai- 
axu) 8eai: Apostelgeschichte c. 17, v. 23) einen Altar, und der 
Völkerapostel S. Paulus bahnte durch seine Predigt auf dem 
Areopage die Bekehrung dieses Volkes zum Christentume an: 
,,Was ihr nun, ohne es zu kennen, verehrt, dies verkündige 
ich euch. Und die Zeiten dieser Unwissenheit nachsehend, ver- 
kündigt Gott jetzt den Menschen, dass sie allerwärts Busse 
tun sollen." L. c. v. 22 — 32. Das ist der geschichtliche Verlauf. 
Das Glaubensbekenntnis des Professors Ladenburg ist 
wohl in dem Gedichte Friedrichs v. Schiller niedergelegt: „Die 
Götter Griechenlands". 

„Da ihr noch die schöne Welt regiertet 

An. der Freude leichtem Gängelband, 

Glücklichere Menschenalter führtet, 

Schöne Wesen aus dem Fabelland! 

Ach! da euer Wonnedienst noch glänzte, 

Wie ganz anders, anders war es da! 

Da man deine Tempel noch bekränzte: 

Venus Amathtisia! 

„Schöne Welt, wo bist du? — Kehre wieder 

Holdes Blülenalter der Natur! 

Ach, nur in dem Feen-Land der Lieder 

Lebt noch deine fabelhafte Spur. 

Ausgestorben trauert das Gefilde, 

Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, 

Ach! von jenem lebenswarmem Bilde 

Blieb der Schatten nur zurück!" 



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- 43 - 

S. Paulus, ein berufener Kenner und Zensor der hellenischen 
Kultur (Actus Apostolorum c. 17, 16 sq.; ad Corinthios ep. I, 
c. 1, 18 — 21), redete auf dem Areopage von den Zeiten der 
Unwissenheit, in welcher Griechenland sich über den wahren 
Gott, das höchste Gut, befand. Aus den Worten des Breslauer 
Professors geht nun hervor, dass jene Zeiten bei manchen 
noch nicht vorüber sind. 

Der Herr aber spricht zu seinen Zeitgenossen: 'Eyiw €l^l tö 
qpüjq ToO KÖaiLiou* '0 dKoXou9a»v ^0l ou \xi\ TrepiTrarrjcnj dv tri aKOTi(jf 
„Ich bin das Licht der Welt: 'wer mir nachfolgt, wird nicht in 
der Finsternis wandeln!^' r?Ego sum lux mundi: qui sequitur 
me, non ambulat in tenebris." Evgl. S. Johannis c. 8, v. 12. 

Professor Hermann Schell wies in seinem Vortrage 
überzeugend nach, dass der menschliche Geist gerade durch 
die Erziehung im Christentum befähigt wurde, sich auf die 
weltlichen Dinge der Vergangenheit und Gegenwart zu ver- 
breiten, und dass die Männer, welche hier bahnbrechend 
wirkten, Männer des Glaubens waren. 

Wenn Ladenburg aber behauptet, von der Wieder- 
belebung der klassischen Literatur nach dem Falle von Kon- 
stantinopel 1453 komme im Gegensatze zum Christentum das 
Heil der Welt; so widersprechen ihm die vorzüglichsten Kenner 
jener Bewegung. Marcus Antonius Muretus (1526 — 1585) 
Philolog und ausgezeichneter Latinist, schrieb an seinen Freund 
Franciscus Vinierius (Opp. T. I, Epp. III, 56): „Bene facis, quod 
Te latine scribendo quotidie exerces, ut praestantiam in eo 
genere consequaris. Non enim dubito, quin et cetera vita, et 
istud tuum Studium, eo quo debet, id est ad propagandam 
gloriam Christi et ad ecclesiam pro tua virili parte ab insul- 
tibus inproborum defendendam dirigatur, „Du tust gut daran, 
dass du dich täglich im Lateinschreiben übest, damit du 
hierin einen Vorzug gewinnst. Ich zweifle nämlich nicht, 
dass dein ganzes Leben und dieses dein besonderes Studium 
einzig nur den Zweck hat, die Ehre Jesu Christi .^u verbreiteny 
und seine Kirche gegen die Angriffe gottloser Menschen mit 
Energie bu verteidigend Weitere Zeugnisse führen wir noch 
später an. 

Auffallen der weise sucht A. La den bürg den Entdecker 
Amerikas in einen Gegensatz zum christlichen Glauben zu 



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— 44 — 

bringen. Hierbei offenbart sich seine ganze Oberflächlichkeit 
und Unsicherheit in der Geschichte. 

Gerade aus christlichen Motiven unternahm der edle 
Genuese Christoph Columbus seine Entdeckungsreise. Er be- 
sweckte^ den Völkern der neuen Welt das Licht des hl, Evan- 
geliums Bu bringen und mit den Schätzen Amerikas (Indiens^ 
wie er meinte) das Grab des Erlösers in Jerusalem su befreien. 
Sobald er in der neuen Welt gelandet hatte, liess er das 
Zeichen des hl. Kreuzes errichten, und bei seiner ersten Rück- 
kehr aus Europa brachte er Benedictiner^ Dominikaner und 
Franziskaner als Glaubensboten mit. In aller Munde sind die 
Verdienste des grossen Dominikaners Las Casas für das zeit- 
liche und ewige Wohl der neubekehrten Völker Amerikas. 
Noch unvergessen sind die Bemühungen der Dominikaner und 
Franziskaner um das Zustandekommen jener kühnen Seefahrt. 
Ohne dieselben wäre, nach menschlichem Ermessen, Amerika 
nicht entdeckt worden. 

Nach Widerlegung dieses ungerechten Einwandes aus der 
Gegenwart nehmen wir den Faden unserer Darstellung wieder 
auf. In den Mönchsschulen wurden viele der alten Klassiker, 
lateinische sowie griechische, gelesen und erklärt ; auch wurden 
Kommentare zu denselben geschrieben und ihre Werke sogar 
glücklich nachgeahmt. So geschah es selbst in Nonnenklöstern! 
In dem Konvente zu Gandersheim (im Herzogtum Braunschweig 
gelegen und im Jahre 842 durch Graf Liutolf als adeliges 
Frauen-Stift gegründet) verfassteHroswitha (Helena vonRossow), 
eine der grossartigsten Erscheinungen des Mittelalters, sechs 
Komödien geistlichen Inhaltes in lateinischer Sprache^ um das 
Lesen des Terentius, welches sie für die Nonnen unpassend 
hielt, zu beseitigen. Sie dichtete auch lateinische Gesänge auf 
die Himmelfahrt Christi, das Leben der allerseligsten Jungfrau 
und anderer Heiligen. Überdies schrieb sie in Versen das 
Leben Kaisers Otto I. („De gestis Odonis I. imperatoris") und 
die Geschichte ihres Klosters („De primordiis coenobii Ganders- 
heimensis"). Ihre Werke sind in dem 6. Bande der Monumenta 
Germaniae enthalten. Sie lebte von 930—980 und war eine 
gelehrte Benediktiner-Nonne, welche die lateinischen und grie- 
chischen Klassiker, sowie die christlichen Dichter Prudentius und 
Sedulius fleissig studiert hatte. Zum ersten Male werden ihre 



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- 45 — 

Dichtungen von Johannes Trithemius („Catalogus scriptorum 
eccl." ed. Coloniae 1531, Fol, 76 b) erwähnt. Fast gleichzeitig 
machte der Humanist Conradus Celtes auf diese Dichterin auf- 
merksam, als er am 24. Januar 1494 aus dem Kloster S. Emmeran 
zu Regensburg eine Handschrift mit ihren Werken entnommen 
hatte 1). 

Die klassischen Studien waren, wie selbst Professor 
Hagen gesteht, in der christlichen Kirche nie völlig unter- 
gegangen, selbst nicht in den Zeiten der grössten Bedrängnis, 
vielmehr in der richtigen Weise betrieben worden (f 1880 zu 
Königsberg). Nachdem aber ein Dante, Petrarca und Boccaccio 
das Studium derselben, vorzüglich durch das Ansammeln von 
Handschriften noch mehr anregten ( — der Cardinal Nicolaus 
von Cusa: Cues a. d. Mosel, brachte im Auftrage des Papstes 
Eugen IV. (1431-1447) eine grosse Menge derselben aus 
Konstantinopel mit — ), nahm dasselbe einen grossartigen Auf- 
schwung. Hierzu kam noch der glückliche Umstand, dass 
nach Erfindung der Buchdruckerkunst die Werke der Klassiker 
leichter vervielfältigt werden konnten. Zudem flüchteten sich 
die byzantinischen Gelehrten nach der Eroberung von Konstan- 
tinopel durch die Türken im Jahre 1453 in grosser Anzahl mit 
ihren reichhaltigen Schätzen der Literatur aus Hellas und 
Latium nach dem Zentrum der ganzen Christenheit: nach Rom. 
Hier wurden sie mit offenen Armen aufgenommen, und ihre 
Unternehmungen fanden allseitige Unterstützung, besonders am 
päpstlichen Hofe. Von Rom aus verbreiteten sie sich über die 
ganze apenninische Halbinsel. Jetzt begann in diesem Lande 
die Blütezeit der neubelebten klassischen Literatur (Renaissance). 
Aus Italien nahm bezeichnenderweise das regere Studium der- 
selben, so wie früher das Schulleben, seinen Ausgang. Gleich- 
zeitig waren die tätigsten und tüchtigsten Buchdrucker eben- 
daselbst mit dem Drucken der klassischen Werke beschäftigt. 
In Rom selbst waren zwischen 1465—1480 gegen 26 Buch- 
drucker, welche teils andere teils klassische Werke verviel- 
fältigten; in Venedig wurden besonders die drei Manutius: 



1) Über die zahlreichen Gesamt- und Sonder- Ausgaben, die Über- 
setzungen und kritischen Urteile handelt Potthast „Bibliotheca historica 
medii aevi", 2. Auflage. Berlin 1896, S. 621 f. und Otto Schmitt „All- 
gemeine deutsche Biographie" XXIX, S. 292 f. 

KrOll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 5 



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- 46 - 

Vater, Sohn und Enkel, als Gelehrte und Buchdrucker berühmt. 
(Aldus Manutius 1446—1516; Paulus Manutius 1512—1573; 
Aldus Manutius 1547—1597.) An dieselben schliesst sich die 
Einführung der Antiqua (1495): die Erfindung der lateinischen 
Kursiv-Schrift sowie die Anwendung der Unterscheidungs- 
Zeichen: Colon, Semi-Colon usw. an. 

Die ersten Beförderer des Studiums der altklassischen 
Literatur und die bedeutendsten Männer unter den sog. Huma- 
nisten (studia humaniora tractantes) hielten zum grossen Teile 
das christliche Bewusstsein in hohen Ehren, Papst Nicolaus V. 
sowie Leo X. waren eifrige Beförderer des Humanismus, und 
zwar in der Art, dass klassische Bildung eine Empfehlung war, 
um zu kirchlichen Würden zu gelangen. Nicolaus V. (1447 
bis 1455) und Sixtus IV. (1471 — 1484) legten auch die grosse 
Vatikanische Bibliothek an, welche, von späteren Päpsten reich 
vermehrt, ungefähr 24000 Handschriften, darunter gegen 16000 
Pergament-Handschriften, und gegen 30000 Druckwerke ent- 
hält. Leo XIII. machte sie den Gelehrten aller Nationen und 
Konfessionen 1885 allgemein zugänglich. 

Papst Leo X., am 15. März 1513 erwählt, ernannte noch 
im Conclave die vorzüglichen Latinisten: Petrus Bembus und 
Jacobus Sadoletus, die späteren Kardinäle, zu Sekretären seiner 
apostolischen Briefe. So berichtet Petrus Bembus am Schlüsse 
seiner historia rerum Venetarum 1. XII : „Johannem Mediceum 
annos natum triginta septem Pontificem Maximum creaverunt, 
isque priusquam e conclavi exiret, me et Jacobum Sadoletum, 
qui Romae tunc eramus, sibi ab epistolis adscivit. Man wählte 
Johannes aus dem Hause der Medizäer in einem Alter von 
37 Jahren zum Papste, Dieser nun ernannte noch im Conclave 
mich (Pietro Bembo) und Jacobus Sadoletus, die wir gerade zu 
Rom anwesend waren, zu seinen Sekretären. 

Ähnlich heisst es in der Vita Jacobi Sadoleti, von Antonius 
Florebelli, p. XIsq. : „Leo Papa decimus, acerrimo ingenio et 
gravissimo judicio princeps, simul atque creatus est Pontifex 
Maximus, Jacobum Sadoletum et Petrum Bembum ex omni 
doctorum hominum copia delegit, quorum in conscribendis 
epistolis opera et ingenio uteretur, quod apud Pontifices Roma- 
nos munus est longe honestissimum." 

Leo der Zehnte, ein Fürst von ungemeinem Scharfsinn 



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— 47 — 

und sehr reifem Urteile, war kaum zum Papste erwählt, als 
er sofort schon den Jacobus Sadoletus und den Petrus Bembus 
aus der ganzen Gelehrten Schar für die Abfassung seiner 
Schreiben ernannte. Dieses Amt nun bei den römischen 
Päpsten ist ein sehr ehrenvolles. 

Dieselben haben auch als Denkmal ihrer Tätigkeit im 
apostolischen Palaste zu Rom ihre Briefe gesammelt und heraus- 
gegeben. So Petrus Bembus a. 1536 zu Venedig: Petri Bembi 
Epistolarum Leonis X, Pontificis Maximi nomine scriptarum 
libri XVI ad Paulum ill, Pontificem Maximum Romam missi; 
impressi Venetiis ab Johanne Patavino et Venturino de Refi- 
nellis X. Cal. Sextiles M. D. XXXVI (1536), Cola Bruno pro- 
curante i). 

Die Sammlung des Jacobus Sadoletus führt den Titel: 
Jacobi Sadoleti Epistolae Leonis X., Clementis VII., Pauli III.* 
nomine scriptae. Sie wurden einzeln und mit seinen übrigen 
Werken vereinigt herausgegeben: Lyon bei Sebastian Gry- 
phius 1550 und 1554 in octavo; in derselben Form bei Petrus 
Horst 1575 und bei Petrus Colinus zu Cöln 1608; alle Werke 
zusammen: Mainz bei Balthasar Lippius 1608 in octavo; zu 
Verona bei Tumermanus 1737, 4 Bände in quarto; seine Briefe 
zusammen: Rom 1759 bei Generosus Salomonius. Unter seinen 
im Auftrage des Papstes Leo X. geschriebenen Briefen befindet 
sich einer (Nr. LXXV) an Johannes von Eck zu Trier, den 
Official des Erzbischofs und Kurfürsten Richard von Greifen- 
klau, d. d. Villa Malliana bei Rom, 1. Mai 1522, in welchem 
demselben wegen seiner vorzüglichen Haltung auf dem Reichs- 
tage zu Worms hohes Lob gespendet wird. 

Ein anderes Schreiben ist an Hermann von Wicd, den 
Erzbischof und Kurfürsten zu Cöln, gerichtet. Derselbe hatte 
nämlich 1536 daselbst ein Provinzial-Konzilium abgehalten, an 
welchem die Bischöfe von Leyden, Utrecht, Münster, Osna- 
brück und Minden teilnahmen. Die Konzils-Akten halte nun 
der Metropolit Hermann von Wied nach Rom zur Revision 
eingeschickt. Jacobus Sadoletus, als berufener Zensor, gibt 
hierauf seine Antwort von Carpentoras bei Avignon, seinem 



^) Neu aufgelegt: Lyon 1540; Basel 1539 und 47; Venedig 1552; 
Cöln 1559; Basel 1556 und 67; Strassburg 1562 und 161 1; Venedig 1729. 



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- 48 -- 

inzwischen erhaltenen Bischofssitze aus. Er lobt zwar die 
Abhaltung der Cölner Kirchenversammlung, findet aber das 
gänzliche Auslassen einer doctrina de purgatorio (Lehre vom 
Fegftuer) in derselben höchst befremdend: D. d. III. Calendas 
Dezembres M. D. XLI. (29. Nov. 1541). Unter der Nummer 
CXIII. enthält die Sammlung des Sadoletus ein päpstliches 
Schreiben an den Erzbischof und Kurfürsten von Trier : Johann 
Ludwig von Hagen, in welchem demselben nahe gelegt wird, 
dem deutschen Kaiser Karl V. in seinen Kämpfen beizustehen. 
(Schmakaldischer Krieg.) 

Die beiden Kardinäle Petrus Bembus und Jacobus Sado- 
letus haben in ihrer hohen Stellung am päpstlichen Hofe viel 
dazu beigetragen, die Latinität ihrer Zeit zu verbessern, indem 
sie sich Julius Caesar, Cicero sowie Livius, jene klassischen 
Schriftsteller, zum Vorbilde nahmen. Nachstehend geben wir 
einige Urteile über ihre Leistungen. 

Der Kardinal Reginald Pole sagt in seiner Lebensbeschrei- 
bung des Christoph Longolius: Longolius (orator clarissimus 
Mechliniae natus, qui eloquentiae laude omnes Romae aequales 
facile superavit) plurimum vero ex omnibus detulit Jacobo 
Sadoleto et Petro Bembo, viris quum auctoritate et gratia inter 
eos qui tunc Romae erant maxime florentibus, tum vero doc- 
trina et omni politiori humanitate prope singularibus. Quorum 
opibus et gratia quamdiu Romae fuit, in omnibus rebus usus 
est. Longolius (ein berühmter Redner aus Mecheln übertraf 
zu Rom alle seine Zeitgenossen durch die Eleganz seines Vor- 
trages) hielt die grössten Stücke auf Jacobus Sadoletus und 
Petrus Bembus, welche an Ansehen und Gunst alle Männer zu 
Rom weit überragten, und auch, was Kenntnisse und feinere 
Bildung angeht, fast einzig dastanden. Ihrer Beihülfe und 
Gewogenheit bediente er sich durchgehends während seines 
ganzen Aufenthaltes in Rom. 

Johannes Casa in seiner vita Petri Bembi drückt sich 
folgendermassen aus: Proficiscitur Romam Bembus, quum annos 
natus esset tres et quadraginta, proponiturque epistolis Ponti- 
ficis Maximi nomine scribendis; eoque in munere gerendo datur 
illi socius et quasi coUega Jacobus Sadoletus, is, qui post ea 
Cardinalis factus est. Scripsit eorum uterque eas epistolas 
quum plane Latine, tum vero summa a doctissimis exercitatissi- 



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— 49 — 

misque hominibus adhibita est elegantia summaque dignitas. 
Bembus reiste nach Rom, als er 43 Jahre alt war, und 
erhielt das Amt eines päpstlichen vSekretärs, wobei ihm Jacobus 
Sadoletus als Gehilfe und Kollege zur Seite gegeben wurde, 
derselbe, welcher später Kardinal wurde. Sie beide nun 
schrieben die päpstlichen Briefe in vollendeter klassischer 
Latinität, und verwendeten auf dieselben, wie das von so ge- 
lehrten und tüchtigen Männern zu erwarten war, die höchste 
Eleganz und Würde des Ausdruckes. 

tJber die ganze damals blühende Pflege der klassischen 
Literatur fällt lanus Vincentius Gravina („De conversione doc- 
trinarum" Editio Neapolitana), ein vorzüglicher Philologe, nach- 
stehendes Urteil: Porro quum hi horumque similes (Erasmus, 
Reuchlinus, Budaeus, Morus, ceteri) illustrandae antiquitati 
operam darent, exstitere in Italia Bemhus^ Sadoletus^ Bartho- 
lomaeus Riccius, Jovius, Julius Camillus, Majovagius, Nava- 
gerius, Sigonius, Paullus Manutius; in Germania Longolius, 
in Gallia Muretus^ aliique complures, qui prae ceteris studiis 
Latinam eloquentiam complexi sunt, et Ciceronis in dicendo 
praestantiam (divinitatem ut ita dicam) adeo suspexerunt, ut ei 
se totos dederint, atque in eorum ore temporibus alienissimis 
non modo germana et nativa Latinitas, sed vox etiam Tulliana 
resonarit. Zur Zeit als Erasmus, Reuchlin, Budaeus, Morus 
und noch andere, das klassische Altertum bearbeiteten, waren 
es in Italien: Bembus, Sadoletus, Bartholomaeus Ricci, Jovius, 
Julius Camillus, Majoragius, Navagerius, Sigonius, Paulus Manu- 
tius; in Deutschland: Longolius; in Frankreich: Marcus Anto- 
nius Muretus und noch viele andere, w^elche vor allen Studien 
sich die lateinische Beredsamkeit erwählten, und bei ihren 
Vorträgen der Ausdrucksweise des Cicero sich bedienten in 
einem Masse, dass sie diesen allein zum Vorbilde nahmen, 
und aus ihrem Munde bei so verschiedenen Zeiten nicht bloss 
ein ausgezeichnetes Latein, sondern gleichsam die Stimme eines 
TuUius zu vernehmen war. (Operum Tom. IT, p. 150.) 

Vorzügliche Humanisten waren noch: Leonardo Bruni^ 
Nicolaus Perrotus, Beroaldus, Merula, Pharorinus, Lascaris und 
Gaza, ferner die Kardinäle: Carolus Borromaeus, Alexander 
Farnese, Gabriel Paleoti und Reginaldus Pole. Ausserdem sind zu 
nennen : die Franziskaner Grocyn, Tinacer und Tilly in England. 



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- so - 

Was die einsichtsvolleren und besonneneren Männer jener 
Renaissance anstrebten, und in welchem Geiste sie die Literatur 
der Griechen und Römer studierten, spricht Erasmus Rotero- 
damus in einem Briefe an Albertus Pius, den Fürsten von 
Carpi aus : „Ich begünstige, sagt er, die Sprachen und die alte 
Literatur, um durch sie die bisher gebräuchlichen Studien su 
verbessern j und um die Ehre Jesu Christi su fördern; nicht 
aberj um das alte Heidentum mirücksurufen,'^ Auch erklärte 
er denjenigen, welche mit Verleugnung des christlichen Geistes 
nur auf die Sprache Ciceros hielten, offen heraus: ihm sei die 
rohe Tiefe des Mittelalters mehr wert, als die gedankenlose 
Glätte ihrer Phrasen. 

In diesem Sinne des Erasmus hatte längst zuvor die christ- 
liche Kirche die sog. Humanitätsstudien gefördert. Schon ehe 
Petrarca auftrat, hatten viele die Werke des hl. Johannes 
Chrysostomus, des Johannes Climacus, des Macarius, sowie die 
Reden des Demosthenes aus dem Griechischen in das Lateinische 
übertragen. Durch die Zusammenkunft der Griechen und 
Lateiner auf dem Konzil zu Florenz-Ferrara (1439) wurde das 
Interesse für das klassische Altertum noch mehr angeregt. 
Denn, wie Papst Pius IX. sagt: ^Durch die Erkenntnis der 
göttlichen Dinge wird die menschliche Vernunft in wunder- 
barer Weise erleuchtet^ gestärkt und vollendet.^ Die Flücht- 
linge aus Konstantinopel (1453), welche zum grossen Teile 
auch Geistliche und Mönche waren und manche Schätze der 
griechischen Literatur nach Italien überbrachten, fanden seitens 
der Kirche eine freundliche Aufnahme und Unterstützung. 
Dass die Kirche in dieser Hinsicht die geistige Tätigkeit ge- 
fördert hat, erhellt schon daraus, weil die in Italien seit 1450 
besonders aufblühenden Akademien aus allen Ländern Europas 
zahlreich besucht wurden, um an denselben die neuen Studien 
zu betreiben. Ebenso auf den Schulen der geistlichen Genossen- 
schaften in den Niederlanden, besonders in Deventer, dem 
Kollegium des seligen Thomas von Kempen, und in ZwoUe usw. 
wurden die klassischen Studien gepflegt und kamen von da 
nach Deutschland. Hier waren es ebenfalls die geistlichen 
Bruderschaften in Schwaben, den Rheinlanden und Westfalen, 
welche unter lebhafter Teilnahme von Fürsten, Stiftsgeistlichen, 
sowie Mitgliedern der höchsten Adels- und Würdenträgern, der 



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- 5' - 

Kirche, z. B. des Langen in Münster, des Dompropstes Hermann 
Grafen von Neuen-Aar u. a. das Studium der altklassischen 
Literatur förderten. 

Die verkehrte Richtung des Humanismus zeigte sich 
zuerst bei Laurentius Valla, der zwar in guter Latinität, aber 
seichte und oberflächliche Anmerkungen zum Grundtexte des 
neuen Testamentes und eine Moral mit sklavischer Nach- 
ahmung des Altertums im heidnischen Geiste schrieb. Die 
NeU'Platoniker an der Akademie, welche Genustius Pletho 
(1440) gegründet hatte, verteidigten zwar noch einige religiöse 
Ideen des Christentums; vielen unter ihnen jedoch stand die 
platonische Philosophie höher als das Christentum. Ganz 
anders dachten S. Justinus und Augustinus! Durch die An- 
hänger des aristotelischen Systems, die Neu-Peripatetiker, bildete 
sich eine gefährliche Zweifelsucbt aus, wie bei Petrus Pom- 
ponatius (f 1526). 

Selbst die Politik wurde durch den Historiker Macchia- 
velli (t 1530) in eine dem Christentum widersprechende Bahn 
der egoistischen Klugheit gelenkt. Da diese Richtungen um 
sich griffen, so ist es nicht auffallend, dass manche bei der 
überhandnehmenden Gleichgültigkeit in religiösen Dingen über 
der schönen Form der Klassiker den Geist des Christentums 
aufgaben, und in dieser heidnischen Anschauung vom Glauben 
selbst ablenkten. Schon Vincentius Ferrerius aus dem Domini- 
kanerorden (11419) klagt im Anfange des 15. Jahrhunderts: 
„Das Gold des guten Lebens ist In der Welt verblichen; die 
beste Farbe: die evangelische Lehre, welche die Seelen mit 
mannigfacher Zierde schmückt, ist verwandelt. Die Auslegung 
der hl. Schrift hat jetzt einen poetischen und philosophischen 
Anstrich, so dass wenige Prediger das Evangelium mehr ver- 
kündigen, wohl aber den Cicero und Aristoteles." Und wirk- 
lich gefiel man sich darin, auf der Kanzel eine Menge von 
Beispielen aus den heidnischen Klassikern anzuführen und 
selbige sogar zu erklären. Das war allerdings vom Übermass ; 
wir führen es aber an, um zu zeigen, welch ein reger wissen- 
schaftlicher Geist damals tätig war. 

Auch während der sog. Reformationsepoche blieben die 
klassischen Studien in Übung: Martin Luther, Philipp Melanch- 
thon, Calvin und Ulrich von der Hütten sprachen und schrieben 



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- 52 - 

ein gutes Latein ; Melanchthon schrieb sogar griechische Briefe ; 
aber sie verliessen den Glauben ihrer Väter. 

Zu jener Zeit entstanden die Jesuitenschulen, welche zu 
einer hohen Blüte gelangten. In ihnen war es Grundsatz: 
Klassische Bildung mit christlicher Tugend su verbinden und 
auf diese Weise zu einer christlichen Humanität zu erziehen. 
Die Summa doctrinae christianae und die Institutiones christianae 
pietatis (Vindebonae 1554; Antverpiae 1587 usw.) von Petrus 
Canisius, dem ersten deutschen Jesuiten, sind in vorzüglicher 
Latinität verfasst, was Leo XIIL in der Encyclica zur 300jährigen 
Todesfeier (121. Dezember 1597) desselben besonders rühmend 
hervorgehoben hat. 

Die alte Mutterkirche hielt die klassischen Studien stets 
in grossen Ehren, so dass bei der Stilisierung der Canones et 
Decreta Concilii Tridentini (1545— 1563) und der Redaktion des 
Catechismus Romanus auf Vorschlag des Kardinals Carolus 
Borromaeus die tüchtigsten Latinisten, wie der Kardinal Gabriel 
Paleotti, Paulus und Aldus Manutius, sowie Julius Pogianus zu 
Rate gezogen wurden. Auch das Missale und Breviarium 
Romanum geben hiervon Zeugnis. Die Päpste S. Pius V., 
Clemens VIIL und Urban VIH. scheuten keine Mühe, auch die 
formale Seite dieser Werke mustergültig zu gestalten. 

Es wurde eine Kommission ernannt, um nach den Be- 
stimmungen des Konziliums von Trient eine neue Ausgabe des 
Missale und Breviarium Romanum zu veranstalten. S. Pius V. 
bestätigte die neuen Editionen am 9. Juli 1568 und am 14. Juli 
1570. Clemens VIIL Hess diese liturgischen Bücher nochmals 
revidieren und approbieren am 10. Mai 1602, resp. 7, Juli 1604. 
Die letzte verbessernde Hand legte Papst Urban VIIl. an. 
Drei Dezennien waren nämlich seit der Clementinischen Revision 
des hl. Officiums verflossen, als Urban eine neue Durchsicht 
für nötig erachtete. Er wollte vor allem eine genauere Inter- 
punktion der Lektionen und Cantica herstellen und die Hymnen 
nach den Regeln des Metrums und der Latinität einer strengen 
Zensur unterwerfen, damit „die Psalmodie der streitenden 
Kirche, welche eine Tochter der himmlischen Hymnodie sei, 
dieser auch (durch die Vollendung der Form) ähnlicher werde 
und durch keine Mängel die Gemüter der Betenden von Gott 



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— 53 — 

und den göttlichen Dingen ablenke.*^ (Cf. Bulla Urbans d. d. 
25. Januar 1631: „Divinam psalmodiam".) 

An die Spitze der zu diesem Zwecke bestimmten Rezension 
stellte sich der Papst persönlich; nur wählte er die als vor- 
zügliche Kenner der lateinischen Sprache und der kirchlichen 
Hymnologie bekannten Gelehrten: Famianus Strada, Tarquinius 
Galuzzi, Petruzzi und den Dichter Matthias Casimir Sarhiewskiy 
den Vorläufer Jacob Baldes, S. J., zu Mitarbeitern. Dieselben 
lösten ihre Aufgabe, soweit dies möglich war. (Es finden sich 
nur wenige Stellen, an denen sie aus Liebe zur Klassizität 
allzuviel opferten.) Sie gaben dem Ausdruck eine grössere 
Glätte und Feinheit, ohne ihm die frühere Salbung zu rauben. 
Nach Gavanto („Thesaurus Sacrorum Rituum" Tom. II, Sect. V., 
Caput VI.) wurden nicht weniger als 900 metrische Fehler ver- 
bessert, 30 Hymnen ganz umgearbeitet und mehrere neu 
gedichtet. Unverändert blieben nur die Sakramentshymnen 
des hl. Thomas Aquinas, das „Ave maris Stella", und einige 
andere^ Daniel in seinem Werke über die klassischen Studien 
berichtet, dass die Umänderung des Osterhymnus „Ad regias 
agni dapes" dem Matthias Casimir Sarbiewski, S. J., zugeschrieben 
werde. Die neue Ausgabe des verbesserten Breviariums erhielt 
am 25. Januar 1631 und des revidierten Missale Romanums am 
2. September 1634 die Bestätigung durch Urban VIII. Das 
ganze Bestreben zeigt die Erfüllung des biblischen Spruches: 
„Goldene Früchte auf silbernen Schalen/' Proverbiorum 25, 11. 
Hier ist auch die Stelle, an welcher das Andenken nach- 
stehender Philologen gefeiert werden soll, welche sich durch 
Herausgabe und Erklärung der lateinischen und griechischen 
Klassiker besonders verdient machten: Leonardus Coquaeus, 
Johannes Ludovicus Vives, Heinrich Valesius, Robert und 
Heinrich Stephanus. Ihnen schliessen sich in der Folgezeit 
würdig an: Johann August Ernesti, Matthias Joseph Gesner, 
Tiberius Hemsterhusius, Johannes Jacobus Reiskius, Johannes 
Daniel Ritter, David Ruhnkenius, Friedrich August Wolf, Daniel 
Wyttenbach u. a., die als tüchtige Latinisten einen Ruf haben. 
Um nun zur neueren Zeit rasch überzugehen, bemerken wir 
noch, dass es vielfach Übung war, auf der Unter- und Ober- 
Prima der Humanisten Gymnasien lateinische Aufsätze zu 
schreiben, lateinische Disputationen abzuhalten und die grie- 



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- 54 - 

chischen sowie lateinischen Klassiker in der Sprache .Latiums 
zu erklären: auch bei dem Abiturienten- Examen. 

Diese Einrichtung erwies sich den angehenden Philologen 
und Theologen als sehr nützlich für ihre Fachstudien. Mancher 
schöne lateinische Kommentar zu den Klassikern wurde damals 
verfasst, wie von Raphael Kühner zu Ciceros „Tusculanarum 
Disputationum libri quinque** (Philosophische Untersuchungen 
zu Tusculum in 5 Büchern) 1835 usw. Auch wurden den 
Herbst-Programmen gewöhnlich lateinische Abhandlungen bei- 
gefügt, z.B.: „De rebus divinis quid senser it Euripides" *) von 
Gymnasial-Oberlehrer Pohle zu Trier 1868 usw. 

Papst Leo XIII. pflegte wie seine Vorgänger, besonders 
Leo X., die antiken Studien in vorzüglicher Weise. Die Kenner 
der alten Literatur sind über die klassische Latinität seiner 
Gedichte und apostolischen Rundschreiben ganz entzückt. Fürst 
Otto Bismarck, der geniale Reichskanzler, hat das seiner Zeit 
offen ausgesprochen und besonders gewürdigt. Eine vornehm 
ausgestattete Publikation der Carmina Leos XIII. veranstaltete 
Friedrich Pustet in Regensburg 1881, und in neuester Zeit 
Johann Peter Bachem zu Cöln a. Rh. 1903, welche, mit Ge- 
nehmigung Sr. Heiligkeit versehen, eine vollständige Ausgabe 
der Carmina. Inscriptiones. Numismata. Leonis XIII. P. M. nebst 
Einleitung und Anmerkungen von Dr. Joseph Bach enthält. 
Der Verleger hatte die Freude, dem Papste noch kurz vor 
dessen letzter Erkrankung das vollendete Werk durch einen 
Vertreter seiner Firma überreichen zu lassen. 

Auch der neuerwählte Papst Pius X. spricht und schreibt 
ein klassisches Latein. 



1) Wie war Eurpides in religiöser Beziehung gesinnt? 



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Die hl. Schrift, zunächst die 5 Bücher Moses (Penta- 

teuch), gehört zu den vorzüglichsten und ältesten 

Büchern der Welt. 



„Um das Urbild unter einer Menge von Nach- 
bildern zu finden, muss man dasjenige Bild suchen, 
welches durch die Einheit und Vollkommenheit 
seiner Teile den Geist des Meisters bekundet." 
Chateaubriand „Genie du Christianisme" i. III. c. i. 

Die christliche Religion erfüllt in unleugbarer Kontinuität 
alle verflossenen Jahrhunderte; erwartet zu sein, zu kommen, 
anerkannt zu werden von einer Nachkommenschaft, welche bis 
zum Ende der Welt dauert : das ist der Charakter desjenigen, 
an den wir glauben, welcher, weil er alles in der Hand hält 
(Matth. 28, 18), allein einen Plan anfangen und durchführen 
konnte, der alle Jahrhunderte umfasst. (Cf. Bossuet „Discours 
sur Thistoire universelle IL vers la fin.) Zu diesem Zwecke 
hat Gott selbst ein heiliges Denkmal als Erinnerung an die 
Offenbarung der Religion gesetzt, damals als der grosse Abfall 
der Völker zum Heidentum begann (Genesis X.— XIII.). 

Die hl. Schrift hat in der ganzen Weltliteratur den Vor- 
zug, dass sie den höchsten Grad von Vielseitigkeit und grosser 
Lebendigkeit darstellt. Sie bewahrt nicht nur die Erinnerung 
an einen gemeinsamen Ursprung aller Völker der Erde (Genesis 
c. XLv. 8sq., und Apostelgeschichte 17, 26); sondern bewegt 
sich unter dem Einflüsse aller Kultur-Perioden und Kultur- 
Systeme der ganzen alten Menschheit i). 



^) Dazu kommt noch der wichtige Umstand, dass in der kurzen 
Darstellung, welche die hl. Schrift von der Urzeit gibt, bedeutende Wahr- 
heiten ausgesprochen werden, deren wissenschaftliche Ermittelung ein 
Ruhm der Gegenwart ist, hingegen im Altertume unmöglich war. So ist 



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- 56 - 

Nichts tritt in der Geschichte der alttestamentlichen Offen- 
barung, welche zugleich die Geschichte des Volkes Israels ist, 
so auffallend hervor, als eben die Bestimmung, mit allen Haupt- 
erscheinungen der antiken Menschenbildung in Berührung 3u 
kommen. Soweit wir mit irgend welchen Mitteln die Geschichte 
des Altertums von der zweiten Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr. 
rückwärts tiberschauen können, finden wir keinen grossen Fort- 
schritt; keine einflussreiche Veränderung in der Bildung der 
Völker, mit welchem die Israeliten nicht in lebendigen Ver- 
kehr getreten wären. Es ist eine auffallende Tatsache, dass 
das hebräische Volk, öfters auf sehr schwierigen Wegen, aus 
dem Heimatlande fortgeführt wurde, um unmittelbar und per- 
sönlich dort zugegen zu sein, wo ein neuer Tag der Völker- 
bildung anbrach. 

Nach der älteren babylonischen Kultur, aus deren Ein- 
wirkung Abraham, der Stammvater des jüdischen Volkes, um 
des dort entstandenen Heidentums willen von Gott weggeführt 
wurde (Genesis c. 12, 1, und c. 12,8), treffen wir als die nächst 
älteste Bildung der alten Menschheit die ägyptische. In dem 
Kreise dieser Bildung (Apostelgeschichte c. 7, 22) brachte die 
jüdische Nation gleichsam ihre Kindheit zu : hier wuchs sie aus 
kleinen Familien zu Stämmen, und aus diesen zu einem Volke 



im Schöpfungs- Bericht eine Reihenfolge der organischen Wesen aufgestellt, 
deren Nachweisung die Geognosie und Naturgeschichte zu ihren schönsten 
Resultaten rechnet. In der „ Völker- Tafel'' sind Nationen als Verwandte 
bezeichnet, welche erst durch die neuesten Ergebnisse vergleichender 
Sprachforschung auf einen gemeinsamen Stamm zurückgeführt werden 
konnten: Griechen, Germanen, Arier und Slaven. (Vgl. Baumgartner, 
S. J. „Weltliteratur", III. Bd., S. 3 und 4, Auflage 1902.) — Genesis c. X, 
V. 22, werden die Bewohner Elams (des heutigen Persiens) zu den Se- 
miten gerechnet. Nim hat man im Jahre 1898 in Susa von französischer 
Seite her viele Inschriften entdeckt, welche von elamitischen Herrschern 
verfasst sind, deren Regienmgszeit sogar noch dem Anfange des 3. Jahr- 
tausends vor Christus angehört, und die alle in semitischer Sprache ge- 
schrieben sind. Es ist dies ein sicherer Beweis dafür, dass zu jener Zeit 
in Elam das semitische Element am stärksten vertreten wai. (Vgl. Dr. H. 
Lindl, Privatdozent in München „Wissenschaft und Kritik der Neuzeit 
und das Alte Testament", S. 102; 1903; Cöln bei J. P. Bachem. Abge- 
druckt in dem 4. Hefte (April) der Monats-Blätter für den katholischen 
Unterricht.) 



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- 57 - 

heran. In den Jahrhunderten, in welchen die Phönizier das lebens- 
volle Mittelglied zwischen der Kultur des inneren Asiens und 
Ägyptens sowie des Abendlandes (Griechenland, Spanien usw.) 
bilden, sind die Hebräer im Lande Kanaan, von ihren Bergen herab 
die nächsten Zeugen des regen Treibens jener Zeit, Sie standen 
mit den Phöniziern stets in gutem Einvernehmen und kommer- 
ziellem Verkehre. Unter David und Salomon war die Glanz- 
Periode des hebräischen wie des phönizischen Volkes (1055 — 975). 
Die Königshäuser von Jerusalem und Tyrus standen in freund- 
schaftlicher Verbindung; die Bewohner beider Länder waren 
zugleich bei dem Bau des königlichen Palastes zu Jerusalem 
beschäftigt. Auch gingen die Handelsschifi'e beider Nationen von 
Ezeon-Geber (Asiongaber), einem Hafen am Ufer des roten 
Meeres, nach Ophir (Sofala) im südöstlichen Afrika (lU. Regum 
c. 9, 26—28) und nach Tharsis (Thartessus) in Spanien (III. Regum 
c. 10, 22), um Gold und Silber zu holen. In drei Jahren vollen- 
deten sie die Reise. Ursprünglich waren auch die hebräischen 
Schriften des alten Testamentes mit den alt-semitischen, phöni- 
m sehen Buchstaben geschrieben. 

Ehe noch Babylon unter der vereinigten Macht der Meder 
und Perser zusammenbrach, wurden die Israeliten dorthin 
geführt (606 — 536), um mit der untergehenden Bildung der 
Chaldäer in ebenso nahen Verkehr zu treten, wie mit der 
persischen, in welcher die indische zum grössten Teile mit ein- 
geschlossen war. Was von der indischen Bildung im Persischen 
nicht gegeben ist, war für die Hebräer im ägyptischen und 
phönizischen Kulturkreise schon da, oder kam im griechischen 
nach. Das Buch des Propheten Daniel, dessen Hauptwirksamkeit 
in die Zeit des babylonischen Exils fällt, ist c. II., 4 — 49 ; c. III, 
1 — C. VII., 28 ursprünglich rein chaldäisch geschrieben; das 
ganze Buch aber ist stark chaldäisch -mundartlich gefärbt, 
wie der Pentateuch des Moses viele Anklänge an die ägyptische 
Sprache in sich trägt. 

Bis zur Zeit, dass Alexander der Grosse kam undPhönizien, 
Palästina sowie Ägypten eroberte (332), wo^nrch der griechischen 
Bildung im Morgenlande die Bahn gebrochen wurde, hatten 
die Juden wieder Besitz vor ihrem Heimatlande genommen 
'536), und bald gründeten sich zahlreiche Kolonien mit jüdischer 
Bevölkerung in allen durch griechische Kultur bedeutenden 



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- 58 - 

Orten. (Vgl. Josephi Flavii „Antiquitatum Judaicarum" 1. XII,, 
c. 14, n. 10 sq., und Philonis Judaici vet Alexandrini „Legationis 
ad Cajum** § 36.) Kurz hierauf erfolgte zu Alexandrien die 
Übersetzung der hebräischen Bücher des alten Testamentes in 
die griechische Spruche. (Jos. Flav. Antiq. 1. XII., c, 2 und Phil, 
lud. „De Vita Moysis" 1. II. c. 5—8.) 

Vom Tierdienste in Ägypten bis herab zu der Naturphilo- 
sophie Epicurs ist auf geistigem Gebiete von den alten Völkern 
nichts Wichtiges erlebt worden, was nicht das Volk Israel mit 
hätte erleben müssen. Um nun das Volk Gottes gegen die 
Gefahren, welche in der griechisch römischen Philosophie für 
den wahren Glauben einbeschlossen waren, zu stärken, wurde 
in der Zeit von 300—200 v. Chr. das ^Buch der Weisheit"^, 
ursprünglich schon in griechischer Sprache zu Alexandrien 
verfasst. C. 15, 17 f. warnt es vor dem Tier- und Fetischdienst. 
Das Buch lehnt sich an den Namen des weisesten aller Sterb- 
lichen : Salomo, an und zeigt der erträumten und ohnmächtigen 
Weisheit der Heiden gegenüber die Weisheit aus Gott; es 
offenbart den Ursprung und die Nichtigkeit des Götzendienstes 
unter jeder Gestalt. Vgl. c. 13, v. 14 f. und c. 14, 1 f. 

Die Berührung aber mit so verschiedenen Völkern und 
so mannigfachen Arten der Kultur gibt der Geschichte des 
Volkes Israels von aussen her eine Vielseitigkeit, mit welcher 
im ganzen Altertume nichts verglichen werden kann. 

Von innen wird diese Geschichte belebt durch den natür- 
lichen Reichtum an geistigen Gaben, welcher dieses Volk bis zur 
Stunde auch in den Augen seiner Feinde auszeichnet. Alle 
Leidenschaften, alles Ringen und Streben im Guten, wie im 
Bösen, stellt sich auf dem Grunde des hebräischen Volkslebens 
in den klarsten und schärfsten Umrissen dar. Würden wir 
dieses Volk auch nur für sich ohne seine Offenbarung, bloss 
in seiner allgemein menschlichen Erscheinung auffassen, so 
würden wir es wegen seiner geistigen Begabtheit als eine Art 
Mustervolk gelten lassen müssen. Es mag sein, dass einzelne 
Fähigkeiten unter anderen Völkern des Altertums weiter aus- 
gebildet wurden, als bei den Hebräern: das reine Denken usw. 
bei den Griechen ; die Kunst des Herrschens bei den Römern (cf . 
Virgilii Aeneidos 1. VI. v. 847 — 854.); aber eine solche Vereini- 
gung aller Tätigkeiten, welche der Mensch darstellen kann, 



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- 50 - 

möchte wohl nirgends gefunden werden, wie im hebräischen 
Volke 1). 

Man vergegenwärtige sich den Umfang allgemein mensch- 
hcher Ausbildung, welcher schon durch einige Männer gegeben ist, 
wie Abraham, Joseph, Moses, Josua, Jepthe, Samson, Samuel, 
David, Salomon, Elias, und Achab, Isaias und Ezechias, Daniel, 
sow^ie Judas Machabaeus und ähnliche; man stelle den Fürsten 
und Königen die Propheten und Dichter gegenüber; man messe 
den Abstand zwischen dem Kriegsliede der Debbora (1. Judicum 
V., 1 sq.) und dem „Hohen Liede" Salomons; zwischen dem 
Stile der mittleren Bücher Moses, des Buches Job, sowie in 
den Psalmen Davids, und man wird keinen Zug zu einem 
vollständigen Bilde alles Menschenvermögens vermissen. So 
verdiente die Geschichte und Literatur dieses Volkes als 
Muster aller menschlischen Bildung erwählt zu werden. — 
(Cf. Haneberg „Bibl. Offenbarung« 4. Aufl. S. 2 sq. 1876.) Leo- 
pold von Ranke, der gefeierte Gelehrte und Forscher unserer 
Tage, sagt in seiner Weltgeschichte (I., 42): ^Moses ist die 
erhabenste Persönlichkeit der ganzen ältesten Geschichte.« — 
Vgl. S. 5 f. 

Wenn der Botaniker eine Pflanze untersuchen oder erklären 
will, so wählt er gerne ein vollkommenes Exemplar, d.h. ein 
solches, in welchem nicht bloss der eine oder andere Teil der 
Pflanze, sondern alle klar und ganz enthalten sind. So hat 



^) Excudent alii spirantia moUius aera: 

Credo equideiii, vivos ducent de marmore vultus, 
Orabunt causas melius, coelique meatus 
Describent radio et surgentia sidera dicent: 
Tu regere imperio populos, Romane memento 
Hae Tibi sunt artes, pacisque imponere morem, 
Parcere subjectis et debellare superbos!" 

Virgiiii Aeneidos 1. VI, v. 847 — 854. 

Weicher im Guss mag mancher die Erze gestalten, 

Oder belebtere Bilder aus dem Marmor schaffen — ich glaube es — 

Besser für Recht handhaben das Wort, mit dem Stabe genauer 

Zeichnen die Bahnen des Himmels und Sternaufgänge verkünden, 

(Griechen) ; 

Du, o Römer, gebiete des Erdballs Völkern als Obherr! 

Darin zeige die Kunst, und ordne Gesetze des Friedens; 

Schon' den bezwungenen Feind, und die Stolzen kämpfe zu Boden! 



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— 6o — 

das Urteil einer halben Welt unter allen Heldengeschichlen 
des Altertums die Gesänge des Homer und Virgil erkoren, 
weil hier ein gewisser Kreis menschlicher Kräfte mit unüber- 
trefflicher Klarheit, Ganzheit und Einheit geschildert ist. 
Was aber den Sängern der Ilias und Aeneis nur in dem 
engerem Kreise des Heldenlebens, und nur als Dichtung gelang, 
das steht gemäss dem Zeugnisse der Bibel in der Geschichte 
des israelitischen Volkes für alle Lebensverhältnisse als Wirk- 
lichkeit vor uns: ein deutliches und vollkommenes Muster des 
Menschenlehens ^). 

Deswegen gibt die Stellung des Volkes Israel zu den 
anderen Nationen und der angeborene Reichtum an Talenten, 
welchen wir in der hebräischen Nation selbst beobachten, eine 
Antwort auf die wichtige Frage: wie sollen wir in den geisti- 
gen Anschauungen und Erlebnissen eines so kleinen Volkes 
etwas finden, was allen Menschen der ganzen Welt genügen 
könnte? Man überschaue nur die Karte der alten Welt! In 
Mesopotanien ist Babylon das kulturelle Zentrum von Vorder- 
asien ; schon 2250 v. Chr. sehen wir hier das Reich Hammurabis 
(Genesis 14, 1 sq.), dessen Gesetzbuch auf der französischen 
Expedition (1897 — 1899) aufgefunden wurde*). Es zeigt uns 
dieses Reich als hochentwickelten Kultur- und Rechts-Staat. 
Hierauf entsteht das gewaltige assyrisch-babylonische Welt- 
reich, das ganz Vorderasien in sich schliesst und zeitweise 
bis nach Arabien und Ägypten sich ausdehnt. Der Prophet 
Daniel war daselbst Reichskanzler und Statthalter über alle 
120 Provinzen. (L. Danielis II, 48.) Nach ihnen kommt Hellas 
und Rom auf die Weltbühne. 

Was ist dagegen Israel? — Es ist nie mehr als ein kleines 
Fürstentum gewesen! (I. ad Corinthios 1, 27 — 30.) Wie konnte 
nun das Christentum auf dem Grunde eines so kleinen und im 
Vergleiche mit den riesigen Weltmächten so geringen Israeli- 

^) „Hona^re a fait Virgile, dit-on; et Virgile a fait Dante, disons 
nous; si cela est, c'est sans deute son plus bei ouvrage." Voltaire, Homer 
hat den Virgil geschaffen, so sagt man; und wir sagen: Virgil hat den 
Dante hervorgebracht; wenn sich das so verhält, dann ist er ohne Zweifel 
sein vorzüglichstes Werk. 

2) Delegation en Perse. Memoires. Tom. IV, Textes elamites semi- 
tiques par V. Scheil, Ordinis Praedicatorum. Deutsch von Hugo Winckler, 
Leipzig 1902. 



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~ 6i - 

tischen Volkslebens erwachsen, den Beruf erhalten, die ganze 
Welt mit Einschluss aller Denker und Schulen sich zu unter- 
werfen? (I. ad Corinthios 1, 19—26.) Mit gutem Rechte; denn 
alle Völker der Erde können keinen Charakter aufweisen, 
welcher nicht in der Reihe der bedeutendsten Menschen vom 
Volke Israel schon dagewesen, und mit den Vorbereitungen 
zur christlichen Offenbarung, oder mit dieser selbst in Beziehung 
getreten wäre. Andererseits kann kein Studium, keine Er- 
fahrung zu den Haupterscheinungen des ägyptischen, phönizisch- 
babylonischen, persischen und endlich griechischen Kulturkreises 
etwas wesentlich Neues hinzufügen. Die abenteuerlichen Vor- 
stellungen moderner Theosophie und Kabbala sind im wesent- 
lichen in jenen grossen Geistesgebieten des Altertums ebenso- 
gut zu finden, wie die feinste Dialektik eines Philosophen des 
20. Jahrhunderts. 

So nahe indes von innen der eigentümliche Charakter 
des israelitischen Volkes überhaupt, und einzelner Personen 
insbesondere, und von aussen der Einfluss der heidnischen 
Kultur mit der göttlichen Offenbarung in Berührung kommt, 
so ist beides doch voneinander zu unterscheiden. Das erstere 
dient zur Unterlage, zum Stoffe, welcher die höhere Gestaltung 
empfangen muss ; das letztere nur zur Weckung und Bewährung 
im Glauben. Wie gross auch der Einfluss des Heidentums 
auf die Geschichte der Offenbarung war ; so hat er dem Offen- 
barungsvolke doch keine neuen Religionsideen geliehen. Die 
neuen Entdeckungen zu Babylon, Ninive und Susa, z. B. die 
Gesetze des Königs Hammurabi, des biblischen Amraphel 
(Genesis 14, 1 sq.), um 2250 vor Christus, ein Zeitgenosse des 
Abraham, zeigen nur, dass die darin niedergelegten Rechts- 
begriöe aus der menschlichen Vernunft-Tätigkeit überhaupt 
hervorgegangen sind; dass sie diese natürliche Sphäre aber 
nicht übersteigen und ein Gemeingut des ganzen semitischen 
Stammes sind, zu welchem die Babylonier sowohl, als auch die 
Israeliten gehören. Auch ist ja die assyrisch-babylonische 
Sprache mit dem Hebräischen sehr nahe verwandt. 

Das Wanderleben der Israeliten durch alle Kultur- und 
Religionssysteme des Altertums hatte nicht die Bestimmung, 
von allen Seiten her Belehrungen su sammeln, so dass Israel 
nur der sinnige Sammler oder bald mehr oder weniger glück- 

KröU, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. ^ 



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— 62 -^ 

liehe Bearbeiter der bedeutendsten Anschauungen des Alter- 
tums, und seine Kultur und Religion daher nur das Gesamt- 
ergebnis der Haupterscheinungen des antiken Geisteslebens 
wäre; Israel tritt vielmehr im Besitze der Lehre von dem einen, 
wahren, persönlichen, ewigen und allmächtigen Gott unter die 
Naturreligionen der Heiden, um unter mannigfachstem Wider- 
Spruch sein Glaubensbekenntnis su bewähren^). Die Geschichte 
kennt keinen anderen Einfluss auf das Innere der israelitischen 
Religion, als den, dass der Widerspruch und der Gegensatz 
zur gründlichen Durchübung und Durchempfindung der heiligsten 
Wahrheiten führte, auch wohl neue Offenbarungen hervorrief. 
Ausserdem machen sich die heidnischen Religionen in der 
Geschichte der Offenbarung nur insofern geltend, als sie über- 
ivunden werden^). 

Wir werden zwar in allen Perioden des Verlaufes der 
Ofi'enbarung Spuren des Heidentums finden; jedoch immer nur 
so, dass der Kern der Offenbarung und die göttliche Ein- 
wirkung zur Fortführung und Forterhaltung deutlich zu unter- 
scheiden ist. Die göttliche Offenbarung überwindet der Reihe 
nach die Erscheinungen der Heidenwelt. Dieselben sind etwa 



^) „Nach der Gewohnheit des Landes Ägypten, in welchem ihr ge- 
wohnt habt, sollet ihr nicht handeln, und nach der Sitte des Landes 
Chanaan, in welches ich euch einführen will, sollet ihr nicht tun und 
nicht nach ihren Satzungen wandeln; meine Gesetze sollet ihr beobachten 
und nach ihnen wandeln; ich bin euer Herr und Gottf^^ Cf. L. Levitici 
c. i8, V. 3 sq. Daher sagt Tacitus von Moses („Historiarum" 1. V, c. 4): 
Moses, quo sibi in posterum gentem firmaret, novos ritus contrariosque 
ceteris morlalibus indidit. Moses gab seinem Volke, um sich dessen für 
die Zukunft zu versichern, ganz neue Religions gebrauche, welche von denen 
aller anderen Völker ganz verschieden waren. 

^) Cf. Libri Exodi c. 20, i — 7; Levitici c. 17, 7; c. 18, 3, 4, 5, 30; 
c. 22, 25, 32; c. 26, i; Numeri c. 25, 18; Deuteronomii c. 4,6 — 9, 15 — 20; 
25—41; c. 5, 6— 11; c. 6, c. 14—19; c. 7, 1—9; 25 u. 26; c. 12, 2—5; 
29 — 32; c 13, 12 — 18; IL Regum c. 5, 21 und I. Paralip. 14, 12; IIL 
Regum c. 18, 36; Psalmi 113. B., 3 — 9; Jeremiae Prophetae c. 10; Ba- 
ruchi c. 3 u. 6; Libri Sapientiae Salomonis c. 13 u. 14. — Ebenso die 
2 Bücher der Machabäer. — Diesen Zeugnissen schliesst sich das Neue 
Testament an: Actus Apost. c. 14, 10, besonders v. 14; I. ad Corinthios 
c. 8, 4—7; c. 10, 19 — 23; c. 12, 2; IL ad Corinthios c. 6, 16 — 18; I. S. Jo- 
hannis c. 5, 2 1 : T^Kva qpuXdHcTe ^auToO<; dirö tujv eiöuüXiüv. Filioli custodite 
vos a simulacris! „Kindlein, hütet euch vor den Götzen!" 



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- 63 - 

SO der Geschichte des Glaubensvolkes eingefügt, wie die Über- 
reste überwältigter Pflanzen- und Tierarten in manchem Gestein. 

Es bleibt dem Heidentum indessen immerhin ein sehr 
grosser Einfluss auf die Geschichte der Ofl'enbarung, da seine 
Erscheinungen ein Gegenstand des Widerspruches und des 
Widerstandes seitens der Ofl'enbarung wurden. Das Heidentum, 
zusammengehalten mit der Kulturgeschichte der von demselben 
beherrschten Völker wird hierdurch, teilweise wenigstens, sunt 
Zeitmasse für die Offenbarung. Diese ist an und für sich 
über der Zeit; aber insofern sie geistigen Bedürfnissen ent- 
spricht, welche durch diesen oder jenen Zeitgeist hervorgerufen 
waren (cf. Liber Sapientiae Salomonis), so muss sie bestimmte 
Epochen haben. Da ferner der heidnische Irrtum zum grossen 
Teil ein Suchen des sich selbst überlassenen Menschengeistes 
nach Wahrheit darstellte (cf. Actus Apostolorum c. 17, 23—32, 
besonders v. 27); so muss in der Aufeinanderfolge seiner 
Epochen ein Fortschritt sein. Dem menschlichen Geiste ist es 
nämlich unmöglich, ohne alles Gesetz eine bestimmte Form 
der Bildung zu * verlassen. Wie die versteinerten Tiere und 
Pflanzen in den Felsen der Berge in einer gewissen Ordnung 
aufeinander folgen: die weniger entwickelten zuerst, die voll- 
kommeneren später, so auch die Erscheinungen des Heidentums. 
Es herrscht ein Gesetz des Fortschrittes von dem mehr Äusser- 
lichen, Stofflichen zum Innerlichen, Geistigen und vom Viel- 
fältigen zum mehr Vereinfachten in dem Verlaufe jener grossen 
Religionsepochen, an welchen das Volk Israel der Reihe nach 
vorübergehen musste. (Cfr. Ciceronis „De natura Deorum" 
libri tres.) Darum dienen die Epochen der heidnischen Kultur 
von der Zeit an, dass wir sie geschichtlich festhalten können, 
nicht etwa bloss als zufällige Bezeichnung von Abschnitten in 
der Geschichte der Offenbarung, sondern auch als Mass für 
die Fortschritte der Zeit bis zu jener Grenze, über welche 
hinaus es nur Wiederholungen geben konnte, also bis zu jener 
Steigerung menschlicher Bildung, welche die hl. Schrift mit 
dem Namen ^Fülle der Zeit'' bezeichnet. (Cf. ad Galatas 4, 4; 
ad Ephesios 1, 10; I. ad Corinthios 10, 11; ad Hebraeos 9, 26.) 

Das ägyptische, phönizisch-babylonische, persische und 
spätere griechische Religionssystem folgen sich nach einem 
inneren Gesetze der Fortbildung, bis das letztgenannte sich 



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- 64 - 

zur Unmöglichkeit eines Fortschrittes auf geradem Wege 
steigert. 

Das ägyptische System ist von einem Naturkulte beseelt, 
den ein getrennt dastehendes, vom Glauben nicht unterstütztes 
Sittengesetz einzäunt. Der phantastische Naturkult steht hier 
unvereint und unnatürlich neben einem ziemlich reinen Sitten- 
gesetze in dualistischer Nebeneinanderstellung. 

Das phönisisch-syrische System, mit welchem das baby- 
lonische verwandt war, löst diesen Widerspruch dadurch, dass 
es die Sittlichkeit dem Naturkulte und den phantastischen 
Erscheinungen desselben zum Opfer bringt. 

Das persische System reinigt das Sittengesetz durch edle, 
angeborene, oder wie immer erhaltene Ideen und stellt das- 
selbe neben einen gereinigten Naturkult, in welchem ein gött- 
liches Wesen nahezu monotheistisch hervortritt. Dadurch 
kommt der ägyptische Dualismus wieder auf, aber vergeistigt. 

Bei den Griechen^) hält es zwar schwer, ein bestimmtes 
religiöses System festzustellen, da ihr geistiges Leben seit der 
Berührung mit den Persern die verschiedenartigsten Um- 
änderungen erlitten hat. Doch stehen drei Dinge fest: 

1. Die Griechen streifen immer mehr und mehr das Ausser- 
menschliche an der Naturreligion ab. Wenn auch an einzelnen 
Orten sich Mysterien erhielten (mysteria Attica, sacra Eleusina ; 
'EXeud? = Adventus: Ankunft), welche den phönizischen gleich- 
standen; so waren sie doch aus dem Leben der gebildeten 
Gesellschaft ausgeschlossen. Nur was menschenähnlich und 
menschlich war, konnte sich bei ihnen im Besitze göttlicher 
Verehrung erhalten. 

2. Jede materielle Vorstellung wird immer mehr von der 
Idee Gottes ausgeschlossen. Die Abstraktionen des menschlichen 
Geistes werden auf das Göttliche tibertragen. 

3. Jedes Sittengesetz, welches nicht klar und deutlich mit 
dem der damaligen menschlichen Natur übereinstimmte, hörte 



^) Die griechische Religion, welche wie jede heidnische die Natur- 
kräfte göttlich verehrte und in weiterer Fortbildung denselben auch sitt- 
liche Mächte anreihte, konnte sich wegen des Mangels einer eigentlichen 
Priesterschaft und heiliger Bücher nicht zu einer systematischen Einheit 
ausbilden. 



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- 65 - 

auf Geltung zu haben: Religion und Sittlichkeit gingen in der 
menschlichen Natürlichkeit auf^). 

Was Epicur zum System erhob, war als allgemeines 
Lebensgesetz schon vor ihm da und blieb auch nach ihm in 
Griechenland herrschend, selbst wo man die Philosophie nur 
dem Namen nach kannte. y,Die Götter Griechenlands^^ bedeuten 
daher innerhalb des Heidentums einen grossen Fortschritt 
gegen Moloch und Astarte der Phönizier, gegen die tierköpfigen 
Götter Ägyptens, und gegen die vielköpfigen und vielarmigen 
Götterfratzen der Indier. Wir haben hier nicht mehr die häss- 
lichen Symbole dämonischen Wahnglaubens vor uns, sondern 
menschlich edle Kunstgebilde, welche an sich schon einen 
grossen Kunstwert besitzen, Ihre Mythologie verwandelte sich 
in menschliche Poesie. Kenner behaupten, dass allen Statuen 
der Griechen eine gewisse Wehmut und Sehnsucht eingeprägt 
sei ('Atvüücjtuj 0€uj: „Dem unbekannten Gott". Actus Aposto- 
lorum 17, 23. Rede des hl, Paulus auf dem Areopage zu 
Athen). Cf. Baumgartner S. J., „Weltliteratur", III. Band, 3. u. 
4. Auflage, S. 10 f. Freiburg 1902. — Vgl. S. 29. 

Die griechischen Philosophen widersprachen sich zwar in 
vielen Schulfragen, aber darin waren sie eins: nur Menschen- 
ähnlichem oder Menschlichem zu huldigen. 

Auch war das Bestreben dahin gerichtet, im Menschlichen 
das Geistige hervorzuheben und das sittliche Verhalten des 



^) Darum sagt Marcus Antonius Muretus „Sardanapalus Assyriorum 
rex (668 — 626 a. Chr.) hoc epitaphium consecutus est: Ego rex fui, et 
quoad vixi comedi, bibi, voluptati operam dedi. quum scirem et brevem 
esse hominum vitam et multis mutationibus obnoxiam, et fructum bonorum, 
quae reliquissem, ad alios esse perventurum. Quare hoc facere nuUum diem 
intermisi." (M. A. Mureti Commentarii in Aristotelis Ethica; Operum 
Tom. III. p. 177 sq.) Lebensweisheit der vorchristlichen Welt: Sardanapal 
(Assurbanipal), König von Assyrien (668 — 626 v. Chr.) erhielt nachstehende 
Grabschrift: „Ich war König, und solange ich lebte, habe ich gegessen, 
getrunken und dem Vergnügen mich hingegeben. Denn ich wusste, dass 
der Menschen Leben nur kurz und vielen Veränderlichkeiten unterworfen 
ist; auch werden ja andere die Frucht meiner Mühen gemessen. Darum 
ich habe nach dieser Erkenntnis mein ganzes Leben eingerichtet." Ähnlich 
spricht sich Salomo aus: libri Ecclesiastae (Koheleth) c. 5, 17 — 19. Wir 
müssen nämlich alles Menschliche in der Schrift bezeugt finden, um die 
Offenbarung des Göttlichen in ihr nach Inhalt und Zweck ganz zu würdigen. 



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— 66 — 

Menschen auf seine Natürlichkeit zu gründen. So sehr sie 
daher im einzelnen voneinander abwichen, so trugen sie doch 
gemeinsam dazu bei, wenigstens seit Alexander dem Grossen, 
sich überall auf jenes Gesetz der Natürlichkeit zu stützen. Die 
Herrschaft, welche die griechische Bildung über den kultivierten 
Teil von Europa, Afrika und Asien bis an den Indus errang, 
war überall mit einem Siege über die Vorstellung von einer 
unmenschlichen und körperlichen Götterwelt und an ein anders- 
woher, als von der Natur des Menschen stammendes Sitten- 
gesetz verbunden. 

Die Natürlichkeit der Sitten artete in weiten Kreisen zur 
Sittenlosigkeit aus, und die Vergeistigung der Gottesidee führte 
zur Aufhebung derselben. Der Widerspruch, welchen die 
Stoiker (Zeno) gegen beide Extreme in Tat und Lehre erhoben, 
weckte den Zweifel der Akademie (Plato), durch welchen sich 
die Erschöpfung des menschlichen Geistes zur Erforschung der 
Wahrheit in göttlichen und menschlichen Dingen deutlich genug 
aussprach, um ,4i^ Fülle der ZeiP' su beseichnen. Da nahm 
das ewige Wort Gottes selber Menschengestalt an, damit der 
Zweifel überwunden und ein Grund su ewig dauernden Taten 
gelegt werde, „Quid est veritas?" („Was ist Wahrheit?"), 
fragte Pilatus vor Christus, dem Herrn. (S. Johannis Ev. 18, 
37 — 39.) Der Heiland sagte: „Ich bin in die Welt gekommen, 
um Zeugnis von der Wahrheit zu geben. Jeder, welcher aus 
der Wahrheit ist, höret meine Stimme!" Ibidem. „Ego sum 
via, veritas etvita!" ,Jch bin der Weg, die Wahrheit und das 
Leben /^^ L. c. cap. 14, v. 6. — Welche Festigkeit und Zuversicht, 
selbst in Banden! -— Unsicher und schwankend aber war das 
Heidentum, So sagt Cicero, nachdem er die Ansichten der 
einzelnen philosophischen Schulen über das Wesen und die 
Unsterblichkeit der Seele dargelegt hat: „Harum sententiarum 
quae sit vera, Deus aliquis viderit, quae veri simillima, magna 
quaestio est." Tusculanarum Disp. 1. I, c. 11, n. 23. 

Und ferner in seinem Werke über die Natur der Götter 
berichtet er : „Roges me, quid aut quäle sit Deus, auctore utar 
Simonide, de quo quum quaesivisset hoc idem tyrannus Hiero, 
deliberandi sibi unum diem postulavit; quum idem ex eo postri- 
die quaeret, biduum petivit ; quum saepius duplicaret numerum 
dierum admiransque Hiero requireret, cur ita faceret, 'Quia, 



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- 67 - 

quanto diiUius considero' inquit^ *tanto mihi res videtur ob- 
scurior\ Sed Simonidem arbitror (non enim poeta solum suavis, 
verum etiam ceteroqui doctus sapiensque traditur), quia multa 
venirent in raentem acuta atque subtilia, dubitantem, quid eorum 
esset verissimum, desperasse omnem veritatem" („Quid est 
veritas?" Frage des Pilatus). „De natura Deorum" 1. 1, c. 22. 

„Die Meinungen der einzelnen Philosophen gehen so sehr 
auseinander, — dass nur Gott entscheiden kann, welche von 
ihnen die wahre ist; welche aber der Wahrheit am nächsten 
kommt, darüber besteht unter uns eine grosse Streitfrage.** 

„Du fragst mich nun vielleicht: 'was ist Gott, oder wie ist 
Gott? Zur Beantwortung werde ich mich auf Simonides be- 
rufen. Als derselbe nämlich von dem Tyrannen Hiero von 
Syracus (in den Tagen der Perserkriege) ganz über die näm- 
liche Angelegenheit befragt wurde, bat er sich einen Tag zur 
Bedenkzeit aus. Als dieser verstrichen war, begehrte er zwei 
Tage zur Überlegung; hierauf fuhr er fort die Bedenkzeit jedes 
Mal zu verdoppeln. Als nun Hiero voll von Verwunderung 
nach der Ursache forschte, gab Simonides zur Antwort: ,Je 
länger ich über diesen Gegenstand nachdenke, desto dunkler 
erscheint er mir/' Aber ich halte dafür, sagt Cicero, dass 
Simonides, ein so angenehmer Dichter und übrigens ein ge- 
lehrter und weiser Mann, zwar manche scharfsinnige und vor- 
treffliche Ansicht in seinem Geiste trug, aber in der Ungewiss- 
heit, welche von denselben der Wahrheit entspreche, an aller 
Wahrheit versweifelteJ' „Was ist Wahrheit?" fragt Pilatus; — 
der Heiland gibt uns die Antwort: „Ich bin die Wahrheit!** 

Cf. Evgl. S. Johannis c. 18, 37 u. 38; c. 14, 6. 

Nachdem wir nun die Vorzüglichkeit des Inhaltes der 
hl, Schriften besprochen haben, wollen wir jetzt das hohe Alter 
derselben erwägen. 

Die Grundlage des ganzen biblischen Gebäudes, nämlich 
der Pentateuch, gehört zu den ältesten Büchern der ganzen 
Welt. Die fünf Bücher Moses, in welchen die ältesten Nach- 
richten über die gesamte Menschheit wahrheitsgetreu und frei 
von allen Fabeln enthalten sind, haben ein höheres Alter nicht 
bloss als alle sonstigen Geschichtsbücher, sondern auch als 
alle bekannten mythologischen, mythischen und poetischen 
Bücher. 



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— 68 ^ 

Die heiligen Bücher Indiens, Chinas, Persiens, Ägyptens, 
Griechenlands, Italiens und der nordischen Völker sind allzumal, 
in der Form, in welcher sie auf uns gekommen sind, jünger 
als die Bücher Moses. 

Die Vedas der Indier reichen in ihrer Entstehung bis zum 
14. Jahrhundert vor Christus. (Cfr. Lenormant „Histoire de 
l'ancien Orient." Tom. III, § 206.) Sie wurden im 4. Jahrhundert 
V. Chr. von Yasa gesammelt und veröffentlicht. 

Die Kings der Chinesen wurden teils verfasst teils revi- 
diert und publiziert durch Konfuzius, welcher um das Jahr 479 
vor der christlichen Zeitrechnung starb. Der Tao-te-King ist 
das Werk des Laotseu, eines chinesischen Philosophen (chine- 
sischer Plato). 

Der Avesta der Perser (der Guerbern und Parsis) ist in 
seinem 1. Teile, dem Vendidat-Sade^ alt und wird dem Zoro- 
aster zugeschrieben, welcher im 6. Jahrhundert vor unserer 
Zeitrechnung, unter Darius, dem Sohne des Hystaspis, lebte. 

Die letzte Redaktion desselben geschah, wie angenommen 
wird, im 4. Jahrhundert nach Christus, unter Sapor IL, dem 
Könige von Persien (309 — 380). Jedoch wird es sicherer sein, 
hierfür die Zeit vom 4./5. Jahrhundert anzusetzen, in welcher 
die Sassaniden als Förderer des Vesta zu nennen sind. 

Was die hermetischen Bücher der Ägypter betrifft, so sind 
sämtliche, welche irgend eine Wichtigkeit hatten, verloren 
gegangen, bis auf eines, das vollständig erhalten ist, das Buch 
Pimander, welches wir aber nur in griechischen und lateinischen 
Übersetzungen besitzen. 

Das Totenbuch der Ägyptier beschreibt die Schicksale der 
Seele nach ihrem Ausscheiden aus dem menschlichen Körper. 
Dasselbe reicht in gewissen Abschnitten bis in die l. und 4. 
Dynastie hinauf. Viele Kapitel desselben finden sich auf 
Monumenten, welche noch vor dem Einfalle der Hyksos (um 
2100 vor Christus) errichtet wurden. Man pflegte auch ein 
mehr oder minder vollständiges Exemplar dieses Buches in 
die Mumienschreine niederzulegen. (Cf. Dr. Macke „Vom Nil 
zum Nebo", Anmerkung zum 8. Gesänge, S. 425; Heiligenstadt 
bei Cordier 1894.) 

Das sog. Schöpfungsepos su Babylon oder vielmehr die 
Bruchstücke mehrerer Schöpfungssagen sind sehr alt. Die 



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- 69 - 

Zeit seiner Abfassung kann nicht genau bestimmt werden. 
Abschriften desselben gibt es aus der Zeit des Königs Assur- 
banipal (Sardanapal), welcher von 668 bis 626 vor Christus 
regier^te. Prälat Kaulen (Bonn) sagt, die älteste Literatur 
Babylons enthalte die Uroffenbarung in heidnisch entstellter 
Weise. (Kirchen-Lexikon I. Band, S. 1807.) 

Auch die vor einigen Jahren zu Susa in Persien auf- 
gefundenen Gesetse HammuräbiSy des biblischen Amraphel 
(Genesis 14, 1 sq.) besitzen ein hohes Alter (2250 v. Chr.) siehe 
Vorrede S. XVI sq. Die Übereinstimmung der Thora mit den 
Vorschriften Hammurabis in manchen Gesetzbestimmungen lässt 
sich sehr gut aus einer gemeinsamen Urquelle erklären, näm- 
lich aus dem ursemitischen Gewohnheitsrechte, welches schon 
jahrhundertelang bei den Israeliten in Übung war, ehe es 
durch Moses im göttlichen Auftrage neu eingeschärft und 
schriftlich niedergelegt wurde. Es sind eben Rechtsanschau- 
ungen, welche dem ganzen alten semitischen Orient, und in 
den allgemeinen Zügen wohl der gesamten alten Menschheit 
zu eigen waren. 

Die Theogonie des Hesiod steigt höchstens bis zum 8. Jahr- 
hundert vor der christlichen Zeitrechnung hinauf. 

Die Edda der Skandinavier ist eine Sammlung, welche 
im 10. oder 11. Jahrhundert nach Christus, 50 Jahre vor der 
Einführung des Christentums daselbst, in Island erschienen ist. 

Indem wir diese allgemein anerkannten Tatsachen an- 
führen, sind wir weit entfernt, zu leugnen, dass die Vedas, die 
Kings, der Avesta, die Bücher des Hermes, so wie sie auf uns 
gekommen sind, in ihren ältesten Bestandteilen auf früheren 
Dokumenten beruhen, welche wahrscheinlich bis in jene Zeiten 
zurückdatieren, als die heidnischen Mythen anfingen, die Ur- 
offenbarung zu entstellen. Allein die Genesis ist, wie wir klar 
sehen werden, die feierliche Protestation der geschichtlichen 
Wahrheit gegen diese heidnischen Entstellungen, und sie ist in 
dem wesentlich unversehrten Zustande, in welchem wir sie 
besitzen, um Jahrhunderte älter, als alles, was von den heid- 
nischen Mythen schriftlich auf uns gekommen ist*). Selbst die 



^) Über die Genesis bezw. Pentateuch in der wesentlich unver- 
änderten Gestalt und unversehrtem Zustande handelt Prof. Dr. Gottfried 



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— 70 — 

rationalistische Kritik eines Renan (Etudes — Histoire du peuple 
dlsrael) muss bekennen, dass der Pentateuch Urkunden ent- 
hält, welche uns gans nahe sunt Ursprung des Menschen- 
geschlechtes hinführen. Solche Zugeständnisse sind nur durch 
die Evidenz erpresst. 

Das Gesagte gentigt, um das höhere Alter der Grundlage 
der Bibel vor allen mythologischen Büchern darzutun. Über 
das, was die alte Profan Geschichte im Orient und Okzident 
Geschichtliches überliefert hat, wollen wir den berühmten Cuvier 
hören: 

Kein abendländisches Volk geht mit seiner Zeitrechnung, 
sagt er, ununterbrochen über 3000 Jahre (d. i. etwa in das Zeit- 
alter Salomons: 1015 a. Chr.) zurück. Kein einziges derselben 
kann aus diesem oder auch nur einem 200 — 300 Jahre späteren 
Zeiträume eine zusammenhängende Reihenfolge auch nur einiger- 
massen glaubhafter Tatsachen aufweisen. Die Geschichte des 
Nordens von Europa beginnt erst mit dessen Bekehrung zum 
Christentume ; die Geschichte Spaniens, Galliens (Frankreichs), 
Englands fängt erst mit den Eroberimgen der Römer an; die 
Geschichte des nördlichen Italiens vor der Gründung Roms (753 
a. Chr.) ist heute noch fast gänzlich unbekannt. 

Die Griechen versichern, dass sie die Kunst zu schreiben 
erst von den Phöniziern erhielten (Cadmus, Sohn des phönikischen 
Königs Agenor, Bruder der Europa, gründete Theben in Boiotien 
und brachte ein Alphabet von 16 Buchstaben nach Griechen- 



Hoberg in seinem Werke „Z>/> Genesis nach dem Litteral- Sinne erklärt". 
Einleitung S. XIX. Freiburg im Breisgau bei Herder 1899. Er führt 
darin aus, dass die fünf Bücher Moses in den alten Zeiten nur hand- 
schriftlich vervielfältigt wurden. Bei diesem Verfahren ^sei es allerdings 
nicht ausgeschlossen und gar nicht zu vermeiden gewesen, dass durch 
Versehen der Abschreiber einige kleine, aber unwesentliche Veränderungen 
im Texte des Pentateuchs sich eingeschlichen hätten. Derselbe Professor 
behandelt das alte, aber immer noch sehr aktuelle Thema: Moses und 
der Pentateuch in einer neuen 1905, Freiburg, Breisgau, erschienenen Schrift. 
Die Lösung: „Wir haben einen mosaischen Pentateuch, aber nicht eine 
von Moses, sondern von Esdras veranstaltete Ausgabe'*, scheint zwar neu 
zu sein; sie stimmt aber mit der Auffassung, welche die jüdische und 
christliche Überlieferung bis zum 18. Jahrhimdert einmütig vertreten hat, 
vollkommen überein. (Prof. Dr. Selbst zu Mainz.) 



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— 71 — 

land. So nach Plinius 7, 56, 57, § 192 Hist. Naturalis) M ; also 
vor 3300—3400 Jahren. Aber auch noch lange Zeit nachher 
ist ihre Geschichte voller Fabeln, und sie selbst verlegen die 
ersten Spuren ihrer Vereinigung zu Völkerschaften kaum 
300 Jahre früher. Die Einwanderung der Dörfer nach dem 
Peloponnes wird um das Jahr 1104 v. Chr. gesetzt. Als ein 
geschichtlich bezeugtes Jahr in der griechischen Zeitrechnung 
gilt 776 V. Chr.: das erste Jahr der ersten Olympiade. Mit 
diesem beginnt eine feste, historisch beglaubigte Datierung 
der Tatsachen. 

Von der älteren Geschichte des westlichen Asiens haben 
wir nur spärliche und widersprechende Nachrichten, welche 
erst etwa um 650 Jahre v. Chr. oder 2500 Jahre vor uns einigen 
Zusammenhang gewinnen ; aber wenn man auch die Nachrichten 
nimmt, welche als die ältesten gelten und einige geschichtliche 
Einzelheiten melden, so kommen wir kaum bis ins 4. Jahrtausend 
vor uns, oder in das Jahr 1250 v. Chr. (Nach Volney, welcher 
sich auf Herodot stützt.) 

Der erste Profan-Schriftsteller, von dem wir noch Schriften 
hesitseny Herodot, ist nicht 2300 Jahre alt, er starb um das 
Jahr 406 v. Chr. Die früheren Geschichtschi eiber , welche 
er zu Rate ziehen konnte, Cadmus, Pherekydes, Aristeus 
von Prokones, Achesilaus, Hekataeus von Milet, Charon 
von Lampsakos, Nikolaus von Damaskus usw. sind um kein 
Jahrhundert älter als er. Über ihren Wert kann man aus 
den Abenteuerlichkeiten urteilen, welche wir in einigen Aus- 
zügen aus Aristeus von Prokones und einigen anderen noch 
besitzen. 

Vor diesen Geschichtschreibern haben wir nur Dichter, 
und Homer, der älteste^ welchen wir noch besitzen, und das 
Vorbild des ganzen Abendlandes, hat nicht mehr als 2700 oder 
2800 Jahre vor uns gelebt. Er lebte nach einigen im 9. Jahr- 
hundert V. Chr. (vgl. Herodoti Historiarum 1. IL, c. 53), wie 
auch Cicero (Tusculanarum Disp. 1. V., c. 3, n. 7) sagt: „. . Lycur- 
gus, cujus temporibus Homerus etiam fuisse ante hanc Urbem 
conditam traditur.** Die Überlieferung verkündet uns, dass 
Homer zur Zeit des Lycurgus (Sparta) gelebt habe. „Lycurgue 

^) Cf. Josephi Flavii 1. contra Apionem 1. I. c. 2. (Cadmus.) 

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-* 72 - 

florissait en huit cent quatre-vingt (et Solon six cent cinquante) 
ans avant J6sus-Christ.** (Dr. Heinrich Knebel.) Lycurgos 
blühte um das Jahr 880 vor Christi Geburt. Die Ausgestaltung 
der homerischen Gesänge wird in das 8. Jahrhundert und die 
schriftliche Aufzeichnung derselben um 540 a. Chr. in die Regie- 
rungszeit des Peisistratos (600 — 547) verlegt. — Der Geschicht- 
schreiber Theopompos aus Chios und der Grammatiker Eupho- 
rion aus Chalkis setzen das Leben des Homer in die Zeit von 
724—686. — Dr. Engelbert Drerup in seinem Buche über 
Homer (München 1903, Kirchheimsche Verlagsbuchhandung) 
Seite 37, nimmt an, die erste schriftliche Aufzeichnung der 
nach Homer benannten Gesänge sei bereits im 9./8. Jahrhundert 
V. Chr. geschehen, da die phönizische Buchstabenschrift im 
10. /9. Jahrh. v. Chr. von den Griechen übernommen worden 
sei, ohne jedoch die Feststellung und Rezeption einer attischen 
Homer-Ausgabe unter Peisistratos leugnen zu wollen. Eine 
genauere Zeitbestimmung hierin hält auch er für unmöglich. 

Wenn die ersten Geschichtschreiber von alten Ereignissen 
ihres Volkes reden, so berufen sie sich auf mündliche Über- 
lieferungen und nicht auf öffentliche Denkmäler und Werke. 
Die angeblichen Auszüge aus ägyptischen, phönizischen und 
babylonischen Annalen sind weit jünger, als sie. 

Berosus schrieb erst unter Seleucus Nicanor; Hieronymus 
unter der Regierung des Antiochus Soter; Manetho unter der 
Herrschaft des Ptolomäus Philadelphus, und war Oberpriester 
in Ägypten. Sie sind also alle drei erst aus dem 3. Jahr- 
hundert vor Christus. Mag Sanchuniathon ein wirklicher oder 
ein unterschobener Schriftsteller sein ; man lernte ihn erst kennen 
als Phyton von Byblos unter Kaiser Hadrian, im zweiten Jahr- 
hundert n. Chr., eine Übersetzung von ihm veröffentHchte ; 
und, wenn man ihn früher gekannt hätte, man hätte in ihm, 
wie in allen übrigen Schriftstellern jener Zeit, über die ältesten 
Zeiten nichts anderes gefunden, als eine kindische Theogonie^ 
oder, wenn man will, eine Metaphysik, welche dergestalt 
unter Allegorien verhüllt ist, dass man sie nicht entziffern 
kann. Nur ein Volk hat uns aus der Zeit vor Cyrus in Prosa 
^^scÄr/^ft^//^ Annalen aufbewahrt; es ist das jüdische Volk. Jener 
Teil des alten Testamentes, welchen man den Pentateuch (die 
5 Bücher Moses) nennt, existiert in seiner gegenwärtigen Gestalt 



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- 73 - 



mindestens vor der Spaltung unter Jerobeam (975 a, Chr.), weil 
denselben auch die Samariter, geradeso wie die Juden, aner- 
kennen. *) Er ist gegenwärtig in jedem Falle mehr als 2800 
Jahre alt. 



1) Die Tradition der Samariter spricht sich unbedingt für die Ab- 
fassung des Pentateuchs durch Moses aus. Dieselbe hat um so höheren 
Wert, je älter sie ist. Der Pentateuch in Samaria ist nicht zurückzuführen 
auf den Priester, welcher nach dem Falle der Stadt Samaria {jzz) zuerst 
nach Assyrien deportiert und dann in die Heimat zurückgesandt wurde, 
noch weniger auf den abtrünnigen Manasses, welcher den Tempel auf dem 
Berge Garizim erbaute (vgl. Jos. Flavii Antiq. 1. ii, c. 8; 1. 13, c. 9, n. i); 
sondern, der Pentateuch ist in dem Zehn-Stämme-Reich immer bekannt 
gewesen, mochte auch die Befolgung seiner Gesetze dort meistens sehr 
mangelhaft sein. Die Samariter waren die mit heidnischen Kolonisten 
vermischten Nachkommen aus dem Reiche Israel; das israelitische Volks- 
element behielt bei ihnen die Oberhand. Daher repräsentiert ihre Tradition 
eine Ansicht ausserhalb des Reiches Juda, welche bis in die Zeit Roboams 
(975 a. Chr.) hinaufreicht. (Vgl. Gottfried Hoberg „Die Genesis nach dem 
Litteral-Sinne erklärt", S. XVI. der Einleitung, n. 2, Freiburg (Breisgau) 
bei Herder 1899.) 

Auch nach der Spaltung des Reiches (975) wurden Abschriften des 
Mosaischen Gesetzbuches im Reiche Israel aufbewahrt, und von dieser 
Zeit an wachten für die unversehrte Erhaltung seines Textes beide sich 
mit feindlichen Augen beobachtende Staaten. Der uns noch vor Augen 
liegende samaritanische Text mit seinen alt-semitischen, phönizischen Schrift- 
zeichen stimmt daher auch seinem Inhalte nach im wesentlichen mit dem 
hebräischen überein. Von einzelnen abweichenden Stellen nennen wir die- 
jenige besonders, welche von den Samaritern zugunsten ihrer Religions- 
meinung absichtlich verändert worden ist. In dem 5. Buche Moses 
(Deuteronomium) c. zy, v. 4 und 5 haben sie das Wort „Ebal" in 
„Garizim" umgeformt, um dadurch ihre Behauptung zu rechtfertigen, dass 
Gott auf dem Berge Garizim verehrt werden müsste. „Wenn ihr nun 
über den Jordan gesetzt habet, so errichtet Steine, wie ich euch heute 
befohlen, auf dem Berge Hebal (so nach dem hebräischen, „Garizim" 
nach dem samaritischen Texte) und bestreichet sie mit Kalk. Auch erbauet 
daselbst einen Altar dem Herrn, deinem Gotte, aus Steinen, welche kein 
Eisen berührt hat." (Vgl. Evangelii S. Johannis c. 4, 20.) Der Reisende 
Pietro della Valle (1586 — 1652) brachte im Jahre 1616 eine Handschrift 
des samaritischen Textes aus Damaskus nach Europa. Eine Übersetzung 
desselben in den aramäischen Volksdialekt besorgte der Priester Nathanael 
im Jahre 20 v. Chr. In neuerer Zeit veranstaltete Petermann (1872) zu 
Berlin eine Textes- Ausgabe des samaritischen Pentateuchs. 



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— 74 - 

Es gibt übrigens keinen hinreichenden Grund, weshalb 
man seine Abfassung nicht dem Moses selbst zuschreiben 
sollte, wodurch er ein Alter von 500 Jahr mehr oder im ganzen 
von 3300 erhält.») 

Man kann daher in keiner Weise daran zweifeln, dass 
der Pentateuch das älteste Buch ist, welches unser Abendland 
besitzt. (Cf. Cuvier „Discours sur les r^volutions du globe". 
6me Edition, p. 171 sq.) 

Allein die Genesis (resp. Pentateuch) ist nicht bloss das 
älteste Buch des Abendlandes, sondern gehört ohne Zweifel 
zu den ältesten Büchern der ganzen Welt. Cuvier beweist es 
in demselben Werke „Über die Umwälzungen der Erdkugel**, 
indem er alles durchgeht, was wir aus Indien, Ägypten, Chal- 
däa, Persien, Armenien, Arabien und China an geschichtlichen 
Dokumenten besitzen, wenn man anders so Schriften nennen 
will, in welchen einige Tatsachen mit einem Schwalle prah- 
lerischer Dichtungen der orientalischen Phantasie vermischt 
sind. Als vollberechtigter Schluss dieser gelehrten Unter- 
suchung ergibt sich, dass Herodot nicht nur der älteste unter 
allen Profanschriftstellern des Okzidentes, sondern der ganzen 
Welt, und mithin wahrhaft der Vater der Profangeschichte ist; 



^) Der Satz : Moses hat den Pentateuch verfasst, ist nicht so zu ver- 
stehen, als ob jedes Wort, jeder Versteil oder jeder Vers ohne Ausnahme 
von Moses herrühre; sondern die Wahrheit von der Urheberschaft des 
Pentateuchs hat folgenden Sinn: Der Pentateuch ist das Produkt der 
religiösen Entwicklung unter dem Offenbarungs- Volke von Moses bis auf 
die Zeit nach dem babylonischen Exil auf Grundlage der von Moses 
geschriebenen Bestimmungen, welche dem Räume und der Bedeutung nach 
den weitaus grössten Teil des alttestamentlichen Gesetzbuches ausmachen. 
(Nach Hoberg „Die Genesis nach dem Litteral-Sinne erklärt", Einleitung 
S. XXVII., Freiburg, Breisgau, 1899, bei Herder.) 

Zusätze und Erweitemngen sind wahrzunehmen : Deuteronomium c. 34, 
in welchem das Lebensende des Moses beschrieben wird, wahrscheinlich 
von Josua herrührend; Buch Josua c. 24, 25 und 26: „Sonach schloss 
Josua an diesem Tage einen Bund, und legte dem Volke Gebote und Rechte 
in Sichem vor. Auch schrieb er alle diese Worte in das Gesetzbuch des 
Herrn." Erstes Buch der Könige c. 10, v. 25 : „Samuel verkündete dem Volke 
das Gesetz über die Königs würde, und schrieb es in ein Buch (Urkunde 
im Sinne des fünften Buches Moses, c. 17, v. 14 — 20), und legte es nieder 
vor dem Heim." 



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- 75 - 

dass aber Moses 1000 Jahre vor ihm schrieb^ der Pentateuch 
daher offenbar das älteste Denkmal der Geschichte der ganzen 
Menschheit ist; und dass alles, was die Kritik aus den fabel- 
haften Träumereien des Orientes als geschichtliche Überreste 
ausscheidet, nur neue Beweise für die Wahrheit der einfach 
grossen Erzählung der Genesis liefert. 

Was Cuvier im vorstehenden sagt, ist mit der nötigen 
Einschränkung auf Ägypten („Toten-Buch**), Babylon und 
Assyrien („Schöpfungsepos", „das Gesetz des Hammurabi** usw.), 
auch noch jetzt im ganzen und grossen festzuhalten. 

Nun liefern die assyrisch-babylonischen Keilschriften, 
welche der Abfassung der fünf Bücher Moses vielleicht um 
mehrere Jahrhunderte vorausgehen, gerade in ihrem bedeutend 
höheren Alter, das sie der Uroffenbarung noch näher rückt, 
eine glänzende Bestätigung für die Wahrheit der hl. Schrift, 
weil sie unabhängig von ihr entstanden sind. Wie Prälat 
Kaulen sagt, enthält die älteste Literatur Babylons die Ur- 
offenbarung in heidnisch entstellter Weise zwar, aber doch so 
deutlich, dass sie noch zu erkennen ist. 

Wenn nun der Pentateuch gemäss der Zeit seiner Ent- 
stehung zu den ältesten Büchern der Welt gehört, so ist er 
der Natur der Dinge nach, welche er erzählt, das erste Buch 
der Welt. 

Die heiligen Bücher des Orientes, Ägyptens, Griechenlands 
haben alle miteinander einen vorherrschend nationalen Charakter. 
Das Vaterland verschlingt dort alles: Erde und Himmel, die 
Geschichte der Menschen und Götter. 

Ähnlich verhält es sich mit den Geschichtsbüchern des 
heidnischen Altertums, Die Geschichtschreiber, welche uns 
mehr oder minder umfassende Geschichten hinterlassen haben, 
haben die Einheit des Menschengeschlechtes und folglich die 
Einheit der Weltgeschichte völlig aus dem Auge verloren und 
vergessen. 

Sie waren nicht imstande, die verschiedenen Zweige der 
Völker und ihrer Geschichte^ wie es die Genesis tut {y^ Völker- 
Tafel^^ der Genesis c. X. und XL), mit ihrem gemeinsamen Stamme 
und dessen Wurzel su verbinden. Sie Hessen das grosse Bild 
der Zerstreuung der Menschen und des Ursprunges der verschie- 
denen Völker, worüber Moses allein Licht verbreitet, in völligem 



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- 76 ^ 

Dunkel (Genesis c. XI., v. S sqq.). Sie haben den Faden ver- 
loren, welchen uns die Bibel an die Hand gibt, und an dem 
wir, ohne uns zu verirren, das Labyrinth der Zeiten durch- 
wandern können. 

Herodot macht Griechenland zum Mittelpunkte. Der Erste, 
welcher mit den Griechen in Begehungen trat, war Krösus, 
der König von Lydien; daher die Geschichte dieses Königs und 
seines Volkes. Krösus wurde besiegt durch Cyrus, den König 
der Perser; daher die Geschichte des Cyrus, der Perser und 
Meder, Kambyses, der Sohn des Cyrus, fiel in Ägypten ein; 
daher die Geschichte Ägyptens und seiner Nachbarländer: 
Äthiopien und Lybien. Darius, der Sohn des Hystaspes und 
Nachfolger des Kamb3'^ses, bekriegte die Skythen; daher die 
Geschichte der Skythen und Indier. Darius und sein Sohn 
Xerxes drangen in Griechenland ein; daher eine sehr genaue 
Geschichte der griechischen Völker und ihrer Sitten — das 
ist der Plan des Herodot. 

Diodor von Sisilien^ vierhundert Jahre nach Herodot, unter 
der Herrschaft des Cäsar und Augustus, schrieb eine allgemeine 
Geschichte in 40 Büchern. Die 3 ersten handeln von den alten 
Geschichten der Barbaren: die 3 folgenden von denen der 
Griechen bis zum trojanischen Kriege; die dann folgenden 11 
Bücher beschreiben die Zeiten bis zu Alexander dem Grossen; 
die 23 letzten Bücher gehen von da an bis 60 Jahre v. Chr. 
Was die Zeit vor dem trojanischen Kriege betrifft, so sagt er, 
dass man hierüber nichts Sicheres wissen könne, da keine 
einzige authentische Urkunde aus jener Zeit vorhanden sei. 
Er rechnet vom trojanischen Kriege bis zur 180. Olympiade, 
oder dem 60. Jahre v. Chr., 1128 Jahre; das würde diesen 
teils mythischen teils geschichtlichen Krieg ungefähr in die 
Zeit Jephtes, des Richters in Israel, verlegen. (Cf. im folgen- 
den die Parallele zwischen Iphigenia, Tochter des Agamemnon, 
und der Tochter des Jephte.) Die Geschichte Diodors nimmt 
daher nach der eigenen Erklärung ihres Verfassers für die 
ältesten Zeiten keine Glaubwürdigkeit in Anspruch. 

Trogus PompejuSy ein Gallier von Geburt, hat gleichfalls 
unter Augustus eine Art von Weltgeschichte geschrieben; es 
ist aber nur ein kleiner Auszug davon durch lustinus auf uiis 
gekommen. 



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— 77 — 

Appiaffy ein Grieche aus Alexandrien, hat zwei Geschichts- 
werke verfasst, welche in gewissem Sinne als allgemeine 
Geschichte bezeichnet werden können. Die eine begann mit 
dem trojanischen Kriege und endete mit der Zeit Trajans, 
unter dessen Regierung er lebte; die andere umfasste die 
Geschichte aller Völker, welche die Römer sich unterworfen 
hatten. Wir besitzen von dem einen, wie von dem anderen, 
nur einzelne Bücher. Die übrigen Geschichtschreiber, welche 
ganz oder teilweise auf uns gekommen sind, haben nur 
Partikular-Geschichien geschrieben. Xenophon das Leben des 
Cyrus; Arrian und Quintus Curtitis den Eroberungszug Alexan- 
ders des Grossen ; Thukydides den ungefähr 30 jährigen Krieg 
zwischen Athen und Sparta, welcher unter dem Namen des 
poloponnesischen Krieges bekannt ist. Livius und Dio Cassius 
schrieben eine römische Geschichte von dem Ursprünge Roms 
bis auf ihre Zeit; ersterer unter Caesar Augustus, letzterer 
unter Alexander Severus; Dionysius von Halicarnassus die 
Altertümer dieser Geschichte; Polyhius die Periode vom An- 
fange der punischen Kriege bis zum Ende des macedonischen 
Krieges; Sa//«s//^s zwei einzelne Ergebnisse: die Verschwörung 
des Catilina und den Krieg mit Jugurtha. Julius Caesar die 
Denkbücher seiner eigenen Kriege; Suetonius die Lebens- 
geschichte der zwölf ersten Kaiser; Tacitus die Geschichte der- 
selben und noch einiger anderen. Hierzu kann man noch den 
Sträbo rechnen, welcher am Beginne der christlichen Zeit- 
rechnung (t 24 n. Chr.) eine geschichtliche Geographie der 
damals bekannten Welt verfasste, und PausaniaSy welcher 
2 Jahrhunderte später eine wissenschaftliche Reise in Griechen- 
land beschrieben hat. (Cf. Rohrbacher „Historie universelle*' I., 20.) 

Man sieht, die Schriftsteller des heidnischen Altertums 
erzählen die Geschichten der Völker und ihrer Herrscher. Moses 
allein berichtet die Geschichte^ und zwar die Urgeschichte der 
ganzen Menschheit y und, nachdem er uns bis zur Quelle des mäch- 
tigen Stromes der Generationen zurückgeführt hat, zeigt er uns 
noch das gewaltige Schauspiel der Zerteilung seiner Wasser 
(Genesis c. XL, v. 8 sqq.). Durch die Genesis allein sind wir im- 
stande (wie die Völkertafel c. X. und XI. beweist), mit Sicherheit 
zu unterscheiden, was von den Mythen der Ägypter, Indier 
und Chinesen usw. über ihre Ursprünge geschichtlich ist. 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 7 



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- 7« - 

Die ganze Bibel, dieses in all seinen Gliedern vollkommen 
harmonische Ganze, von welchem die Genesis die Grundlage 
ist, enthüllt uns sofort auch den ganzen Weltplan Gottes in 
der Ordnung und Abfolge der Jahrhunderte; sie zeigt uns die 
wunderbare Einheit dieses Planes, indem sie uns jenes Band 
offenbart, durch welches die Geschlechter und Zeiten an Den 
geknüpft sind, der sie erschuf in seiner Macht (Ad Hebr. 1, 2), 
sie regiert in seiner Weisheit (Ad Hebr. 11,3), sie erlöste in 
seiner Schwachheit („Qui creavit nos virtute sua, et redemit nos 
infirmitate sua" S. Augustinus), und sie richten wird in seiner 
Herrlichkeit (Apocal. I, et alibi). Die Schöpfung, die Erlösung, 
das Gericht, sind der Anfang, die Mitte und das Ende der 
Zeiten und ihrer Geschichte, Daniel hat im Voraus prophetisch 
(II., 31 sq.) die Reihenfolge der Weltreiche und die allgemeine 
Hinbewegung der Welt zur ersten Ankunft des Erlösers und 
dem geistigen Weltreiche geschildert, durch welches das Reich 
der Gewalt überwunden werden wird; und fohannes (Apocal. 
XII., 3 sq.) beschreibt im voraus die Kämpfe der Kirche gegen 
die feindlichen Gewalten bis zu jenem Tage, an welchem allem 
Kampfe ein Ende gemacht wird durch die Ankunft des unsterb- 
lichen Königs der Zeiten und der Ewigkeit. (Apocal. XIX., 11 sq.) 

So ist die Bibel das erste aller geschichtlichen Denkmale, 
nicht bloss durch das Altertum des Pentateuch, welcher ihre 
Grundlage bildet, sondern auch durch die Erhabenheit, die 
Tiefe, den Reichtum und die majestätische Einheit ihres Inhaltes. 
Gott, der Herr, hat seinen hl. Schriften ein Merkmal vorbehalten, 
welches keinen Einwand duldet: es ist die Wechselbeziehung 
der beiden Testamente zueinander. Niemand kann bestreiten, 
dass das alte Testament lange vor dem neuen geschrieben worden 
ist. Mehr bedarf es nicht. Durch die Vergleichung nämlich 
beider Testamente wird der Beweis geführt, dass sowohl das 
eine, als auch das andere einen göttlichen Charakter besitzt : sie 
haben beide denselben Zweck und denselben Verlauf; das eine 
bereitet die Vollendung vor, welche das andere uns zeigt und dar- 
legt; das eine legt die Grundmauern, das andere führt das Gebäude 
auf; kurz, das eine enthält in der Vorhersagung, was das andere 
als erfüllt uns darstellt. So sind alle Zeiten in Einem Garnen 
vereinigt, und es ist ein ewiger Plan der göttlichen Vorsehung uns 
enthüllt. Ein solcher Zusammenhang in Wort und Tat, zwischen 



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— 79 - 

Vorbild und Erfüllung, übersteigt jedes menschliche Können 
und Ersinnen. Es kann nur die Folge sein von einer gött- 
lichen Führung in der Geschichte, wie in der Geschicht- 
schreibung ; nur das Werk einer Weisheit, welche über allen 
Zeiten, einer Allmacht, welche über allen Menschen waltet. 
Hierin liegt das unmittelbare Gotteszeugnis für die Wahrheit des 
alten und neuen Testamentes als Schriften aus und nach dem 
Geiste Gottes. (Cf. Bossuet „Discours sur l'histoire universelle'* 
part. II. in fine; und „Libre examen de la v6rit6 delafoi" und 
„Christ et les Antichrists** par Msgr. Tabb^ V. Dechamps.) 

Im vorhergehenden Teile, Seite 56 (11. Aufl.) haben wir 
gesehen, dass die Geschichte der alttestamentlichen Offen- 
barung zugleich auch die Geschichte Israels selbst ist. Dieses 
Volk hatte nun den Beruf, mit allen Kultur-Perioden und Kultur- 
Systemen der ganzen alten Welt in gewisse Beziehung zu 
treten. Es konnte daher nicht ausbleiben, dass, wie die Israeliten 
die Mythologien und den Götzendienst der heidnischen Völker 
kennen lernten und zuweilen sogar nachahmten; so auch die 
Heiden ihrerseits durch die vielfache Berührung mit dem 
Bundesvolke eine Kunde von den biblischen Offenbarungen 
und religiösen Gebräuchen desselben erhielten, und daher 
manches von diesen Einrichtungen für ihre eigenen Zwecke 
verwendeten *). 

An der Hand der Ur-Offenbarung nämlich, welche ein 
gemeinsames Erbgut aller Völker bei der Trennung auf der 
Ebene von Sennaar bildete (Genesis c. 11), und die in bezug 
auf ihre allgemein gültigen Bestandteile durch die mosaische 
Gesetzgebung nur ihre zweite Verkündigung fand, war für 
die Heiden ohnehin schon das Interesse und ein Verständnis 
für die hl. Schriften des jüdischen Volkes nahe gelegt. Sie 
lernten sich aber gegenseitig genauer kennen, als die Nach- 
kommen Abrahams 430 Jahre zu Ägypten im Lande Gosen 
wohnten, und später lange Zeit in den grossen Residenz- und 



1) Cfr. libri Exodi c. 20, i — 6; c. 32, libri Regum III., c, 16, 29 — 34; 
c, 17 und c. 18, 18 — 46; Proph. Baruch c. 3, c. 4, c. 6; 1. II. Machabaeorum 
c. 4, 19 — 21 ; c. 6, 2 — 9; I. Ep. ad Tim. c. i, 4; ad Titum c. 3, 8; vgl. 
auch S. 62 dieses Buches (II. Aufl.); Comelii Taciti „Historiarum" 1. V., 
c. 4 und 5. 



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— 8o -- 

Handelstädten: Ninive (722—536), Babylon (606—536), Ekbatana 
und Susan als Gefangene weilten und teils für immer dort 
zurückblieben (Buch Esther), schliesslich aber in der weltge- 
bietenden Roma (cf. Ciceronis oratio pro Flacco c. 37, § 66 sq.), 
sowie in allen Provinzen des gewaltigen Römerreiches in 
grosser Anzahl sich dauernd niederliessen. (Cf. Philonis Judaei 
^Legationis ad Cajum" § 23.) Inzwischen waren die hl. Schriften 
des alten Testamentes zu Alexandrien (ca. 280 a. Chr.) in die 
griechische Weltsprache übersetzt worden und hierdurch der 
ganzen gebildeten Menschheit zugänglich gemacht. Unter 
diesen Verhältnissen konnte es sehr leicht geschehen, dass die 
Heiden sich Abschriften von der jüdischen Thora verschafften 
und demgemäss in dem Kultus ihrer Götter manches nach- 
ahmten, was im Gesetze Mosis als Dienst des wahren Gottes 
anbefohlen war. (Cf. Cornelii Taciti „Historiarum" 1. V., c. 4 sq. ; 
Actus Apostolorum c. 7, 22.) Auch wussten die Juden recht 
gut, dass Personen und Tatsachen aus der hl. Schrift, sowie 
Lehren und Geheimnisse aus der Offenbarung zu Göttersagen und 
Dämonendienst, sogar zu heidnischen Festen verkehrt wurden. 
Es berichtet z. B. Plutarch ^Symposiaca" 1. IV. c. 6.: „Das 
grösste und vollkommenste Fest der Juden („Laubhüttenfest") 
stimmt in der Zeit und in der Art und Weise seiner Feier 
mit den griechischen Bacchus-(Dionysus)-Festen überein . . .; 
auch wohnen sie in Zelten usw."- Vgl. hierüber im II. Teile. 
Von den Festgebräuchen der Juden sagt Tacitus 1. c. : Hi (Ju- 
daeorum ritus quoquo modo inducti antiquitate defenduntur,'^ 
Die Religionsübungen der Juden, mögen sie auch aus zufälligen 
Gründen veranlasst sein (wir wissen: libri Exodi c. 23, 14 sq.; 
1. Levitici c. 25, 2 — 22), haben jedenfalls ein hohes Alter für 
sich. Unstreitig geht die Gesetzgebung auf Sinai mit der 
Verkündigung der jüdischen Festordnung den religiösen Ein- 
richtungen der Griechen um mehr als 500 Jahre voraus. 
Wenn nun dieselben mit den jüdischen Gebräuchen so auf- 
fallend übereinstimmen, wie die Bacchus- Dionysus- und Eleu- 
sinischen Feierlichkeiten, so sind sie gewiss auf diese als ihre 
Vorbilder zurückzuführen. Das Genauere hierüber wollen wir 
im zweiten Teile dieses Buches ausführen. Im ersten Buche der 
Machabäer (c. 3, 48) findet sich eine Bestätigung für unsere 
Auffassung : Kai dgeTr^xaaav tö ßißXiov toö vÖ|liou irepi div dgripcuvujv 



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— 8r — 

TQ fevn Tot ÖMoiuüjiaTa toiv eiJ)u)Xu)v auxtüv Et expanderunt 
Judaei libros legis, de quibus scrutabantur gentes similitudinem 
simulacrorum suorum. „Die Juden schlugen die Bücher ihres 
Gesetzes auf, in welchen die Heiden eifrige Durchsuchungen 
anstellten, um Vorbilder für ihre Götzen bu gewinnen^ i). 

In Nachstehendem wollen wir einige Studienfrüchte dieser 
Art vorlegen, in der Hoflfnung, dass dieselben sachlich geprüft 
und erweitert werden mögen. Es genügt, wenn sie als be- 
scheidenes Material zur Lösung dieser so wichtigen Frage 
dienlich sind; denn, wo noch soviel Dunkel herrscht^ muss 
jeder Lichtstrahl uns willkommen erscheinen. Wie Rohrbacher 
(„Universal-Geschichte der katholichen Kirche" III., S. 376 f.) 
bemerkt, kann man bei tieferem Eindringen in die fragliche 
Angelegenheit sich tiberzeugen, dass bei den klassischen Dichtern 
des Altertums, je älter sie sind, sprachlich, in bezug auf Sitten 
und Gebräuche auch sachlich die Verwandtschaft mit den bib- 
lischen Büchern sich mehrt. 



^) Prof. Keil bemerkt in seinem Kommentare zu dieser Stelle, die- 
selbe müsse ursprünglich wohl anders gelautet haben, weil die Heiden das 
Judentum hätten vernichten wollen, und eine Entlehnung von Vorbildern 
aus der hl. Schrift keine Entweihung derselben gewesen wäre, welche doch 
vom Context verlangt werde. 

Hierauf ist zu erwidern, dass die Heiden allerdings die Absicht 
haben konnten, das Judentum auszurotten, und dennoch das ihnen Nütz- 
liche und Wertvolle aus demselben für ihre Zwecke zu bewahren suchten 
(Vorbilder für ihre Götzen). 

So z. B. nahmen die Philister die in ihre Hände gefallene Bundeslade 
der Israeliten und stellten dieselbe, ohne sie zu vernichten, im Tempel ihres 
Götzen Dagon auf. (Cf. I. Regum c. 5, 2.) Desgleichen Hess der König 
Nabuchodonosor alle Geräte aus dem Tempel zu Jerusalem wegbringen 
und im Tempel seines Gottes zu Babylon aufbewahren. (Cf. II. Parali- 
pomenon c. 36, 7.) — In ähnlicher Weise haben die Christen des 5. Jahr- 
hunderts unter Papst Leo dem Grossen (440—461) die Statue des Juppiter 
aus dem Tempel auf dem Capitolium entfernt und aus dem Material (Erz) 
desselben das noch in der Peterskirche befindliche Standbild des Apostel- 
fürsten herstellen lassen. Das Heidentum musste gewiss fallen; aber die 
brauchbaren Stoffe aus demselben wurden für höhere Zwecke verwendet. 

Wenn aber die Heiden aus den biblischen Heldengestalten sich 
Vorbilder für ihre Götzen auswählten, so war damit objektiv, wegen der 
nachfolgenden Anbetung derselben, immerhin eine Entweihung verbunden. 
(Cf. 1. Exodi c. 20, 4 — 6; ferner: Libri Sapientiae c. 14, 8 — 12.) 



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— 82 — 

Wir teilen unsere Arbeit so ein, dass an erster Stelle wir 
Tatsachen und Personen, und an zweiter Stelle wir Aussprüche 
der hl. Schrift mit denen der Klassiker vergleichen. 

Die gegenseitigen Beziehungen nun zwischen Judentum 
und Heidentum, welche wir im Vorhergehenden wahrgenommen 
haben, lassen sich unschwer auf die Vorwort Seite XX an- 
gegebenen Kategorien zurückführen. 

1. Nach Prof. Weiss (Braunsberg) und Reischl (München) 
hat Moses in seinem Werke gewisse Anklänge an die ägyptische 
Sprache und hat Daniel einige chaldäisch geschriebene Kapitel ; 
auch ist sein ganzes Buch stark chaldäisch-mundartlich gefärbt. 
Die Schriften des alten Testamentes wurden später zu Alexan- 
drien in die griechische Weltsprache übertragen (vgl. S. 80). 
Hierin lässt sich ein literarischer (sprachlicher) Einfluss auf das 
Schriftentum Israels erkennen. Man vergleiche die Septuaginta 
und ihre Schreibung der biblischen Namen. (Kategorie I.) 

2. Die Heiden besassen noch Teile der Ur-Oflfenbarung, 
welche ihnen mit dem Volke Israel gemeinsam war. (II. Kate- 
gorie: stoffliche Beziehung.) 

3. Nach dem Referate der hl. Schrift (cf. I. Machabaeorum 
c. 3, V. 48) nahmen die Heiden biblische Begebenheiten, Feste 
und Personen als Vorbilder in ihren Kultus auf. Vgl. S. 80 
(Kategorie III.: Beeinflussung in religiöser Beziehung). 

Auch die Juden eigneten sich mitunter heidnische Sitten 
und Gebäuche an; sie überwanden aber stets wieder diese 
Abweichungen vom Gesetze Moses. (Cf. S. 79.) 



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I. Tatsachen und Personen der hl. Schrift. 



1. Die Schöpfung. 

„In omnem terram exivit sonus eorum: et in fines 
orbis terrae verba eorum." Ps. i8, 5. 

„Über die ganze Welt ist ausgegangen ihr Schall, 
und bis zu des Erdballs Grenzen ihr Wort." 

Das Sechstagewerk der biblischen Schöpfungsgeschichte 
ist bei den glänzenden Zeugnissen, welche die neuen Forschungen 
und Entdeckungen der Wissenschaft von allen Seiten für dessen 
historische Wahrhaftigkeit ergeben, in unserer Zeit der Gegen- 
stand einer ganz besonderen Aufmerksamkeit geworden. Die 
Wissenschaft der Geologie feiert darin ihren höchsten Triumph, 
dass die Früchte ihrer Arbeit als ebensoviele unumstössliche 
Belege zur weiteren Beglaubigung der biblischen Urkunde zu 
dienen geeignet sind. Indem die geologische Wissenschaft in 
die Schichten der Erde eindringt, dieselben zergliedert und durch- 
forscht, weckt sie die Urwelt mit ihren Bildungs-Prozessen und 
Geschöpfen aufs neue zum Leben; sie lässt nicht nur die 
Steine, sondern das ganze irdische Dasein, welches zuerst die 
Gräber unserer Erde ausgefüllt hat, für die göttliche Offenbarung 
zeugen und reden, und vermittelt dadurch für die innere Wahr- 
heit des mosaischen Schöpfungsberichtes einen vollständigen 
Beweis aus der tatsächlichen Wirklichkeit unseres Erdballs. 

Was die Geologie für die innere Wahrheit der biblischen 
Schöpfungsgeschichte darstellt, das leisten die mythischen Über- 
lieferungen aus der Urzeit für deren äussere Wahrheit. Und 
die Übereinstimmungen der heidnischen Mythologien mit der 
Offenbarung Gottes in diesem Punkte beweisen, dass die Offen- 
barung in der Vorzeit einmal ein Gemeingut der ganzen 
Menschheit gewesen sein muss. {Ur-Offenharung.) Aus dem 
besonderen Wortlaute ihres Inhaltes aber lassen überdies die 



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- 84 - 

heidnischen Mythen leicht erkennen, dass sie selbst nur Bruch- 
stücke der ursprünglichen und gemeinsamen Kunde fortpflanzen 
(cf. Aristotelis „Metaphysicae" 1. XII., c. 8 in fine; p. XIII 
dieses Buches), und bloss abgerissene Teile des biblischen Ganzen 
sind. Ausserdem erscheinen sie noch mit vielfachen Zutaten 
und Ausschmückungen verbunden, wie dieselben hier und dort 
eine dichtende Phantasie erfunden haben mag. Daher wäre es 
verkehrt, wenn man in den diesbezüglichen heidnischen Sagen 
die reinen christlichen Begriffe und die vollständige Wahrheit 
wiedei*finden wollte, da sie ja nur einzelne und dazu noch ge- 
trübte Erinnerungen an dieselbe erhalten und mitteilen konnten. 

Im Avesta der Perser werden 6 Festtage zum Andenken 
an die 6 Schöpfungstage angeordnet. Es wird erzählt, der 
Lichtgott Ormuzt habe am 1. Tage den Himmel, am 2. das 
Wasser^ am 3. die Erde, am 4. die Bäume, am 5. die Tiere 
und am 6. den Menschen erschaff*en und alles vollendet. (Vgl. 
Luken „Traditionen**, S. 46 f.) 

In einem alten Commentare zu Mattus Gesetzbuchs) wird 
gesagt: durch den Hauch Gottes entstand zuerst das durch- 
sichtige Firmament, welches die Erde umgibt. Aus Grund und 
Feuchtigkeit bildete derselbe hierauf eine Kugel, an welcher 
die festen Teile das trockene Land, und die flüssigen das 
Meer darstellten. Diese Kugel setzte er sodann in den Mittel- 
punkt des Firmamentes, von allen Seiten gleichweit abstehend. 
Jetzt schuf er eine Sonne und einen Mond am Firmamente, 
um die Tages- und Jahreszeiten zu unterscheiden. Nachdem 
nun die Elemente gesondert waren und ihre passende Stelle 
eingenommen hatten, fingen sie sogleich an, wirksam zu sein: 
die Luft erfüllte den leeren Raum; das Feuer durchdrang 
alles mit seiner Wärme; die Erde und das Meer brachten 
Tiere hervor, jedes nach seinem besonderen Vermögen. Gott 
gab den Tieren auch die Fähigkeit, dass sich jede Art von 
selbst fortpflanzen, konnte. Endlich bildete Gott noch den 
Menschen, das vorzüglichste unter seinen Geschöpfen. Wie 



s) Menü (besser Manu) ist der Sohn des Brahma (Stammvater der 
Menschen bei den Indem); nach ihm wird das indische Gesetzbuch be- 
gannt, welches im 5. Jahrhundert vor Christus verfasst wurde und alle 
bürgerlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen bei den Hindus bestimmt. 



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- 85 - 

Luken hierzu bemerkt, sollte man fast glauben, als habe die 
Bibel jenem Verfasser zur Grundlage gedient. Die Vedas der 
Inder, die ägyptische und etruskische Kosmogonie, sowie die 
germanische Mythologie enthalten ähnliche Darstellungen. 

Die lateinische Kosmogonie bei Ovidius Naso ist wohl die 
schönste und würdigste, welche uns das klassische Altertum 
und der heidnische Orient hinterlassen haben. Einfach und 
klar, grossartig und erhaben beginnt die Erzählung, dass jeder 
ihr mit Vergnügen folgen muss. (Vgl. Baumgartner „Welt- 
literatur" III. Band, S. 489 f. ; 3. und 4. Auflage, Freiburg 1902.) 
Derselben geht die griechische Theogonie des Hesiodus voran, 
welcher mit Homer zu den ältesten Dichtern gerechnet wird, 
während Ovid das Zeitalter des Kaisers Augustus erlebte 
(t 18 nach Christi Geburt). Von Hesiod sagt Brucherus (cf. Bern- 
hard Zamagna „Opera Hesiodi", Parmae 1785, Einleitung S. 24 f.) : 

Theogoniae Hesiodi haec videtur fuisse summa: Praeter 
Deum chaos producens, sive Chaos deum in se continens, initio 
nihil omnino exstitit aliud ; adeoque in deo sive in universo 
cuncta latuerunt. lUud autem vi sua agitatum infudit amovem, 
ut homogenea sociarentur, separerentur heterogenea. Qui motus 
sive amor, quum e sinu dei profectus esset, et ratione et sapientia 
plenus fuit. Ita materiae mole agitata, ascenderunt levia, gra- 
viora descenderunt in tartarum. Idcirco nocte discussa, ex 
levioribus aether atque lux emicuerunt, ex quibus Astra pro- 
dierunt; ex gravioribus Terra montesque exstiterunt. Terra 
autem Coeloque Pelagus prognatum est exhalationibus atque 
imbribus in se decidentibus, divinae mentis vestigia hisce omnibus 
mundi partibus conservantibus communicata. Hinc ex coeli 
terraeque conjunctione profecti sunt homines, animalia ratione 
praedita, quorum primi maximique numinis insidentis vim 
magnam hauserunt, qua instructi beneficiis et inventis utilissimis 
genus humanum ita sibi devinxerunt, ut post imperia condita 
mortalitatemque positam ad sedes divinas reversi divino honore 
a populis digni haberentur. Deorum autem ita factorum gene- 
rationem latius explicat Hesiodus. Quae de Diis opiniones a poetis 
magisque fraudulentis fabulis monstrosis adeo obscuratae sunt, 
ut quae ad religionem pertinebant, ea omnia caligine obducerentur. 

Folgendes ist der Hauptinhalt von der Theogonie des 
Hesiod. Ausser der Gottheit, welche das Chaos hervorbrachte, 



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— 86 — 

oder dem Chaos, welches die Gottheit in sich schloss, war im 
Anfange aller Dinge überhaupt nichts vorhanden; so dass, sei 
es in der Gottheit, sei es im UrstofF, alle Dinge verborgen 
waren. Das Chaos nun, durch eigene Kraft in Bewegung 
gesetzt, brachte die Liebe hervor („der Stoffe Gewalt, der Mag- 
nete Lieben und Hassen'*: Schiller); so dass die gleichartigen 
Teile sich verbanden, die ungleichartigen sich aber voneinander 
schieden. Diese Bewegung nun, oder Liebe, ging von dem 
Herzen der Gottheit aus, und war mit Vernunft und Weisheit 
begabt Infolge der Bewegung der ganzen Materie stiegen 
die leichteren Stoffe in die Höhe, die schweren senkten sich 
in die Tiefe. Hierdurch wurde die Finsternis verscheucht, und 
aus den leichteren Massen strahlte der Äther (= die feuerige 
Luft-Region) und das Licht auf, aus welchen die Gestirne 
hervorgingen; aus den schwereren (gröberen) Massen bildete 
sich die Erde (= das feste Land) und die Berge. Erde und 
Himmel aber gaben dem Meer sein Dasein; indem die Aus- 
dünstungen des festen Landes in die höheren Luft-Regionen 
sich erhoben, zu Wassertropfen sich daselbst verdichteten und 
sodann in gewaltigen Regengüssen niederstürzend, das Meer- 
wasser bildeten. Alle diese Grundstoffe (Elemente): Feuer, 
Erde, Luft und Meer gingen aus Gottes Hand hervor und be- 
wahrten die Spuren seiner Tätigkeit. Aus der Verbindung 
der Erde mit dem Himmel (Leib und Seele) entstanden die 
Menschen, welche mit Vernunft begabte Geschöpfe sind. Die 
ersten und vorzüglichsten derselben hatten einen grossen Anteil 
an der göttlichen Weisheit und Kraft, vermöge deren sie sich 
ihre Mitmenschen durch Wohltaten und nützliche Einrichtungen 
sehr verbinden konnten. Auch schufen sie geordnete Staats- 
wesen und kehrten nach ihrem Hinscheiden zu den himmlischen 
Sitzen zurück. Die Völker aber hielten sie für Götter und 
ehrten sie in entsprechender Weise. Dieses beschreibt nun 
Hesiod sehr ausführlich. In der Zeitenfolge haben Dichter und 
betrügerische Magier die (so gewonnenen) Vorstellungen von 
den höchsten Wesen durch mancherlei abenteuerliche Fabeln 
entstellt, so dass die Gottesverehrung ihre klaren und festen 
Begriffe verloren hat. Theogoniae v. 104— 135: 

Xaipeie icKva Aiöq boxe b' iiaepöecycTav doibriv 
KXeiete b' aOavätiuv iepöv fivoq alfcv döviuüv, 



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- 87 - 

Ol rfi? iiifevovxo kqi Oöpavoö dcTTepoevToq, 

NuKTÖ^ Ktti bvocpepfi^, b\)<; G' dXjiupö? fipecpe TTövto^' 

EiTrare b' \hq id TrpuJTa Gcoi xai taici t^vovto, 

Km TTOTtt^ioi, Kai ttövto^ direipiaxo^ oibjiaTi 6uu)v 

"AcTtpa T€ \a|LnT€TÖujVTa, xai oOpavö^ eupuq uirepGev, 

Ol t' dK TUüv dT^vovTO Geoi buüTfjpe^ dduüv • 

"Qq T ä(pevo^ bdcTCJavio, xai ib^ Ti|Lidq bieXovro, 

'Hbfe Ktti dj(; td TTpAia ttoXutttuxov äcxov ''0\\J^7^ov• 

TaOid luioi laneie MoOcrai ö\u|iTria buü^aT' ?xo^<Jcti, 

'EH dpxn^, Km emaG' öti irpiÖTOv T^ver' aÖTiöv 

''Hioi \xkv TTpu)Ti(TTa Xdo(; T^ver' aurdp ^Treita 

Tai €upü(yT€pvo(;, irdvxujv iboq dcTcpaXe^ dci 

'AGavdTUiv, ä ?xo^^i ^«PH vicpoevio^ 'OXujiTrou, 

Tdpiapa t' iiepöevia ^uxtu xöovö(; €upuob€iii(;, 

'Hb' "Epoi;, bq KoKkiaioq dv dGavaioicTi Geoiaiv, 

Auai|Li€Xf)^, TrdvTUiv t€ Gewv, Trdvxuüv b' dvGpiDiriDV 

Ad^vaTm ev aTriGecTCTi voov Km eiricppova ßouXriv 

'Ek Xdeo^ b' 'Epeßö^ xe lueXaivd te NöH ifivovTO . 

fma be xoi Trpujxov dteivaxo icTov dauxq 

Oupavöv dcTxepöevG', lva^€v trepi Trdvxa KaXÜTrxor 

''Ocpp' €iTi jittKapecrcyi Gcoi^ &>oq aacpdkeq dei* 

feivaxo b' oöpea ^aKpd, Geiliv x«pi^vxa^ dvauXou^ 

Nu^i(pdu)v, ai vaiouaiv dv* oöpea ßricrarievxa,. 

'H be Kai dxputexov TTdXaTO(; x^Kev dbiuaxi Göov 

TTövxov . . . Koiövxe, KpeTöv G' ''YTrepiovd x' 'lairexöv xe* k. x. X. 

Salvete o Nymphae dium genus et mihi dulce, 

Quäle decet divas, faciles concedite carmen; 

Aeternoque aevo superos vitaque fruentes 

Dicite, qui Terra, qui Coelo, et Nocte nigranti, 

Fluctibus et salsis cepere exordia vitae. 

Dicite, ut exorti primum sint; ut sola, et amnes, 

Caerulaque undanti late ferventia motu, 

Lucentesque ignes astrorum, et fulgidus aether 

Exstiterint: ex his qui nati cumque bonorum 

Auetores divi, qua se inter munera lege 

Distinxere, polique alta sunt arce potiti. 

Haec mecum vos, o superum, coelestia templa 

Quae Colitis, memorate, et prisca ab origine mundi 

Quid fuerint primum e cunctis evolvite Musae, 



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— 88 — 

Principio ntagnum Chaos exstiiit, almaque deinde 
Terra domus sedesque deum secura; quot alti 
Immortale agitant aevum per culmina Olympi 
Tartaraque immenso subter tenebrosa recessu, 
Atque Amor ille deos inter pulcherrimus omnes, 
nie graves curas abigens, hominumque deumque 
Imperio subigens prudentem in pectore mentem. 
Nigra Chao sata Nox, Erebusque: at maximus Aether, 
Atque dies e Nocte sati, quos edidit ipsa. 
Terra autem genuit Stellis ardentibus aptum 
Coelum, quo fuso tegeretur desuper omnis, 
Ac sua firmarent stabiles vestigia divi. 
Praeterea Montesque altos gratissima nymphis, 
Quae juga, quae saltus habitant, tecta; atque profundi 
Progenuit Pelagi, refluentibus aequora rivis 
Et Pontum . . . Caeumque, Creumque, Hyperionaque, 

Japetumque. . , " 
Auf denn, Töchter Kronions, gewähret holdlieblichen Sang mir, 
Singet den heiligen Stamm der unsterblichen ewigen Götter, 
Die aus der Erde entsprossen und auch dem sternigten Himmel, 
Und aus düsterer Nacht, genährt von der salzigen Meeresflut. 
Kündet mir, wie im Beginne die Götter und Erde entstanden. 
Auch die Ström' und das Meer, das da brauset in ewiger 

Brandung, 
Leuchtende Sterne und drüber des Himmels unendliche Wölbung, 
Und, die von ihnen entsprosst, die Geber holdseliger Güter; 
Wie sie geordnet das Reich, und jegliche Ehren verteilet. 
Wie sie bewohnt zuerst den talschluchtreichen Olympos: 
Dieses verkündet mir Musen, Olympische Räume bewohnend. 
Vom Ursprünge, und sagt, was einst von jenen zuerst war! 
Also von ihnen war Chaos^ aber nach diesem 
Wurde die weit sich dehnende Erd\ den Ewigen allen 
Sicherer Sits, die bewohnen die Höh'n des beschneiten Olympos, 
Tartarus' finsterer Pfuhl in den Tiefen der räumigen Erde, 
Eros auch, der da ist der unsterblichen Götter der schönste; 
Mild auflösender Kraft, dämpft allen den Göttern und Menschen 
In der Tiefe der Brust er den Geist und verständigen Entschluss. 
Erebos aber entspross vom Chaos, die dunkele Nacht dann; 
Und von der Nacht entkeimten der Äther undHemera's Lichtglanz. 



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^ 89 - 

Darauf die Erde zuerst nun hervorging, und ähnlich sich 

selber, 
Sternengewölbe des Himmels, damit er sie gänzlich bedeckte, 
Und ein dauernder Sitz der Götter, der seligen wäre. 
Auch die ragenden Berge, der Nymphen erfreulicher Wohnsitz, 
Die in den waldigen Schluchten und ragenden Höhen einher- 
gehen, 
Und das tosende Meer mit der brandenden Welle begabt . . . 
Ferner entsprosste dem Himmel vereint des Okeanos Sprudel, 
Köos und Kreios, sodann Hyperion, Japetos auch, usw. 

Die Theogonie des Hesiod hat den Zweck, eine Erklärung 
von der Schöpfung der Welt, der Erde und der auffallendsten 
Naturerscheinungen zu geben, alles aber in mythische Erzäh- 
lungen eingehüllt. 

In seinem Buche „de natura Deorum" 1. I., c. 10, n. 25 sq. 
gibt Cicero eine geschichtliche Übersicht von den Anschauungen 
der alten Philosophen über die Entstehung der Welt: Atque 
haec quidem vestra, Lucili. (sententia). Qualia vero sint, quae 
singuli statuerint, ita exponam, ut ab ultimo repetam superiorum. 
Thaies enim Milesius, qui primus de talibus rebus quaesivit, 
aquam dixii esse initium rerum, deum autem eam mentem, quae 
ex aqua cuncta fingeret. Du hast nun deine Ansicht, o Luci- 
lius, dargelegt. Was nun aber die einzelnen Philosophen auf- 
gestellt haben, will ich so vortragen, dass ich mit dem letzten 
der älteren Weisen den Anfang mache. Thaies nämlich von 
Müet, welcher zuerst über solche Materien Forschungen an- 
stellte, behauptete, das Wasser sei der Anfang aller Dinge; 
Gott aber sei jenes geistige Wesen, welches aus Wasser alles 
erschaffen habe. 

Post Anaximenes aöra deum statuit, eumque gigni esseque 
immensum et infinitum et semper in motu. L. c. c. 10, n. 26. 
Hierauf stellte Anaimenes die Behauptung auf, die Luft sei Gott ; 
derselbe habe einen Ursprung und sei unermesslich und un- 
endlich und immer in Bewegung. 

Inde AnaxagoraSy qui accepit ab Anaximene disciplinam, 
primus omnium rerum discriptionem et modum mentis infinitae 
vi ac ratione designari et confici voluit. L. c. c. 11. Nun folgt 
AnaxagoraSy welcher das System von Anaximines übernahm, 
sowie zuerst eine Auseinanderscheidung aller Dinge feststellte und 



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— 90 — 

das Wesen des unendlichen Geistes als aus Kraft und Denk- 
vermögen bestehend bezeichnen wollte. 

Cicero berichtet „Academicorum** 1. II., c. 36, n. 117 und 
c. 38, n. 119: Non persequor quaestiones infinitas: Tantum de 
principiis rerum, e quibus omnia constant^ videamus quem 
probet \ est enim inter magnos homines summa dissensio. 
Princeps Thaies, unus e septem, cui sex reliquos concessisse 
primas ferunt, ex aqua dixit constare omnia, 

Plato ex materia in se omnia recipiente mundum factum 
esse censet a deo sempiternum ; Pythagorei ex numeris et mathe- 
maticorum initiis proficisci volunt omnia. Veniet Aristoteles, 
flumen orationis aureum fundens; qui illum desipere dicat: 
neque enim ortum esse unquam mundum, quod nulla fuerit 
novo consilio inito tam praeclari operis inceptio, etc. 

Hier will ich keine endlosen Fragen behandeln : nur über 
die Grundstoffe, aus welchen alles besteht, will ich seine Ansicht 
vernehmen. Es besteht nämjich hierüber bei den Gelehrten 
eine grosse Verschiedenheit. Thaies aber von Milet, der Fürst 
derselben, einer von den sieben Weisen, dem die sechs übrigen 
gerne den Vorrang zukommen Hessen, sagt: aus Wasser 
bestehe alles, Plato nimmt an, die Welt sei von Gott als eine 
ewige, aus einer alles in sich befassenden Materie erschaffen. 
Die Pythagoräer aber behaupten, alles bestehe aus (gehe her- 
vor) aus Zahlen, nach den ersten Lehrsätzen der Mathematiker. 
Nun aber wird Aristoteles kommen und einen goldenen Fluss 
der Beredsamkeit aufbieten, jener (Plato) habe Unsinn vorge- 
tragen, denn die Welt habe niemals einen Ursprung gehabt, 
weil, selbst bei verändertem Plane, ein Anfang sich nicht nach- 
weisen lasse: so vorzüglich sei das Werk. Hierin aber irrt 
Aristoteles, und sein Lehrer Plato kommt der Wahrheit näher. 
Zusammenstellung. 

Thaies von Milet, ein Zeitgenosse des Solon (594 a. Chr.), 
der älteste der jonischen Naturphilosophen, stellte zuerst ein 
Prinzip der Welt auf, nämlich: öbwp, d. i. das flüssige, das 
Feuchte. Dieses, selbst lebendig und beseelt, ist der Grund 
alles Lebens. Das Wasser^ die Materie, birgt in sich selbst 
die lebende Kraft: Kraft und Stoff sind eins, Cicero irrt da- 
her, wenn er behauptet, Thaies habe nach Art der Stoiker 
das Wasser, die Materie, von einem Geist beherrscht sein 



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— 91 — 

lassen ; erst von Anaxagoras wurde der Geist (voO^ = mens) zur 
Welterklärung benutzt. Derselbe, geboren zu Klazomenae 
gegen 500 a. Chr., lebte lange Zeit zu Athen, wo er in einem 
freundschaftlichen Verhältnisse zu Pericles stand. Nach ihm 
ist es der voO^ = mens, der absolute, immaterielle Geist, welcher 
die Materie ordnet, bewegt und beherrscht. Dass er diesen 
Gott genannt habe, wird auch sonst berichtet. 

Aus allen diesen mythologischen • und philosophischen 
Anschauungen geht hervor, dass Gott nur der Bildner, nicht 
aber, dass er Erschaffer der Materie sei. (Vgl. Diodori Siculi 
„Bibliothecae Historicae** 1. I., c. 6 und 7.) Nach Ovid, über 
welchen wir bald berichten wollen, „Metamoi-phoseon" 1. 1 , 5, 
war vor dem Meere, dem Lande und dem Himmel zuerst das 
Chaos (von x«ivuü) = der unermessliche» leere Raum; dann 
besonders: die ungeordnete, verworrene Masse der Grundstoffe. 
Woher das Chaos aber seinen Ursprung hatte, wird nicht 
gesagt. 

Nach Hesiod, vgl. oben, (9. Jahrhundert a. Chr.) war zu- 
erst das Chaos, die weite Erde, und der finstere Tartarus im 
Abgrunde der weiten Erde. . . . Aus dem Chaos entstand die 
Finsternis und die schwarze Nacht; aus der Nacht kam der 
Äther und der helle Tag. („Theogoniae" v. 116—124.) 

Chaos, Finsternis und Licht erinnern an die mosaische 
Darstellung. Zur leisten Ursache der Materie dringt auch 
Hesiod nicht vor. 

Anklänge an den biblischen Bericht finden sich auch bei 
den ältesten Philosophen, deren Zeugnisse wir oben nach 
Cicero wiedergegeben haben. Um sie nun kurz zu wieder- 
holen: nach Thaies von Milet ist das Wasser, nach Anaxi- 
menes die Luft, nach Pythagoras das Zahlensystem, nach 
Plato eine ewige Materie der Grundstoff, aus welchem 
das All hervorgegangen ist. Diese Anschauungen beweisen 
zur Gentige, dass die Ur-Offenbarung über den Anfang alles 
Geschaffenen sich nie ganz aus dem Andenken der Menschheit 
verloren hat. Dem Ursprünge des biblischen Berichtes (Genesis 
c. 1 und 2) stehen wohl die babylonischen Schöpfungs-Mythen 
am nächsten, welche teils aus griechischen Schriftstellern, teils 
aus originalen Dokumenten uns bekannt geworden sind. Die- 
selben lassen aber deutlich erkennen, dass sie nur heidnische 



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— 92 — 

Unthilduftgen der ursprünglichen Offenbarung sind, in welchen 
sogar der erschaffende Gott durch erschaffene Götter ersetzt 
wird. (Cf. Kaulen „Der biblische Schöpfungs-Bericht**, Freiburg 
1902, S. 2, 27 f.; ebenso: Dr. Lindl „Wissenschaft wie Kritik 
der Neuzeit, und das alte Testament'*, München 1903.) Die- 
selben haben das eigentümliche, schon aus den babylonischen 
Targumim bekannte Verfahren, durch negative Schilderung 
die „Öde und Leere" des ersten Zustandes klar zu machen. 
(Cf. Smith „Chaldaeische Genesis**, Leipzig 1876, S. 62, heraus- 
gegeben von Frd. Delitzsch.) Das bei den griechischen und 
römischen Dichtern erwähnte Chaos („die den leeren Raum 
erfüllende Ur-Materie**) = Abgrund (fißucjao^), dann Ur Elemente 
zur Schöpfung der Welt, welches der jetzigen Weltordnung 
voraufgegangen sein soll, verhält sich etwa zu dieser, wie das 
rohe Material zu dem aus demselben geformten Kunstwerke. 
Keine aber der uns noch erhaltenen Darstellungen aus dem 
Morgen- und Abendlande ist so ausführlich, keine auch so beleh- 
rend, wie die von Ovidius Naso (f 18 p. Chr.) im Anfange 
seiner „Metamorphosen** 1. I., 1 — 88, sowie „Fasti** v. 103 — 113 
gegebene : 

In nova fert animus mutatas dicere formas 

Corpora. Di, coeptis — nam vos mutastis — et illac 

Adspirate meis, primaque ab origine mundi 

Ad mea perpetuum deducite tempora Carmen. 

Ante mare et tellus, et quod tegit omnia, coelum 

Unus erat toto naturae vultus in orbe. 

Quem dixere Chaos, rudis indigestaque moles^). 

Nee quidguanty nisi pondus iners, congestaque eodem , 

Non bene junctarum discordia semina rerum. 

NuUus adhuc mundo praebebat lumina Titan, 

Nee nova crescendo reparabat cornua Phoebe, 

Nee circumfuso pendebat in aßra tellus 

Ponderibus liberata suis, nee brachia longo 

Margine terrarum porrexerat Amphitrite. 

Utque erat et tellus, illic et pontus et a^r: 

Sic erat instabilis tellus, innabilis unda, 

Lucis egens aör: nulli sua forma manebat^ 



*) Cf. Euripidis „Melapippa" und Diodori Siculi „Bibl. Hist.*' 1. 1. c 7. 

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— 93 — 

Obstabatque aliis aliud, quia corpore in uno 
Frigida pugnabant calidis, umentia, siccis^ 
MoUia cum duris, sine pondere, habentia pondus. 
Hanc Deus et melior litem natura diremit: 
Nam coelo terras et terris abscidit undas, 
Et liquidum spisso secrevit ab aere coelum. 
Quae postquam evolvit caecoque exemit acervo, 
Dissociata locis concordi pace ligarit. 
Ignea convexi vis et sine pondere coeli 
Emicuit summaque locum sibi fecit in arce; 
Proximus est aßr illi levitate locoque: 
Densior his tellus, elementaque grandia traxit 
Et pressa est gravitate sua; circumfluus umor 
Ultima possedit solidumque coercuit orbem. 
Sic ubi dispositam, quisquis fuit ille Deorum 
Congeriem secuit sectamque in membra coögit: 
Principio terram, ne non aequalis ab omni 
Parte foret, magni speciem glomeravit in orbis. 
Tum freta dififudit rapidisque tumescere ventis 
Jussit et ambitae circumdare littora terrae .... 
Jussit et extendi campos, subsidere valles, 
Fronde tegi Silvas, lapidosos surgere montes .... 
Imminet his aßr, qui, quanto est pondere terrae, 
Pondere aquae levior, tanto est onerosior igni. 
111 uc et nebulas, illuc consistere nubes 
Jussit et humanas motura tonitrua mentes. 
Et cum fulminibus facientes frigora ventos , . . 
Haec super imposuit liquidum et gravitate carentem 
Aethera nee quidquam terrenae faecis habentem. 
Vix ita limitibus dissaepserat omnia certis, 
Quum, quae pressa diu massa latuere sub illa 
Sidera coeperunt toto efFervescere coelo. 
Neu regio foret uUa, suis animalibus orba, 
Astra tenent coeleste solum formaeque Deorum; 
Cesserunt nitidis habitandae piscibus undae, 
Terra feras cepit, volucres agitabilis a^r. 
Sanctius his animal mentisque capacius altae 
Derat adhuc, et quod dominari, in caetera posset: 
Natus hämo est; sive hunc divino semine fecit 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 8 



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— ^4 — 

nie opifex rerum, mundi melioris origo, 
Sivre recens tellus seductaqne nuper ab alto 
Aethera cognati retinebat semina coeli; 
Quam satus Japeto, mixtam pluvialibus undis 
Finxit in effigiem moderantum cuncta Deorum, 
Pronaque quum spectent anirnalia cetera terram. 
Os homini sublime dedit coelumque videre 
Jussit et erectos ad sidera tollere vultus. 
Sic, modo quae fuerat rudis et sine imagine tellus, 
Induit ignotas hominum conversa figuras. 
Von der Dinge Verwandlung in fremde Gestaltung zu singen 
Streb' ich! Himmlische! — , denn ihr habt sie verwandelt — , 

begeistert 
Mein Beginnen, und leitet vom ersten Werden der Welt an 
Mein fortdauerndes Lied bis auf meine Zeiten herüber. 
Ehedenn Meer und Land und der alles bedeckende Himmel, 
War in dem ganzen Bereich der Natur nur ein einziges Aussehn, 
Das man Chaos genannt: eine rohe, verworrene Masse 
Anders nicht als ein träges Gewicht und swistige Keime 
Trübe su einem gehäuft^ von lose verbundenen Stoffen. 
Noch goss kein Titan in das Weltall leuchtende Strahlen; 
Noch nicht ftillete aus durch Zuwachs Phoebe (Mond) die Homer ; 
Eignes Gewicht auch hielt noch nicht freischwebend die Erde 
In der umfliessenden Luft; noch breitete Amphitrite (Meer) 
Nicht weithin an den Rand daliegender Länder die Arme, 
Da, wo Äther, alldort war Erdreich, Luft und Gewässer. 
So war nicht sum Stehen das Land^ Bum Schwimmen die Woge; 
Lichtes entbehrte die Luft, die Gestalt blieb keinem beständig; 
Eines war feindlich im Wege dem anderen, weil in der Masse 
Kaltes im Streit stets lag mit Warmem, mit Trockenem Feuchtes, 
Weiches mit Hartem, und mit dem Gewichtigen, das was 

gewichtlos. 
Aber dem Zwist gab Schlichtung Gott und die bessere Triebkraft; 
Denn er schied von dem Himmel das Land und vom Lande 

die Wogen, 
Und von der dunstigen Luft los trennt er den lauteren Himmel. 
Als er sie so entwirrt und der finsteren Masse entnommen, 
Schloss er gesondert im Raum sie zusammen in friedlicrher 

Eintracht, 



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- 95 — 

Ohne Gewicht stieg auf lichtvoll des gewölbeten Himmels 
Feurige Kraft und ersah sich die Statt* in der obersten Höhe. 
Ihm ist am nächsten die Luft, an Ort und Leichtigkeit, dichter 
Aber als sie zog an die gröberen Teile der Erde, 
Niedergedrückt durch eigenes Gewicht. Das umströmende Wasser 
Wählte den äussersten Sitz und umschloss den gefestigten 

Erdkreis. 
Wie er nun so das Gemisch, wer jener der Götter gewesen^ 
Ordnend hatte geteilt und in Schichten gefügt das zerteilte, 
Rundete er im Beginne, auf dass nach jeglicher Seite 
Gleich sie wäre, zur Form grossmächtiger Kugel die Erde. 
Dann goss Fluten er aus und hiess sie von tobenden Winden 
Schwellen und ringsum umfahn der umgürteten Erde Gestade. , . . 
Ebenen Hess er sich ausdehnen, und Täler sich senken. 
Wälder sich decken mit Laub, aufsteigen die steinigen Berge . . . 
Darob schwebet die Luft, die lastender ist als das Feuer, 
So viel, wie an Gewicht nachstehet der Erde das Wasser. 
Dort hiess Nebel er auch, dort dunstige Wolken sich lagern 
Samt dem Donner-Gewölk, das menschliche Herzen erschrecke; 
Und mit Blitzen zugleich die Frost (frigora) herführenden 

Winde. . . . 
Drobhin lagert er dann den klar durchsichtigen Äther, 
Der, von Schwere befreit, nichts hat von der irdischen Hefe. 
Kaum nun hatt' er umzäunt das alles in sichere Grenzen, 
Als die Gestirn, die lang sich gepresst in jenem Gewoge 
Bargen, am Himmel umher glanzreich anhüben zu leuchten. 
Jetzt auch, damit kein Raum ermangele seiner Bewohner, 
Haben den himmlischen Sitz mit den Sternen die Götter-Gestalten ; 
Wohnstatt ward in den Wellen den glänzenden Fischen; 
Tiere bekam das Land und Vögel der regsame Luftraum. 
Aber es fehlete noch ein Geschöpf, das höher an Würde, 
Mä tiefdenkemäem Geist y^ den ander bh konnte gebieten: 
Siehe, da wurde der Mensch, ob ihn aus göttlichem Urstoff 
Schüfe der Bildner der Wesen, der Ahnherr des besseren 

Weltbau's, 
Oder die Erd' im Beginne, die sich irom erhobe&en Äther 
Eben gelös't, noch Keime behielt gleichartigen Himmels, 
Und des Japetus Sohn (Prometheus) sie vermischt mit fliessen- 
den Wellen 



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- 96 - 

Bildete gleich der Gestalt der alles beherrschenden Götter, 
Während die Erde gebeugt ansehen die andern Geschöpfe, 
Gab er erhab'nes Gesicht dem Menschen und hiess ihn den Himmel 
Schauen und richten empor su den Sternen gewendet das Antlits. 
Also kleidete sich die völlig veränderte Erde, 
Formlos eben und wüst, mit neuen Gebilden der Menschen, 

Die Reihenfolge der hier entwickelten kosmogenischen 
Begriffe ist diese, /. Stufe: a, das Chaos = Urmaterie; b, die 
das Verschiedene trennende, und das Gleichartige vereinigende 
Natur-Kraft; c, die schaffende Gottheit. //. Stufe: a. Aus- 
scheidung und Vereinigung des Gleichartigen zu den vier 
Elementen; b, Lokalisierung der letzteren im Räume. IlL Stufe: 
Bildimg der Welt und Erschaffung des Menschen am Schlüsse 
der Schöpfung. 

Den Grund-Gedanken dieser Kosmogonie können wir so 
wiedergeben: Nachdem sich aus der ungeordneten und ver- 
worrenen Urmaterie („rudis indigestaque moles'*) infolge der 
ihr von der Natur aus in wohnenden Kraft die vier Elemente 
ausgestaltet und im Welträume ihre passende Stellung emp- 
fangen hatten, bildete die schöpferische Gottheit aus ihnen die 
Welt und zuletzt den Menschen. 

Eine ganz ähnliche Darstellung gibt Ovidius in seinen 
„Fasti** („Fest-Kalender") v. 103 seq. : (Janus loquens inducitur) 

„Me Chaos antiqui-nam sum res prisca-vocabant. 

Adspice, quam longi temporis acta canam: 

Lucidus hie a^r et, quae tria corpora restant: 

Ignis, aquae, tellus, unus acervus erat. 

Ut simul haec rerum secessit Ute suarum 

Inque novas abiit massa soluta domos: 

Flamma petit altum, propior locus aßra cepit 

Sederunt medio terra fretumque solo. 

Tunc ego, qui fueram globus et sine imagine moles, 

In faciem redii dignaque membra Deo.'* 
Die Alten — ich bin nämlich ein uraltes Wesen — nannten 
mich (den Janus) Chaos. Siehe, welch langen Zeitraumes 
Ereignisse ich offenbare. Diese durchsichtige Luft und die 
drei übrigen Elemente : Feuer, Wasser, Erde bildeten zusammen 
ein einziges Ganzes. Als nun diese Masse infolge des Wider- 
streites der einzelnen Teile sich trennte, nahm sie neue Räume 



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« 97 - 

ein: das Feuer schwang sich in die Höhe; der nächste Raum 
nahm die Luft auf; in der Mitte erhielten die Erde und das 
Meer ihren Platz. Dann gewann ich, vordem ein Ball, eine 
Masse ohne bestimmte Form, nunmehr Gestalt und Gliederung 
würdig eines Gottes. (Janus = Licht des Himmels.) 

Hiermit ist zu vergleichen Virgilii „Geergicon** 1. II., 
V. 336 seq. („Über den Land-Bau"): 

Non alios prima crescentis origine mundi 
Inluxisse dies aliumve habuisse tenorem 
Crediderim: ver illud erat, ver magnus agebat 
Orbis et hibernis parcebant flatibus Euri. 
Quum primae lucem pecudes hausere virumque 
Ferrea progenies duris caput extulit arvis, 
Immissaeque ferae silvis et sidera coelo. 
Virgil besingt hier die Werdelust des Frühlings und er- 
hebt diese Anschauung zu einer kosmogonischen Vorstellung: 
Nicht anders, als wie im auflebenden Frühling, sei es bei der 
Entstehung der Welt gewesen. Da habe das Licht aufgeleuchtet, 
die Winde seien milder geworden: da seien die Tiere ins Da- 
sein getreten, und zuletzt der Mensch erschaffen worden als 
Herr des Ganzen, selbst aber ein Gebilde von Lehm ; auch habe 
der Wald seine Sänger und Bewohner, der Himmel seine Sterne 
erhalten. 

In fast gleichen Anschauungen bewegt sich die Kosmogonie 
des Diodorus Siculus (Zeitgenosse des Augustus), wenn er zu 
Anfang des 7. Kapitels im I. Buche seiner „Bibliotheca Historica" 
sagt: Kaxd t&P Tf|v ii äpxnq t&v öXujv (Tüaraaiv }i\av i^eiv ibiav 
oupavöv T€ Ktti ff\Vy |Lie|LiiT|ii^viig auTiüv Tf]q q)u(Teu)g ktX. Was i)un 
den Zustand aller Dinge von Anfang an betrifft, so muss man 
sagen, dass Himmel und Erde nur eine Gestalt hatten, indem 
die belebende Naturkraft ihnen zugeteilt war usw." 

Am Schlüsse dieses 7. Kapitels 1. c. führt Diodorus Siculus 
eine Strophe aus der „Melanippa** des Euripides (480 — 406) an : 
"Q^ oupavö^ le T«Ta t' fjv inopqpfi liia 
'Ettci b' iyi\jjp\aQr\aav dXXrjXwv öixa, 
TiKToum Trdvra, Kdv^öwKav el^ xp&o^ 
A^vbpTi, TTeT€ivd, Ofipaq oO«; fiX|LiTi xp^cpci, 

r^VO^ T€ 6VT)TlIlV. KTX. 

„Unus erat toto naturae vultus in orbe**. Ovidii Metam. I., 6. 



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- 98 - 

„Einst hatten Himmel und Erde nur eine Gestalt, 
Als sie aber voneinander in zwei Teile waren geschieden, 
Da ging alles hervor und kam an das strahlende 

Licht: 
Bäume und Vögel, vierfüssige Tiere, welche die Erde 

ernährt, 
Und auch der Menschen Geschlecht ..." 

Fragen wir nun nach der Herkunft aller dieser Vorstel- 
lungen, so müssen wir mit Plato „Philebi'* p. 16. c. (Editionis 
Henrici Stephani, Zweibrücken 1783) sagen, dass dieselben aus 
der Überlieferung der Vorzeit stammen („Ur-Offenbarung**), 
welche die Menschen von den Himmlischen erhalten haben: 
0€Ojv )Li€v €1^ dvöpuiTTOuq böaiq ^ß^iq)»!. 

Donum perfecto deorum ad homines descendit: „Als 
Geschenk des Himmels stieg diese Kunde zu den Menschen 
herab.** Ol TeXeuTiiaij \ilv tx\ irpoTepcx irepiqpopqi töv eSf)^ xpövov 

dT€lTÖVOUV, Tfi(Tb€ 06 Kttj' dpX«^ dqpUOVTO ' TOUTU)V T^p oiJTOi KrjpuKcq 

^Tcvovö' fiiLiTv Tuiv XÖYU)V, o'i vOv uirö ttgXXüjv ouk 6p0i&q ditiaTCÖvrai * 
Piatonis „Politici^S p. 271. a. b. (Editionis Henrici Stephani 1783). 
Tradiderunt haec nobis primi illi progenitores nostri, qui statim 
post primam revulutionem orti sunt. Hi sane hör um testes 
sermonum praeconesque fuerunt, quibus minime vulgo nunc fides 
habetur. „Diese Anschauungen haben uns jene Vorfahren über- 
liefert, welche gleich nach dem im Kreise sich bewegenden Weltall 
iüs Leben getreten sind. Ja diese, fürwahr, sind Zeugen und 
Verkündiger jener Lehren geworden, denen man jetzt, leider, 
zu wenig Glauben mehr schenkt." 

Die hl. Schrift nun enthält eine Kosmogonie, welche die 
Uroffenbarung Gottes an die ersten Menschen rein und unver- 
fälscht, sowie ohne alle poetische Ausschmückung wiedergibt; 
deren Übereinstimmung mit den ältesten Denkern der Welt 
gibt uns einen neuen Beweis für die Wahrheit derselben, weil 
sie unabhängig von jenen entstanden ist. 

Genesis I., 1: 

»Ev dpxti ^TroiT](T€V 6 Ged^ töv oupavöv Kai ttiv thv ' (Septuaginta). 
In principio creavit Deus coelum et terram. (Vulgata.) „Im An- 
fange schuf Gott Himmel und Erde." 



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— 99 — 

„Terra autem erat inanis et vacua et tenebrae erant 
super faciem abyssi et spiritus Dei ferebatur super aquas. 
Dixitque Deus: Fiat lux et facta est lux. Et vidit Deus lucem, 
quod esset bona, et divisit lucem a tenebris. Apellavitque 
lucem Diem et tenebras Noctem; factumque est vespere et 
mane: dies unus etc." 

1. Im Anfange schuf Gott den Himmel und die Erde. 
2. Die Erde aber war gestaltlos und leer, und Finsternis war 
über dem Abgrunde der Flut, und der Geist Gottes schwebte 
über den Wassern. 3. Und Gott sprach: „Es werde Licht!**, und es 
wurde Licht. 4. Und Gott sah das Licht, dass es gut war; und Gott 
schied das Licht von der Finsternis. 5. Und Gott nannte das Licht: 
Tag, und die Finsternis nannte er Nacht ; und es ward Morgen 
und Abend : ein Tag. 6. Und Gott sprach : „Es sei eine Veste 
inmitten der Wasser, und sie scheide Wasser von den Wassern. 
(Himmelsgewölbe = Luftkreis, welcher die Erde als Einzel- 
Körper im Welträume umgibt und begrenzt.) 7. Gott bildete 
die Veste und schied die Wasser, welche unter der Veste 
waren, von denen, welche über der Veste w^aren. Und es ward 
also. 8. Und Gott nannte die Veste: Himmel, Und es ward 
Morgen und Abend: aweiter Tag. 9. Und Gott sprach: „Es 
sammeln sich die Wasser, welche unter dem Himmel (Himmels- 
Gewölbe) sind, an Einen Ort, und es werde sichtbar das 
Trockene!" Und es geschah also. 10. Und Gott nannte das 
Trockene: Erde (Land, Festland), und die Ansammelung der 
Wasser nannte er Meer. Und Gott sah, dass es gut war." 

Der Wortlaut des Folgenden kommt für unsere Darstel- 
lung nicht weiter in Betracht. Ausser dem Himmel (Vers 8), 
schuf Gott nun am 3, Tage die Pflanzen. Am 4, Tage schuf • 
er die Himmelskörper, am 5. Tage die Wassertiere und die 
Vögel der Luft, am 6. Tage die Landtiere und zuletzt den 
Menschen. 

An der Spitze der biblischen Kosmogonie steht als oberstes 
Prinsip (Grundwesen): Gott, der allmächtige Schöpfer Himmels 
und der Erde\ zum durchgreifenden und wesentlichen Unter- 
schied von allen Kosmogonien der Heiden, welche den schaffen- 
den Gott durch erschaffene Götter ersetzen. — Gott, der Einmge, 
ist allein ewig = ohne Anfang und Ende, Die Materie ist 
von ihm erschaffen („im Anfange**), und in den oben genannten 



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— 100 — 



6 Epochen ausgestaltet worden. Unter dem Worte „Himmel", 
Vers 1, und „Erde" ist die Gesamtheit der Schöpfung gemeint: 
„das Sichtbare und das Unsichtbare" ; speziell ist unter „Himmel" 
die Erschaffung der Geisterwelt angedeutet. Gott, der Herr, 
nämlich ist die absolut oberste und alleinige Ursache der 
ganzen Schöpfung: alles Seiende wird auf den Willen eines 
höchsten^ schöpferischen Geistes zurückgeführt. Cf. Ep. S. Pauli 
ad Colossenses c. 1, v. 16: ^Durch Ihn ist alles erschaffen, was 
im Himmel und auf Erden ist: das Sichtbare und das Unsicht- 
bare . . . , alles ist durch Ihn und in Ihm .erschaffen.'* (Cf. 
auch Decretum Conc. Lateranensis IV., c. 1, und Concili Vati- 
cani Sess. III., c. 1.) Von der Erschaffung der Geister- (Engel-) 
Welt, Vers 1. werden Einzelheiten nicht weiter mitgeteilt, weil 
hier nur die Erde speziell in Betracht kommt. Vers 2 schildert 
den Zustand des Weltalls in seiner ursprünglichen Form: die 
Erde war noch gestaltlos und leer, d. h. : sie war im Anfange, 
da Gott sie schuf, nichts anders, als nur die Gesamtheit der 
Urstoffe, aus welchen die einzelne n Bestandteile gebildet werden 
sollten. Sie enthielt die grosse Masse der Materie, welche 
jetzt in den unzähligen organischen und unorganischen Gestal- 
tungen und Verbindungen der einzelnen Elemente als die sicht- 
bare Welt uns entgegentritt. Hiermit ist zu vergleichen, was 
Ovidius (und Euripides ^Melanippa**) von dem Zustande der 
Urmaterie berichtet (vgl. oben S. 92 und S. 97 ) : ^Ehe denn Meer 
uhd Land und der alles bedeckende Himmel, War in dem 
ganzen Bereich der Natur nur ein einziges Aussehen, das man 
Chaos genannt: eine rohe, verworrene Masse; Anders nichts 
als ein träges Gewicht und zwistige Keime, Trübe zu Einem 
• gehäuft, von lose verbundenen Stoffen." 

Die hl. Schrift sagt: „Und Finsternis war über einer Flut 
(über dem Abgrunde einer Flut), und der Geist Gottes schwebte 
über den Wassern.** Vers 2. 

Der Zustand der Urmaterie wird mit „Abgrund einer 
Flut" (Meer) und „Wasser** näher bezeichnet. Demgemäss 
haben wir uns die ursprünglich geschaffenen Stoffe als luft- 
förmig= flüssig, oder als gasförmig zu denken. Als etwas Körper- 
liches müssen sie auch wohl eine Form gehabt haben, nämlich 
die einer Kugel. Wir werden daher nicht irre gehen, wenn 
wir sagen: die Erde sei damals ein kugelförmiger, für uns 



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lOI — 



unfassbar grosser Gasball im Weltenraume gewesen. Als 
solcher stellte er eine vollkommene Leere, zugleich aber auch 
einen Flutschwall von luftförmiger Flüssigkeit d^r, für welchen 
man in den Tagen des Moses keinen anderen Ausdruck hatte, 
als die Bezeichnung des Wassers. (Vgl. Kaulen „Der biblische 
Schöpfungsbericht" S. 24 f., Freiburg 1902.) Die heutige 
Astronomie beobachtet bei dem Planeten Jupiter ganz ähnliche 
Entwickelungsphasen, wie sie uns Moses (Genesis I., 2 f.) er- 
zählt. (Vgl. Dr. Joseph Pohle, Prof, „Die Sternen-Welten etc.", 
III. Aufl., 337; Cöln, Bachem, 1902.) Um das Gesagte kurz zu 
wiederholen: jener Teil des Weltalls, welchen wir jetzt Erde 
nennen, befand sich damals auf der I. Stufe seines Daseins 
und war noch Öde und ungestaltet ; eine bestimmte Form hatte 
er noch nicht erhalten. In materieller Beziehung wird sein 
Zustand als ein flüssiger , wässeriger geschildert. Diese unge- 
formte Urmaterie ist in Finsternis eingehüllt. Hieraus ergeben 
sich als kosmogonische Grundwesen der II. Stufe: Finsternis 
und das ungeformte Urwasser, welche nach Vers 1 durch die 
schöpferische Macht Gottes hervorgerufen wurden. Über dem 
Ur'wasser schwebt der Geist Gottes, Er ist also nicht mit ihm 
in eins verbunden, sondern physisch und räumlich von ihm 
getrennt gedacht. Der Satz hat offenbar die Bedeutung, dass 
Gott der Materie in der Absicht, um aus ihr die Welt zu 
schaffen, in Liebe näher getreten sei. 

Von Vers 3 an wird die allmähliche Ordnung und Ent- 
wickelung der Materie zur Welt geschildert. Gott wirkt durch 
seinen ausgesprochenen Willen; so dass, entsprechend der rein 
geistigen Natur Gottes, auch das Mittel der Schöpfung ein 
rein geistiges ist. Das erste, was nun entsteht, ist das Licht ^ 
und zwar das Licht nicht gebunden an einen materiellen Körper, 
(z. B. die Sonne) und von demselben ausstrahlend, sondern 
losgrföst von jedem körperlichen Substrat, im Gegensatz zur 
Finsternis. Wir meinen hiermit den Lichtäther y welcher durch 
das ganze Weltall zerstreut sich vorfindet und auch da wahr- 
genommen wird, wohin noch nie ein Strahl der Sonne oder 
der anderen Gestirne geschienen hat. Die Taucher nämlich 
beobachten in sehr grossen Meerestiefen Lichtstrahlen ; ebenso 
finden die Berg- Arbeiter in den Schächten der Erde, welche 
weit unter der Oberfläche liegen, das Leuchten von Licht, 



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— 102 — 

ohne dass jemals ein Strahl der Sonne dorthin gekommen 
wäre. 

Da nun mit Erschaffung des Lichtes die Finsternis nicht 
für immer und auch nicht tiberall beseitigt ist, beide auch 
nicht in einem Räume zugleich existieren können; so schied 
Gott zwischen Licht und Finsternis in der Art, dass beide 
zeitlich miteinander abwechseln können. Daher wurde, ent- 
sprechend der Wirklichkeit, die Finsternis der Nacht, und das 
Licht dem Tage zugewiesen. Mit Entstehung des Lichtes 
begann also der Wechsel von Nacht und Tag, der Unterschied 
der Zeiten : die innerweltliche Zeit, Auf der III. kosmogonischen 
Stufe stehen somit das Licht, und als Folge der Scheidung 
des Lichtes von der Finsternis: der Wechsel der Zeiten. 

Es heisst weiter: es ward Abend und Morgen: ein Tag, 
d.h.: der erste Tag, nämlich der Beginn der Zeitenfolge als 
einer durch die Bewegung und den Kreislauf der Erde unter- 
schiedenen und messbaren Zeit. Der Abend geht voraus, weil 
vordem die Finsternis war. — Die nun folgende Bildung der 
„Veste" bedeutet das Himmels-Gewölbe = der die Erde um- 
gebende Luft-Kreis (Atmosphäre), welcher sie als Einzelkörper 
im Welträume begrenzt. „Veste" heisst im Hebräischen: 
^■'Rl (TT€p^u)|Lia nach der Septuaginta, und firmamentum nach 
der Vulgata. ^^[^r\y wörtlich: Ausbreitung; mit Q^^^n: die 
Ausbreitung des Himmels = Himmelsgewölbe, welches nach 
dem Augenscheine wie eine Halbkugel auf der Erde ruht. 
(Gesenius.) Auf die Scheidung von Licht und Finsternis, in 
zeitlicher Beziehung: Tag und Nacht, folgt daher die Scheidung 
des Urwassers in räumlicher Beziehung: Wasser oberhalb 
und unterhalb des Firmamentes. Die Produkte der IV. kos- 
mogonischen Stufe sind somit: der sichtbare, feste Himmel 
und die durch denselben räumlich voneinander geschiedenen 
Teile des Urwassers. — Die Grundwesen der II. kosmo- 
gonischen Stufe, nämlich Finsternis und Urmaterie, befinden 
sich nicht mehr im Urzustände, sondern haben sich in räum- 
licher und zeitlicher Beziehung ausgestaltet. 

Das nächste Werk des göttlichen Willens ist die Scheidung 
des Trockenen vom Flüssigen, d.h.: des Festlandes und des 
Meeres. Diese Scheidung könnte nun so stattgefunden haben, 
dass das feste Land schon ursprünglich im Urwasser vor- 



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- I03 — 

banden war und jetzt sichtbar wurde, indem das Meerwasser 
davon abfloss. Denken wir uns etwa, wie nach einer heutigen 
Überschwemmung das Wasser wieder zurücktritt. Vielleicht 
aber bestand das Urwasser aus einer Mischung von festen 
und flüssigen Stoffen, welche sich jetzt voneinander absonder- 
ten. Der biblische Text lässt die Sache unentschieden. Die 
Überlieferung bei Ovid ist für die letztere Ansicht: „Da wo 
Äther, alldort war Erdreich, Luft und Gewässer. So war 
nicht zum Stehen das Land, zum Schwimmen die Woge; 
Lichtes entbehrte die Luft, die Gestalt blieb keinem beständig. 
Eines war feindlich im Wege dem andern, weil in der Masse 
Kaltes im Streite stets lag mit Warmen, mit Trockenem Feuchtes, 
Weiches mit Hartem, und dem Gewichtigen das, was gewicht- 
los. Aber dem Zwist gab Schlichtung ein Gott und die bessere 
Triebkraft. Denn er schied von dem Himmel das Land, und 
vom Lande die Wogen, und von der dunstigen Luft los trennt 
er den lauteren Himmel. Als er sie so entwirrt und der 
finsteren Masse entnommen, schloss er gesondert im Raum sie 
zusammen in friedlicher Eintracht: Ohne Gewicht stieg auf 
lichtvoll des gewölbeten Himmels feurige Kraft und ersah 
sich die Statt* in der obersten Höhe. Ihm ist am nächsten die 
Luft an Ort und Leichtigkeit, dichter aber als sie zog an die 
gröberen Teile die Erde, niedergedrückt durch eigenes Gewicht. 
Das umströmende Wasser wählte den äussersten Sitz und 
umschloss den gefestigten Erdkreis.** 

Es sind daher die kosmogonischen Produkte der V.Stufe: 
das Festland und das Meer. Damit ist der Schöpfungsbericht 
bei jenem Teile der Welt angelangt, welcher von Menschen 
bewohnt wird. (Cf. Franz Lucas „Die Grundbegriffe in den 
Kosmogonien der alten Völker", Leipzig 1899, S. 33 f.) Die 
hl. Schrift erzählt nun weiter, dass Gott, der Herr, der Reihe 
nach: Pflanzen (3. Tag), Gestirne (4. Tag), Wassertiere und 
Vögel (5. Tag), endlich die Landtiere entstehen liess und 
zuletzt als Krone der sichtbaren Schöpfung den Menschen aus 
dem Staube der Erde erschuf (6. Tag). 

Wie ein Kommentar zu der Darstellung der hl. Schrift 
lesen sich die nachstehenden Verse des Ovid: 
„Kaum nun hat er (Gott) umgezäunt das alles in sichere Grenzen, 
Als die Gestirne, die sich lange gepresst in jenem Gewoge, 



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— I04 — 

Bargen, am Himmel umher glanzreich anhüben zu leuchten. 
Jetzt auch, damit kein Raum ermangele seiner Bewohner 
(Haben den himmlischen Sitz mit den Sternen die Götter- 
gestalten) 
Wohnstatt ward in den Wellen den glänzenden Fischen; 
Tiere bekam das Land, und Vögel den regsamen Luftraum. 
Aber es fehlete noch ein Geschöpf y das höher an Würde, 
Mit tief denkendem Geiste den anderen könnte gebieten: 
Siehe, da wurde der Mensch!^ 

Wenn wir nun die Grundbegriffe der Kosmogonie, welche 
die Genesis enthält, zusammenstellen, so ergibt sich nach- 
stehende Reihenfolge: 

1. Gott ist der allmächtige, alleinige Schöpfer des Himmels 
und der Erde; er allein ist die Ursache der Welt. 

2. Gott erschuf zuerst die Urelemente zur Bildung der 
Erde usw., welche nach ihrem damaligen gas- oder luftförmigen 
Zustande Urwasser genannt werden, von Finsternis umgeben. 

3. Der göttliche Wille ist das wirkende Mittel bei der 
Schöpfung. 

4. Das Urlicht (Lichtäther) wird erschaffen; es folgt 
eine Scheidung des Lichtes von der Finsternis in zeitlicher 
Beziehung; es entsteht der Wechsel von Tag und Nacht = die 
messbare Zeit. 

5. Das feste Himmelsgewölbe (Atmosphäre); Scheidung 
des Urwassers in einen oberen und unteren Teil. 

6. Festland und das Meer, entstanden durch Scheidung 
aus dem unteren Teile des Urwassers. 

6. Am Himmel leuchten die Gestirne; die Luft erhält 
Vögel, das Wasser seine Fische, das Land seine Tiere ; endlich 
erscheint der Mensch auf Erden. 

Der Grundgedanke in der Kosmogonie der Genesis ist 
folgender: die Welt ist das freie Werk des einen, allmächtigen 
Gottes; dieser Gedanke wird mit Konsequenz festgehalten und 
durchgeführt. Die erste wirkende Ursache bleibt Ursache 
durch alle Stufen der Kosmogonie hindurch. Hierin offenbart 
sich ein wesentlicher Unterschied von allen Schöpfungsberichten 
der anderen Völker, in welchen eine Vielheit göttlicher Wesen 
tätig erscheint. Nach der hl. Schrift entstehen die Haupt- 
teile der Welt nicht wie Produkte der Willkür, sondern die 



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- JOS - 

Entstehung der Welt geht von der Urmaterie aus, welche 
Gott zu diesem Zwecke erschaffen hatte^ und steigt Schritt für 
Schritt in naturgemässer Abstufung von dem in zeitlicher, 
räumlicher und materieller Beziehung noch vollständig Unter- 
schiedlosen, zu den in allen diesen Beziehungen bestimmten 
Hauptteilen der Welt voran. Konsequent wie der Zweck 
und die wirkende Ursache, ist auch der stufenförmige Ent- 
wickelungsgang der biblischen Kosmogonie. 

Sowohl was die kurze und bündige Form, welche jeden 
die Klarheit der Gedanken verhüllenden Mythus ausschliesst, 
als auch den übersichtlichen zweck- und zielentsprechenden 
Stufengang anbelangt, unterscheidet sich die Kosmogonie der 
Genesis höchst vorteilhaft von allen anderen Kosmogonien der 
Alten. Moses wollte eben nur die geschichtliche Wahrheit 
berichten, wozu ihn seine göttliche Sendung gegenüber den 
meistens sagenhaft ausgeschmückten Darstellungen der Heiden 
besonders befähigte. Diese nämlich setzen eine ewige Ur- 
materie voraus: Chaos = leerer Rairni, dann: die den leeren 
Raum erfüllende verworrene Masse der GrundstojfiFe (Hesiod, 
Ovid usf.), Zeit (Nacht), Finsternis, Stoff und Triebkraft (Geist). 
Gott bildet nach ihrer Ansicht die Welt aus einem vorhandenen 
Stoffe und ist selbst ein erschaffenes Wesen. 

Hesiod speziell (um es zu wiederholen), führt in seiner 
Kosmogonie nachstehende Stufenreihe auf: 

1. Xdo^, der absolute leere Ramn, welcher bestimmt ist, 
die Welt aufzunehmen, imd als solcher die erste Voraussetzung 
derselben. 

2. StoflF, Kraft, Finsternis, Nacht. 

3. Tag und Nacht = Wechsel der Zeiten. 

4. Die Götter, welche aber bei ihm keine kosmogonische, 
sondern nur eine religiöse Bedeutung haben. 

Darum spricht Moses scheidend sum Volke Israel: „Das 
ist eure Weisheit und Einsicht vor allen Völkern der Erde, 
dass dieselben bei dem Vernehmen aller dieser Worte sagen : 
'Siehe, nur dieses Volk ist weise und verständig. Dieses grosses 
Volk!' Ja, welches andere Volk ist so erhaben, dass es hätte Zere- 
monien, gerechte Gebote und das ganze Gesetz, welches ich heute 
vor eueren Augen darlegen werde?!'' (Cf. 1. Deuteronomii 
c. 4, V. 6 — 9.) Die Lehre von der Erschaffung der Welt durch 



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— 106 — 

Gott aus nichts besitzt nur die hl. Schrift: rTiarei vooujLiev 
KaTiipTiaGai tou^ aiüjvai; prijLiaTi 0eou ei^ t6 jiiri ^k qpaivojiievtjv tö 
ßXeßxöiLievov TCTOv^var Fide intelligimus aptata esse saecula 
verbo Dei, ut ex invisibilibus visibilia lierent. ^ Durch den 
Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort er- 
schaffen ist, so dass aus Unsichtbarem Sichtbares wurde." 
S. Pauli ep. ad Hebraeos e. 11, v. 3. 

Da nun von allen Kosmogonien des Morgen- und Abend- 
landes die lateinische von Ovid dem Schöpfungsberichte der 
Genesis am nächsten kommt, so verlohnt es sich der Mühe, 
die merkwürdige Übereinstimmung, welche sich sogar im Wort- 
laute der Darstellung offenbart, im einzelnen durchzugehen. 
Vgl. S. 92 f. 

Genesis c. I. v. 2 sq.: „terra autem erat inanis et vacua, 
et tenebrae erant super faciem abyssi." Die Erde aber (noch) 
gestaltlos und leer, und Finsternis war über dem Abgrund 
(einer Flut). 

Metamorphoseon L I., v. 5 seq.: „. . . Quem dixere Chaos: 
rudis indigestaque moles . . . Nullus adhuc mundo praebebat 
lumina Titan." Chaos nannte man sie (die Grundstoffe): eine 
gestaltlose, leere Masse. . . Noch sandte nicht Titan seine 
Strahlen der Erde; (es war also Finsternis auf der Erde.) 

Aber nicht bloss der Sinn, auch die einzelnen Worte sind 
sich ähnlich: „terra erat inanis et vacua" und: „rudis indiges- 
taque moles"; ferner: „facies abyssi" und: „quem dixere 
Chaos". — Ableitung: Xdoi;, vom Stamme xaivu) = gähnen, klaffen, 
weit offen stehen, = Abgrund, der unermesslich leere Raum; 
hier genauer: die den leeren Raum erfüllende ungeordnete 
Masse der Grundstoffe, aino gleich Xdoq des Ovid, gleich 
äßuaao^ der Septuaginta, und facies abyssi der Vulgata = 
Tiefe, Abgrund (des Weltozeans). Die Urstoffe waren näm- 
lich in einem flüssigen, luft- oder gasföcm^eD; Zusftinite 
(„Aggregatzustande") v^^handen. (Vgl. oben S. 99.) Ebenso: 
„Tendp^rae erant super faciem abyssi*' imd „Nnlltks affirac mimdo 
praebebat lunuaaTitan". Moses berichtet als Geschichtschreiber ; 
Ovid malt aus als Dichter. 

Auch die Darstellung des Sechstagewerkes nach der 
Genesis ist in den Metamorphosen enthalten: 

Met am. /. i., 7 seq : „Utque erat et tellus et pontus et 



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-- 107 — 

a^r, Sic erat instahilis tellus, innabilis unda . . . Lucis egens 
aer ..." Bereits waren die Elemente für Land, Wasser und 
Luft schon vorhanden; aber: „Noch nicht war fest das Land, 
flüssig das Wasser, lichtvoll die Luft." 

• Ebenso finden wir bei Ovid die Ordnung des form- und 
lichtlosen Stoffes durch Gott: „Hanc Dens et melior litem 
natura diremit." Diesen inneren Streit (das Durcheinander- 
wogen der gestaltlosen Urelemente) ents,chied Gott und die 
bessere Triebkraft (Natur). 

Zum Werke des 2. Schöpfungstages sind zu vergleichen: 

Genesis L, v. 6 — 9 und Metamorphosen L, 21 — 30. 

Zum 3. Tage: Genesis c. L, 9 — 11; und Metamorphosen 
1. L, 30—38 ; 43—45. 

Zum 4. Tage: Genesis c. I., 14—18; und Metamorphosen 
1. L, 69—72. 

Zum 5. Tage: Genesis c. I., 20—24; und Metamorphosen 
1. L, 72-75. 

Zum 6. Tage: Genesis c. I., 24 — 31; und Metamorphosen 
1. L, 75—88. 

Die Erschaffung des Menschen aus dem Staube der Erde 
berichtet die Genesis c. I., v. 26 — 31, die Metamorphosen 1. L, 
V. 76 — 88. Ovids Darstellung ist sehr edel und erinnert unwill- 
kürlich an das Referat der hl. Schrift, so dass auch die moderne 
Philologie dies anerkennt. Moses besagt in hebräischer Sprache, 
was unser Ovid, mit heidnischem Götterglauben untermischt, 
in lateinischen Versen besingt. (Cf. die Ausgabe der Metamor- 
phosen des Ovid von Dr. Johannes Siebeiis, 15. Auflage 1892, 
Leipzig bei B. G. Teubner ; besorgt durch Prof. Dr. Friedrich 
PoUe, S. 6, Anmerkung.) 

Wir können es uns nicht versagen, den schönen und vor 
trefflichen Text hier ganz wiederzugeben: 

^Sanctius his (sc, bestiis) animal mentisque capacius altae 
Deerat adhuc, et quod dominari in caetera posset, 
Natus homo est (humus = Erdboden ^), sive hunc divino semmc 

fecit 



1) Humus = Erdboden wie D^ö« von n'J'i^i; Lactantius 1. de ira Dei, 
c. X, p. 540 sagt: „homo ex humo dictus est." Ferner „Divinarum In- 
stitutionum" 1. II. de origine erroris, p. 82 : „Enimvero Deus hominem ex 



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— io8 — 

nie opifex rerum, mundi melioris origo, 
Sive recens tellus seductaque nuper ab alto 
Aethere cognati retinebat seraina codi; 
Quam satus Japeto mixtam pluvialibus undis 
Finxit in effigiem moderantum cuncta deorum. 
Pronaque quum spectent animalia caetera terram 



humo sublevavit et ad contemplationem artificis sui erexit quod Ovidius 
poeta ille ingeniosus signavit: 

„Pronaque quum spectent animalia cetera terram 
Os homini sublime dedit, coelumque videre 
Jussit et erectos ad sidera tollere vultus." 
Graeci hominem dicunt Ävepuiirov, quod sursum spectet; övui xp^iruiv Öira. 
Plato in Cartylo appellatum esse existimat quasi dvpepuiv ä öiruixe. Lacantii 
Firmiani opera quae exstant omnia. Ausgabe zu Leyden 1652. 

Lactantius sagt in seinem Buche „Über den Zorn Gottes" c. 10, 
S. 540: „Der Mensch hat seinen Namen vom Staube der Erde (Erd- 
boden) erhalten: homo ex humo dictus est." Und in seiner Dogmatik 
(„Divinae Institutiones"), Buch II. „Über den Ursprung des Irrtums", 
S. 82, führt er aus : ,,Gott erhob den Menschen aus dem Staube zur Be- 
trachtung seines Schöpfers; im Gegensatze zu den Tieren, welche zur 
Erde schauen", und zitiert dann die betreffenden Worte aus Ovid. (Vgl. 
oben.) Plato („Cratuli" n. 399, p. 262, c. editionis Henrici Stephani 1782, 
Zweibrücken) hominem appellatum esse existinat quasi dvaOpüöv ä öirui- 
ircv = contemplans quae vidit „Das Geschaute betrachtend" (ävOpuiiroO- 
Plato leitet in seinem Dialog „Cratylus" das Wort ävGpunrot; Mensch von 
dvaepdiw = betrachten, ab. Die ganze Stelle lautet also: Iimaivai touto 
t6 övo^a:ö ÄvGpiüiro^, ÖTi tA |li^v ÄXXa 6/|pia, div öp^ oöö^ ImaKOiiet, oO 6^ 
dvaXoTiCcTai oö hk dvoOp^ * ö hk övepiüTrot; ä^a ^tbpaKC (toOto &' kßxX tö ^itumev) 
KaidvaOpel Kai dvaXoTtCeTai toOto ö gituiiicv ^vrcOecv hi\ (növov toiv eripiuiv 
6p6ui^ ö äv0pujfro<; divo^daGii : dvaöpütiv d girujirev Hominis nomen illud 
significati quod cetera quidem animalia, quae vident, non considerant 
neque animadvertunt neque contemplantur; homo autem, et vidit simul et 
contemplatur animadvertitque quod videt. Hinc merito solus ex omnibus 
animantibus homo = dvepunroc est nuncupatus, quasi dva6p<Dv (contem- 
plans) quae Siriwircv, i. e. : vidit. — Der Name „Mensch^' (dv6puiiro0 hat 
folgende Bedeutung; während die übrigen lebenden Wesen das, was sie 
mit ihren Augen wahrnehmen, weder prüfend ansehen, noch mit Auf- 
merksamkeit betrachten, nach allen Seiten erwägen; ist es der Mensch 
allein, welcher, sobald er etwas gesehen hat, es sogleich mit Aufmerksam- 
keit betrachtet und es prüfend erwägt. Daher wird auch mit Recht der 
Mensch allein von allen lebenden Geschöpfen ävepujiTo<; = homo genannt, 
weil er das kritisch betrachtet, was er gesehen hat (also: dvepunroc von 
dvaepdiv d ^Ttuiircv = contemplans quae vidit = „das Geschaute betrachtend"). 



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-— 109 — 

Os homini sublime dedit coelumque videre 

Jussit et erectos ad sidera tollere vultus, 

Sic modo quae fuerat rudis et sine imagine tellus, 

Induit ignotas hominum con versa figuras!'' 

Die hl. Schrift sagt: „Et creavit Deus horainem ad ima- 
ginem suam." (Genesis c. I., v. 27.) Gott schuf den Menschen 
nach seinem Ebenbilde, d. h. mit einer geistigen, unsterblichen 
Seele, begabt mit Verstand, Vernunft und freiem Willen. (Das 
natürliche Ebenbild Gottes.) Ovid: „Finxit (hominem) in effigiem 
moderantum cuncta Deorum**, was das nämliche in griechisch- 
römischer Anschauung bedeutet. Effigies ist nämlich das einem 
Original entsprechende Bild, Abbild, Ebenbild. Dasselbe wird 
im hebräischen Texte durch abi:, und bei der Septuaginta 
durch eiKujv ausgedrückt. Den Grund, warum der Mensch 
nach dem Ebenbilde Gottes erschaffen wurde, gibt Ovid mit 
den Worten an: „Sanctius his (sc. bestiis) animal mentisque 
capacius altae, deerat adhuc, et quod dominariin caetera passet : 
natus hämo est.^ Aber es fehlete noch ein Geschöpf, das 
höher an Würde, mit tiefdenkendem Geiste den anderen könnte 
gebieten: Siehe ^ da *wurde der Mensch/ Die Genesis (Vulgata) 
berichtet: „Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem 
nostram (kqt' eiKÖva f||LieTepav Kai Ka0' Ö|lioiu)(Tiv, Septuaginta — ; 
nsnians ^a^^bxa der hebräische Text) : et praesit piscibus 
maris et volatibus et bestiis universaeque terrae,^ Lasset uns 
schaffen einen Menschen nach unserem Ebenbilde, su unserem 
Gleichnisse^)] und er herrsche über die Fische des Meeres, die 
Vögel der Luft, die vierfUssigen Tiere und über die ganse 
Erde!"" Genesis I., 26. 

Gottes Plan war also, den Menschen zu seinem Stell- 
vertreter auf Erden einzusetzen. Unter seiner denkenden 
Leitung und Anordnung war die irdische Natur berufen, sich 
in der von Gott gewollten Art und Weise zu entwickeln und 
den Zweck zu erfüllen, für welchen er sie erschaffen hatte. 



^) Die Worte „nach unserem Gleichnisse" werden von den Kirchen- 
vätern mitunter auf das übernatürliche Ebenbild Gottes bei dem Menschen 
bezogen = „die übernatürliche Heiligkeit und Gerechtigkeit." Cf. H. Hurter, 
S. J. „Theologiae Dogmaticae" IL Teil, S. 234, n. 343 sq., 4. Auflage, 
Innsbruck 1883; Kaulen „Der biblische Schöpfungsbericht", S. 74, n. 
79 sq. 1902. 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 9 



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Interessant ist die Wahrnehmung, dass der heidnische Dichter 
sich darin gefällt, die himmlische Abstammung des Menschen 
zu besingen {„sancttus his (sc. bestiis) animal . . . homo natus 
est^), während die heutigen ungläubigen Philosophen sich ab- 
mühen, die Abstammung des Menschen aus dem Tierreiche 
wissenschaftlich zu konstruieren!^) — (Prof. Ernst Haeckel in 
Jena). Hierbei wird man unwillkürlich an die prahlerische 
Verheissung der Schlange im Paradiese erinnert, welche in 
lügenhafter Weise unseren Stammeltern zuraunte : „Eritis sicut 
Diu" „Ihr werdet sein wie die Götter!" Das war die Ver- 
heissung. Die ungläubigen Gelehrten aber verkündigen die Er- 
füllung: „Simia estis prognati!" „Ihr stammt von den Affen ab!" 

Welch bittere Ironie! — Der königliche Sänger David 
spricht über diese Geistesrichtung schon im 48. Psalme v. 13 
und 21: „Homo quum in (tanto) honore esset, (ut filius Dei et 
a Deo creatus sit) non intellexit, comparatus est jumentis 
insipientibus et similis factus est illis!" „Der Mensch, obgleich 
er von Gott so hoch geehrt war (dass er als Kind Gottes zur 
ewigen Seligkeit berufen und von Gott selbst dazu erschaffen 
ist), hat diese Vorzüge nicht begriffen; er entwürdigte sich 
vielmehr zu den unvernünftigen Tieren und ist ihnen ähnlich 
geworden.^ Weil die Menschen in ihrem Leben den Tieren 
so oft ähnlich sind, darum muss die Wissenschaft den Beweis 
erbringen, dass sie auch von den Tieren abstammen. 

Die Erschaffung der Welt aus nichts lag dem Ideenkreise 
des Heidentums zu ferne, als dass ein Dichter sie hätte be- 
singen können. Das glückliche Leben aber im Paradiese (Genesis 
V. 8 sq.) c. II., beschreibt Ovid mit folgenden Worten: 

y^Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo 
Sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. 

^) Als Vertreter dieser Ansicht werden besonders Prof. Carl Vogt 
(Genf) und Prof. Ernst Haeckel (Jena) bezeichnet. Letzterer hat durch 
seine Vorträge, welche er im April 1905 zu Berlin hielt, Aufsehen erregt. 
P. E. Wasmann, S. J. (Luxemburg), trat ihm mit einem offenen Send- 
schreiben kräftig entgegen und führte überzeugend aus: „Die tierische 
Abstammung des Menschen dem Leibe nach ist in jeder Beziehung noch 
Hypothese^ nicht aber feststehende Wahrheit^ wie Sie, Herr Professor, es darzu- 
stellen belieben." Vgl. „Kölnische Volks-Zeitung'* Nr. 358, S. 2, vom 
Dienstag den 2. Mai 1905. Auch Prof. Rudolf Virchow zu Berlin war 
ein Gegner der Affen-Theorie. 



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^ tit — 

Poena metusque aberant, nee verba minatitia fixo 
Aere legebantur, nee supplex turba timebat 
Judicis ova sui, sed erant sine vindiee tuti. 
Nondum caesa suis, peregrinum ut viseret orbem, 
Montibus in liquidas pinus deseenderat undas, 
Nullaque mortales praeter sua litora norant. 
Nondum praeeipites cingebant oppida fossae; 
Non tuba dereeti, non aeris eornua flexi, 
Non galeae, non ensis erant: sine militis usu 
Mollia seeurae peragebant otia gentes. 
Ipsa quoque immunis rastroque intacta nee uUis 
Saueia vomeribus per se dabat omnia tellus ; 
Contentique eibis, nuUo eogente ereatis 
Arbuteos fetus montanaque fraga legebant 
Cornaque et in duris haerentia mora rubetis, 
Et quae deciderant patula Jovis arbore glandes. 
Ver erat aeternum, plaeidique tepentibus auris 
Mulcebant zephyri natos sine semine flores. 
Mox etiam fruges tellus inarata ferebat, 
Nee renovatus ager gravidis canebat aristis; 
Fluntina jam laclis, jam flumina nectaris ibant 
Flavaque de viridi stillabant ilice mella,^ 
j^Erst nun sprosste von Gold ein Geschlecht, das sonder Be- 

wachung 
Willig und ohne Gesetz ausübte das Recht und die Treue. 
Strafe wie Fureht war fern: noeh lasen sie drohende Worte 
Nicht am gehefteten Erz; noeh stand kein flehender Haufe 
Bang vor des Riehters Gesieht: Sehutz hatten sie ohne den 

Riehter. 
Noch nicht hatte, gefällt auf heimischen Bergen, die Fiehte 
Andere Welt zu sehen, sieh gesenkt in die flüssigen Wogen. 
Noch von keinem Gestad\ als dem ihrigen wussten die Mensehen. 
Noch umgürteten nicht abschüssige Gräben die Städte. 
Kern krummgehendes Hörn und keine gestreckte Drommete 
War, kein Helm, kein Sehwert. In behaglicher Müsse vergingen, 
Ohne des Krieges Bedarf die sicheren Tage den Völkern. 
Undienstbar und verschont von dem Karst und von sehneiden- 
der Pflugsehar 
Nimmer verletzt, gab alles von selbst die gesegnete Erde. 



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— 112 — 



Und mit Speisen begnügt, die zwanglos waren erwachsen, 
Lasen sie Arbutusfrucht, Erdbeeren an sonniger Halde; 
Oder an rauhem Gerank Brombeeren und rote Korallen, 
Und von dem ästigen Baum des Jupiters fallende Eicheln. 
Da 'War ewiger LenSy und gelind mit lauem Gesäusel 
Koste die Blume der West, die sprosseten ohne Besamung. 
Nicht vom Pfluge bestellt, trug bald auch Halme die Erde; 
Ohne zu ruh'n ward grau von belasteten Ähren der Acker. 
Ströme von Milch nun wallten daher und Ströme von Nektar ^ 
Und gelb tropfte herab von grünender Eiche der. Honig. ^ 

Vgl. libri Exodi c. III. v. 8: ^Ein Land, welches von Milch 
und Honig fliesst.^ 

Was nun die Nahrung der ersten Menschen betrifft, so 
sagt hierüber die hl. Schrift: Gott sprach zu ihnen: „Siehe, 
ich gebe euch alle samentragenden Gewächse, welche auf der 
ganzen Erde sind, und jeden Baum, an welchem eine samen- 
tragende Frucht ist; euch soll dies zur Nahrung dienen. Und 
allem Getier der Erde und allem Fliegenden des Himmels 
und allem Kriechenden auf Erden, in welchem eine lebende 
Seele ist, gebe ich alles grüne Kraut zur Nahrung.** Cf. Genesis 
I., 29 sq. So wörtlich nach dem hebräischen Texte. 

Zu bemerken ist aber, dass nur die höher organisierten 
Pflanzen zur Nahrung der lebenden Organismen bestimmt 
waren. Für die Menschen galten zunächst Früchte und Körner, 
besonders in ihrer Verarbeitung zu Brot ; für die Tierwelt aber 
das Grün der Pflanzen: Gras und Kraut. 

Die Worte Gottes, Genesis I., 29 sind so zu verstehen, 
dass der Mensch im Anfange seines Daseins nur auf pflanz- 
liche Nahrung angewiesen war. Eine Änderung hierin trat 
erst ein, als die Sündflut über die Erde hingegangen war. Die 
klimatischen Lebensbedingungen waren nunmehr andere gewor- 
den, und die früher überall gleiche Fruchtbarkeit des Bodens 
hatte aufgehört. Auch war es notwendig, die Menschen von 
der Vergötterung der Tierwelt abzuhalten. (Cf. Comelii Taciti 
„Historiarum** 1. V., c. 4, n. 5.) Aus diesen Gründen ward die 
ursprüngliche Anordnung Gottes so erweitert, dass den Menschen 
auch der Fleischgenuss von Tieren frei gegeben wurde. Die 
Genesis c. 9, v. 3 berichtet (nach der Sündflut): ;,Und alles, 
was sich reget und lebet, sei euch zur Speise; gleichwie das 



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— 113 — 

grünende Kraut („Pflanzengrtin") habe ich euch das alles 
gegeben." (Cf. Genesis c. I., v. 29.) Eine Beschränkung des 
Fleischgenusses ist Genesis c. 9, v. 4 angegeben: „Nur Fleisch 
mit dessen Blut sollet ihr nicht essen!" Dieses Verbot wurde 
auf dem Apostel-Concilium (zirka 50 p. Chr.) von neuem ein- 
geschärft (cf. Actus Apostolorum c. 15, v. 29): ^Enthaltet euch 
von dem Götzenopfer und dem Blute!" Ein ähnlicher Grund 
lag vor, als S. Bonifatius, Apostel der Deutschen, im Auftrage 
Papst Gregor III. a. 731 seinen Neubekehrten den Genuss von 
Pferdefleisch untersagte : „Enthaltet euch von dem Götzenopfer 
und dem Pferdefleische !" (Cf. Othlonis Vita Bonifatii 1. 1, c. 32; 
Epistola 122, editionis N. Serarii.) — Die Pferde 'waren dem 
Wodan heilig, — Die Kenntnis der Tatsache, dass die ersten 
Menschen sich mit Pflanzenkost begnügt haben, ist durch die 
Uroffenbarung im Heidentum stets erhalten worden. Die 
Allgemeinheit dieser Überlieferung bezeugen ausserdem, was 
Diodorus Siculus (Zeit des Augustus) BißXioGriKii^ 'laropiKTi^ 1. 1, 
c. 43; 1. II., c. 38 von den Aegyptern und Indiern, Posidonius 
(bei Strabo reuüTpaqpiKwv 1. 7, c. 3; 3 C. 296; unter Augustus und 
Tiberius} von den Mysiem; Porphyr ius (233 — 304) „De 
abstinentia" 1. II, c. 27 von den Syriern anführt, besonders die 
Angaben Piatos (427—348/47) „De Legibus" 1. 6, 782, c. sowie 
Plutarchs (46—120 p. Chr.) Iu^^T6(Tlov 16; 159 C: dass in dem 
Altertum keine Fleischspeisen verzehrt und deswegen auch 
den Göttern keine Tiere geopfert wurden. Sie fügen noch 
hinzu, dass man es auch zu ihrer Zeit für besonders gewissen- 
haft gehalten habe, auf das Fleischessen zu verzichten. 

Am deutlichsten finden wir diese Tradition bei Ovid 
Metamorphosen 1. 15, v. 96 sq.: 

At vetus illa aetas, cui fecimus aurea nomen, 
Foetibus arboreis, et, quas humus educat, herbis 
Fortunata fuit, nee poUuit ora cruore. 
Tunc et aves tutae movere per aöra pennas, 
Et lepus impavidus mediis erravit in herbis 
Nee sua credulitas piscem suspenderat hämo: 
Cuncta sine insidiis nuUamque timentia fraudem 

Plenaque pacis erant nostrumque petentia letum, 

Corpora missa neci salva pietate f atemur. 

Sed quam danda neci, tam non epulanda fuerunt. 



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— 114 — 

^Aber es war ja jenes Alter, das wir das goldene 

Nennen, glücklich bei Baumfrucht und Kräutern, welche die 

Erde 
Bringt, und die Menschen entweihten sich nicht durch das Blut. 
Zu der Zeit schwang noch sicher der Vogel in der Luft sein 

Gefieder, 
Und der Hase lief ohne Scheu auf den Feldern, und seine 
Leichtgläubigkeit hing nicht den Fisch an die Angel. 
Da war noch alles ohne Gefahr und lebte, sich vor Betrug 

nicht 
Fürchtend, in völligem Frieden . . . Und ich gestehe, dass Tiere, 
Die uns zu schaden suchen, ohne Verletzung der Menschheit 
Können getötet werden. Aber obgleich sie getötet 
Werden konnten, so sollte man doch sie nicht essen!" — 

Mit Rücksicht auf das Vorhergehende (Seite 83 und 84) 
können wir die Kategorie I nennen : die auf Grund der ersten 
Offenbarungen Gottes zwischen der Bibel und dem klassischen 
Altertum unzweifelhaft bestehenden stofflichen Übereinstim- 
mungen und Verwandtschaften nämlich. 

2. Der Engel Sturz. 

Die hl. Schrift erzählt uns von einer Empörung der Engel 
in den Himmelsräumen, deren Erschaffung Genesis I., l, vgl. 
Buch lob c. 38, 4 und 7, angedeutet und im Kolosser-Briefe 
c. l, V. 16 näher beschrieben wird. Sie berichtet ferner von 
dem Stolze ihres Anführers Lucifer, dass derselbe sogar den 
Thron Gottes erstürmen wollte, aber mit semem ganzen An- 
hange wie ein Blitz hinabgeschleudert wurde. Der Prophet 
Isaias redet den Lucifer an: „Wie bist du gefallen vom Himmel, 
Glanzstern, Sohn der Morgenröte!" (Nach dem Hebräischen.) 
„Du bist hinabgeschmettert zur Erde, du Völkerzertreter! Der 
du gesprochen hast in deinem Herzen: zum Himmel will ich 
aufsteigen, über die Gestirne Gottes erhöhen meinen Thron, 
niedersitzen will ich auf dem Berge des Zeugnisses, von des 
Nordens Seiten." „Aufsteigen will ich über die Höhen der 
Wolken: gleich will ich sein dem Allerhöchsten!^ 

„Ja wohl: — zum Totenreiche stürzest du hinab, in die 
Tiefe des Abgrundes!" — (Libri Isaiae c. 14, 12—17.) 

Diese Worte beziehen sich zwar nach dem unmittelbaren 



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— 115 - 

Zusammenhange zunächst auf Babylon und seine gewaltigen 
Herrscher, welche als ältestes Weltreich (cf. Genesis X., 10) 
aus dem Dunkel der Urzeiten wie „frühe Morgensterne" her- 
vorstrahlten. Insofern aber Babylon „das Weltreich**, sein 
König auch „den Hochmut" sowie das titanenhafte Streben, 
sich „zum Gotte dieser Welt" zu machen, repräsentiert, stehen 
die prophetischen Züge (Vers 12 — 17) in geschichtlichem und 
sinnverwandtem Zusammenhange mit „dem Fürsten dieser 
Welt", dem gefallenen Engel (Lucifer = Morgenstern, cf. liber 
lob c. 38, 7), und seinem Sturze aus der Höhe des Himmels 
in den Abgrund der Hölle. 

Christus selbst spricht (Evgl. S. Lucae c. 10, 18): „Ich 
schaute den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen; 
denn er hat (Evgl. S. Johannis c. 8, 44) in der Wahrheit nicht 
bestanden.^ Er wähnte nämlich, obgleich er nur ein Geschöpf 
war, so könne er doch Gott gleich sein. 

Die Kirchenväter: Ambrosius, Cyprianus und Hieronymus 
beziehen dieses Schauen des Engelsturzes auf ein Ereignis 
vor Grundlegung dieser Welt (cf. Evgl. S. Johannis c. 17,5); 
mithin vor der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Und die 
Bezeichnung dieser Verstossung Satans („des Fallens") aus 
dem Himmel, buchstäblich dem „Blitze" gleich, an Schnellig- 
keit, an Wucht und an Feuer, welches aus dem lichten Himmels- 
glanze in grimme und zerstörende Glut der Tiefe übergegangen 
ist, bestätigt diese Annahme. 

Gott, unser Herr, bediente sich bei diesem Strafgerichte 
nicht einmal seiner vernichtenden Allmacht, sondern überliess 
die Entscheidung den treu gebliebenen Engeln. Als Führer 
derselben trat Sankt Michael auf, dessen Name (i:«;^^»: j^Wer 
ist wie Gott}!"") gleichsam ihr Panier und Feldgeschrei war. 
Johannes, der Seher des himmlischen Jerusalems, berichtet 
hierüber also: „Es entstand ein grosser Kampf im Himmel: 
Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen, und der 
Drache stritt samt seinen Engeln; aber sie siegten nicht, und 
ihre Stätte ward nicht mehr gefunden im Himmel. Denn 
gestürzt ward jener grosse Drache, die alte Schlange, welche 
Teufel genannt wird und Satan, welcher irre geführt hat den 
ganzen Erdkreis.*^ (Cf. 1. Apocalypseos S. Johannis c. 12, 7 sq.) 

Die Israeliten wussten nämlich von alters her, dass der 



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— Ii6 — 

Satan und seine Genossen schon in grauer Vorzeit von Gott 
abgefallen und gestürzt waren. Aus diesem Grunde setzt das 
Referat in der Genesis c. 3, 1 sq.: „Die Schlange aber war 
listiger" usf. die Existenz und den Fall der bösen Geister als 
bekannt voraus. Der im neuen Testamente von dem Apostel 
S. Judas (Epistolae catholicae v, 9) angeführte Streit des Erz- 
engels Michael mit dem Satan um den Leichnam des Moses 
gibt nur die uralte t)berlieferung der Synagoge („Himmelfahrt 
des Moses**) über das Dasein, den Sturz und die gottfeindliche 
Wirksamkeit des Teufels wieder: „Michaäl aber, der Erzengel, 
als er im Wortstreite mit dem Satan kämpfte um die Leiche 
des Moses, erkühnte sich nicht, ein lästerndes Urteil zu fällen, 
sondern sprach (nur): ^Es schelte dich der Herr! ^ (Nachdem 
Griechischen.) Cf. IL Epist. S. Petri Ap. c. 2, 11. 

Darauf beziehen sich ebenfalls nachfolgende Stellen aus 
dem Buche lob c. 9, 13 und c. 26, 12. „Gott ist es, dessen 
Zorn niemand zu widerstehen vermag: vor ihm beugen sich 
(auch) die Ungeheuer, welche unter dem Himmel sind.** (Nach 
dem Hebräischen und der Septuaginta.) Cf. Epist, ad Philip- 
penses c. 2, 10. „Die Ungeheuer" bedeuten nach Didymus 
(310 — 395: Vorsteher der Katechetenschule zu Alexandrien) 
u. a. die abgefallenen Geister und ihren Führer „den Fürsten 
dieser Welt". Cf. Evgl. S. Johannes c. 12,31: Jetzt ist das 
Gericht über die Welt: jetzt wird der Fürst dieser Welt aus- 
gestossen !" 

Buch lob c. 26, 12: „Des Himmels Säulen erzittern vor 
seinem Dräuen: durch seine Kraft türmt sich plötzlich das 
Meer auf, und durch seine Vorsicht schlägt er das Stolze (die 
Stolzen = Satan und seine Genossen) nieder." Cf. Franz Zorell, 
S. J., „Zur Frage über Babel und Bibel", S. 9. 

Vor einigen Jahren entzifferte man eine assyrische 
Geschichte des Sündenfalles, welche viele Anklänge an die Ur- 
offenbarung enthält. In derselben wird vor dem Fehltritte 
der ersten Menschen die Empörung der bösen Geister mit- 
geteilt. An deren Stelle schuf der höchste Gott den Menschen, 
nachdem er die Himmelsrebellen Verstössen hatte. Das Ganze 
ist mit den glühenden Farben orientalischer Poesie ausgeschmückt. 
Cf. „Laacher Stimmen" Band 12, Seite 37 f. und Kaulen 
^Assyrien und Babylonien" Seite 160 f. — Das babylonische 



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— 117 — 

„ Schöpf ungsepos**, durch George Smith i. J, 1875 unter den 
Trümmern des Palastes Assurbanipals in Kujundshik aufgefun- 
den und durch einige Fragmente ergänzt, hat eine bereits stark 
verdunkelte Erinnerung an jenen Abfall und Kampf der guten 
und bösen Geister. Es heisst darin: Tiämat (hebräisch üinn, 
Tehöm=Meer, Abgrund), welche nach Jensen, Keil und Zorell 
hier als Weib erscheint, sonst der grosse Meeresdrache (Kaulen 
„Assyrien und Babylonien" S. 160 f.), erhob sich gegen alle 
Götter und schuf sich elf furchtbare Genossen als Helfer. 
Marduk aber und Gesellen rüsteten sich zum Streite gegen die 
Empörer, in welchem Tiämat mit ihrer ganzen Rotte besiegt 
wurden. Hugo Winkler „Himmels- und Weltenbild der Baby- 
lonier"^ S. 44, fasst diese Mitkämpfer Tiämats als die Ungeheuer 
des südlichen Sternhimmels auf, welche den Zeichen des Tier- 
kreises entsprechen. Cf. Buch lob c. 9, 13. 

Sehr anschaulich und ausführlich behandelt der griechische 
Dichter Hesiod diesen Vorgang in seiner Theogonie v. 643 — 745. 
Obgleich diese Stelle etwas lang ist, so wollen wir dieselbe 
doch um ihrer Vorzüglichkeit willen unverkürzt hier mitteilen: 

Af| TÖTe TOTq )Ll€T^€nT€ 71017) p dvOpOIV T€ 0€IÜV T€ ' 

KckXutc |Lioi fairiq t€ kqi Oupavoö dxXaa t^kvq, 
'Oqpp' eiTTU) xd |li€ 6u|iö<; dvi aTr\Qeaa\ KeXeuei. 
''HbT] T^P luiaXa bripöv ^vavTioi dXXrjXoicTiv 
H\Kr\<; Kai KpdTeo(; irepi )Liapvd|i€0' fiiiaja iravTa 
TiTfiveq T€ 9€oi, Ktti öaaoi Kpövou dKTevö|Li€<T0a. 
T|LieT<; bfe )Li€TdXriv t€ ßi^v kqi x^ipa^S &aiii:ov<; 
<t>aiv€Te TiTTivecTCTiv dvdvrioi dv bat Xuypq 
MvTiaojLievoi qpiXöniToq dvTifo<;, öcrcra iraGövreq 
'Eq q>Ao<; aip dq)iK€(TG€ bucrriXcT^oq dirö becTiioO, 
'H|i€T^po^ bid ßouXdq, dirö Ziöqpou i^epöevToq. 
'Q^ qpdro, töv b' eSauri^ djueißeTO Kötto^ d|Liu|iiüV 
Aaifiövr ouK dbdT]Ta 7riq)d<TKear dXXd Kai auTOi 
''IbfLiev ÖTi irepi jLifev irpairibe^, Trepi b' IcTTi vöiniia, 
'AXkttip b'dGavdTOicTiv dpf]^ T^'veo KpuepoTo* 
Zfiq b'uTTÖ q)pab|Lioauvri(Tiv dirö locpov i^epoevTO^ 
''Anioppov b' dEauTiq djueXiKiiüv ättö becrjudiv 
'HXu6o)Liev, Kpövou uife SvaE, dvaeXirra iraGövTeq, 
Till Kai vOv dxevei le vöiu Kai dTriqppovi ßouXr) 
Pu(TÖ|Li€0a KpdTOq ujnöv iv aivq briiOTfiTi 



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— ii8 — 

Mapvd)Li€Voi TiTqmv dva Kporepa^ u<T|iiva<;. 
'Qq qxxx'. ^TtrivTiadv bk 6€oT bujxfipe^ ddiuv, 
MÖ0OV dKOuaavre^- troX^iiiou b' ^XiXoiero Bv\iöq 
MdXXov ?t' f\ TÖ trdpoiOe* jiidxiiv b' dfi^TopTOV lytipav 
TTdvT€<;, OnXeai t€ Kai dpaeve? f^iiiaTi kciviü 

TlTTlVe^ T€ 0€Ol, Kttl 0(7001 KpOVOU dgCT^VOVTO, 

Oö^ T€ Zeuq dp^ßeuacpiv uttö X90vö<; f\Ke qwux; be, 

Aeivoi re Kparepoi xe, ßiriv uTrepoTrXov ?xovTe^. 

Tuiv iKttTÖv |ifev x^^Pt? dir' ujjliujv dicTCTovro 

TTdaiv b^6j<;. K€q)aXai bk iKacTTiu TTevTrJKOVTa 

'ES uj|Liuüv diT^qpuKOv dm arißapoTai jiieXcacTiv. 

Qi TÖT€ TiT^ivecTcri KaTdaraOev dv bot Xuxp^i, 

TTeipa^ i^Xißdxouq aTißap^<; tv x^P^Jw ?xovt€^. 

TiTfive<; b'^TdpuüBev dKapriivavTO qxiXoTTa^ 

TTpoq)pov€U)(;, x^ipujv t€ ßiri^ 0' a|ia ?pTOV 2q)aivov 

'AiiqpoTepor beivöv bk irepioxe ttövto^ dtreipiuv. 

ffi bk ilict' iCiiapA-xriaev ' tnioieve b' oupavö^ eupii^ 

Z€l6)Ll€V0q, 7r€b60ev b' dTivd(y<T€TO jLiaKpö^ ^'OXuiiTTO^ 

'PiTTTj uir' d0avdTUüV ?vo<Ti^ b' kave ßapeia 

Tdpxapov i^epöevra, irob&v oiireia t' iiun 

'Aairdrou iuJXMOio, ßoXdujv t€ Kpoxepdujv. 

'Qq dp' in' &\\f\\o\<; kcTav ßdXea (TTOvöevra* 

<t>iüvf| b' d|iq)OTepu)v kex' oupavöv daiepöevra 

KeKXojLieviüv. o\ bk Euviaav )Li€TdXuu dXaXiiTiii. 

Oub' dp' ?Ti ZeiK; toxev döv ^levo^* dXXd vu toö t^ 

ET9ap \ikv ^ivoq ttXtivto q)pdv€q; ^k bi tc Träcav 

<t)aiv€ ßinv. ä|Liubiq b' dp' dir' oupavoö r\b' dir' 'OXuiittou 

'AcTTpdtTTlUV ?aT€lX€ CTUVlUXClbÖV. o\ b^ KCpttUVOl 

"iKxap d)Lia ßpovifj t€ kqi daTcpuJTrfi Troxeovio 
Xeipö^ dTTÖ axißapnq, \epf|v qpXÖT« 0' €iXuq)öu)VX€(; 
Tapq)e€^, d)Liq)i bfe xaia q)€pe(Tßio^ ecTiiapdTiCev 
Kaio|i^viT XdK€ b'djiiqpt irupi juexdX' äaneioq \j\r\, 
"EZiee bk xö^v Tiäaqi, xai 'Qxeavoio ^e60pa, 
TTövxo^ x'dxpuxexoq* xou^ b'ä|Liq)€TTe 06p)iö^ düx|Lin 
Tixfjva^, XÖoviou^* qpXöE n^pa biav kavev 
'Aairexoq' öaae b' ä|Liepb€ Kai iq)0i)Liu)v irep dövxuüv 
AuTT] |iap)Liaipou<Ta Kepauvoö x€ axepoirfi? xe. 
KaO)Lia b^ 0€crTT€(Tiov Kdxexev xdoq * daaxo b' dvxa 
'Oq)0aX|Lioi(Tiv Ibeiv, r\b' oöaaiv öoaav dKoöaar 



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— 119 — 

AÖTU)^ \hq ÖT€ foXa Kai oupavöq eupuq uirepOev 

TTiXaxo. toio^ jap xe \iif\aTO<; boOtro^ öpuipei, 

Tx]q jLifev dpeiTTOiLi^vn^, toO b' u\|;ö9€v d£€pi7r6vTO(;. 

Toaaoq öoötto^ ?t€vto Beiliv ?pibi Suviövtuüv 

luv b'av€|Lioi ?vo(Tiv T€ KÖviv t' ^cTqpapciTiCov, 

Bpovrrjv xe, (TTcpoTTriv t€, Kai alOaXöevro Kepauvöv, 

KfiXa Aiöq jiexaXoio. cpdpov b' iaxriv t' ^vottiiv re 

'Eq jLieaov d|Liq)OT^pu)v • ÖToßO(; b' SttXtito^ öpiupei 

I)Li€pbaX€iiq ?pibo<;* Kdpro^ dveqpaivero IpTUJV, 

'ExXiv&rj de ßjtdxv- ^p'^v dXXr|Xoi(; dtrexovTeq 

'E|Li)i6V^u)^ djLidxovTO bid Kparepdq u<T|liivo^. 

(yi b'dp' dv\ irptüTOicTi lidxTiv bpi|i€iav ?Teipav, 

KÖTTO(; T€, Bpiapeüb? t€, fuTn? x'fiaToq ttoX^ilioio. 

(Xi ^a TpiT]Koaiaq 7r^Tpo<; cTTißapujv dirö x^ip^^v 

TT^IiTTov inaoovTipat; • Kaxd b' ^aKiaaav ßeXeeam 

TiTTivaq' KOI Tou^ fiiv UTTÖ xöovö^ eupuobeiTi^ 

TTeiimiav, Kai beaiiioiaiv dv dpTaX^oiaiv ?bTi<Tav, 

NiKr|<TavT€^ X^pcTlv, uirepeuiLiouq irep d6vTa(;, 

Töaaov fvepG' \mö yriq, &aov oupavöq ?(Tt' dirö Tain?' 

"laov Tdp t' dirö yf\<; iq Taptapov i^epöevxa. 

'Evvea Tdp YJKiaq le xai f^iiiaTa xdXKCoq äkiliujv 

OupavöOev Kariibv, bcKanj dq foiav ikoito. 

'Evvda b' aö vuKra? t€ Kai f^iiiaTa xdXKeoq äk^iüv 

'Ek fa\r\q Kariibv, bcKanj tq Tdprapov kor 

Töv TTepi xdXKeov ?pKO(; eXriXaTai- d|i(pi bk fiiv viiE 

Tpiaroixei Kexurai Trepi beiprjv. aurdp uirepGev 

ffiq ^iCai 7req)UKa(yi Kai drpuTeToio Ba\aaar]q, 

"EvBa 0€oi TiTTiveq uttö Cöqpuu nepöevTi 

KcKpiicparai, ßouX^cTi Aiöq veqpeXTiTcp^Tao, 

Xijüpiu iv eupuüevTi, ireXtüpriq f(TxaTaTai€<;. 

Toi^ ouK ÖiTÖv dariv. iruXaq b' dTT^GTiKe TToaaeibuiv 

XaXxeia^ • tcTxo^ TrepiKeirai b' djnqpoTepiwGev. 

''EvOa fuTn^» KÖTTO(; re Kai o TTpidpeo^ )a€Tdeu|Lioq 

NaioucTiv, cpuXaKeq Triaioi Aiö^ aiTiöxoio. 

'Evedbe Tn<S bvocpepfiq, Kai Taprdpou ^cpöevTO?, 

TTövTou t' dTpuT^TOio, Kai oupavoö daiepöevTO^, 

'߀iTi^ TrdvTiüv^irTiTai Kai Treipar' famv, 

'ApYaXe', €upu)€VTa, rd t€ cttut€ou<Ti 0€oi irep* 

XdcTjüia )Li^t'* oube Ke iravta reXcacpopov €lq dviauTÖv 



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— I20 — 
OubO^ IKOIt', el TTpiÖTtt TTUX^IÜV ?VTOCT0€ t^VOlTO. 

'AXXd K€V ?v6a Kai ?v6a cpepoi TipoOueXXa OueXXa 
'ApTttXeiT beivöv re kqi dGavdTOKJi 0€Oiai 

TOÖTO T^paq* Kttl VUKTÖ^ ^P€Vtl^ blKltt bClVCt 

"EarriKev, V€q)€Xij^ K€KaXu)i^va KuoveijcTiv. 
Hesiodi Opera Omnia a Bernardo Zamagna Ragusino edita. 
Ex regio Parmensi typographio prodierunt a. 1785. 
„Tum dapibus tali est alfatus Jupiter ore: 
O Terrae ac vasti clarissima germina Coeli 
Quae me cumque animus fari jubet, auribus aequis 
Accipite, obnoxi, Saturno quot sumus orti, 
Titanesque, imus jam dudum in mutua contra 
Vulnera praeclara pro laude utrique ruentes 
Imperioque . manus invictae et maxima vobis 
Vis est: nunc animos, nunc vestras promite vires 
Titanas contra, memores et foederis icti 
Dulcis amicitiae, quondam et quae dura tulistis, 
Tristibus exuti vinclis, ac noctis opacae 
E latebris, per nos, revocati in luminis oras. 
Dixerat; illi autem Cottus sie impiger infit: 
NuUi ignota refers, o maxime: scimus et ipsi 
Quod praestas animisque atque acri robore mentis 
Et nostrae fueris cladis depulsor acerbae. 
Consilio nos, magne, tuo vinclisque soluti 
Fortibus, et nigra mersi in caligine, ab umbris 
Venimus ad lucem, dura olim infandaque passi. 
Quare adeo certum est nunc omne opponere robur 
Vimque animi contra Titanas in arma furentes, 
Pro vestro iraperio nobis pugnantibus usque 
Marte gravi, sie ille: et divi dicta probarunt, 
Laudaruntque hilares: ergo furor acrior omnes 
Quam prius incendit, pugnamque lacessere visae 
lila luce deae dique omnes: aspera monstra 
Terrigenum, et nati Saturno, quotquot et atro 
Jupiter ex Erebo dias eraisit in auras, 
Robustique acresque, infracto ac robore firmi. 
Centum horum ex humeris surgebant brachia, et alte 
Stabant quinquaginta hirto capita ardua coUo 
Membra super durata . hi cum Titanibus acri 



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-- 121 — 



Oppositi in pugna validis torquere lacertis 
Grandia certabant avulsi fragmina montis. 
Hinc autem horrisona Titanes voce phalangas 
Firmabant alacres, manibusque et pectore freli 
Durum Martis opus multa virtute ciebant 
Utrique. horrendum sonuere ingentia ponti 
Aequora, congemuit tellus, coelumque superne; 
Atque pedum crebro pulsu, telisque furentum 
Impete Coelicolum tremuere cacumina Olympi 
Sedibus ex imis convulsa. immissus in ipsa 
Pervenitque tremor nigrantia tartara, et ingens 
A pedibus, jactisque una fragor excitus armis, 
Omniaque indomito penitus concussa tumultu, 
Sic illi alternos geminabant ictibus ictus 
Sese inter congressi, et sidera ad aurea clamor 
Ibat utrinque hortantum, et utrinque in bella ruentum. 
Nee sibi jam genitus Saturno temperat; ira 
Suscitat incendens animos, atque erexit omnem 
Vitutem: summi gradiens per culmina Oympi 
Saevit, et ardenti jaculatur fulgura dextra 
Igneus, ingenti tonitru delapsa ruebant 
Fulmina crebra, sacras circum volventia flammas 
Terrifica sub nocte. solum late aestuat omne 
Igne sonans, crepitantque exustis ardua sylvis 
Tecta avium flammata atque imae viscera terrae, 
Oceanusque fluens, et vasti caerula Nerei, 
Omnia fervescunt: calidus vapor undique torret 
Titanas, rutiloque involvit turbine flamma 
Aßra diffusum: radiantia fulgura Visum 
Eripiunt, oculosque hebetant commixta trisulcis 
Fulminibus; vis nuUa valet se opponere contra. 
Corripuere Chaos jamque ipsum incendia, et ignem 
Coram oculis lustrans cernebat et auribus altum 
Hauribat strepitum, seu si subsideret imam 
Desuper in terram furibundo pondere Caelus. 
Usque adeo magno reboabant cuncta fragore 
Oppressa tellure, illoque premente ruinam 
Horrificam ex alto graviter. tanto arma tumultu 
Dl super aflfusi jactabant; ventus et un^ 



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Pulveream nubem toUens per inane ferebat, 
Fulguraque, et rapidi resonantem fulminis ignem 
Tela lovis magni; fremituque implebat utrasque 
In medio pugnantum acies. fragor undique et horror 
Apparet, multo et virtus spectata labore. 
InclincUa autem pugna est, licet aspera primum, 
Proelia connixi violento robore obirent 
Inque vicem adversi ruerent. ante agmina primi 
Certantes bellum instaurant, et in arma feruntur 
Cottusque, Briariusque, Gygesque immanis, ad auras 
Tercentum magno jaculantes pondere rupes 
Ingentes totidem manibus, jaculisque frequentes 
Umbrantes subter, Titanas, quos ubi victos 
Concidere, ac passim Stratos videre, sub imum 
Dejicere solum, vinclisque et compede nexos 
Tantum infra terram subter traxere superbos, 
Quantum alto coeli tellus a vertice distat. 
Par etenim spatium est a terra in tartara: noctes 
Acra novem totidemque dies a culmine coeli 
Luce gravis decima in terram descenderet incus 
Ferrea. rursum eadem totidem noctesque diesque 
E terra fugiens tenebrosa in tartara subter, 
Lapsa die incideret decimo. stant moenia ferro 
E solido circum, triplicique aflfusa meatu 
Horrida nox umbris nigrantibus ora coörcet; 
Supra terra sedet, vastumque exaestuat aequor. 
lUic obscura pressum caligine degit 
Titanum genus acre, lovis supera alta regentis 
Consilio, ingentisque colit trans ultimo terrae 
Inf ormi loca senta situ . non exitus uUa 
Parte datur: claudit ferratis undique portis 
Neptunus, coeloque aducta utrinque minantur 
Molibus impositis adamantina moenia. Cottus 
Stat propior, Briareusque, Gygesque, et limina servant 
Insomnes aerata, lovis custodia fida. 
Jetzt sprach Zeus vor ihnen der Götter und Sterblichen Vater: 
„Höret mich, herrliche Söhne, was das Herz mir im Busen 

gebietet. 
Lang schon stehen fürwahr wir feindlich gegeneinander, 



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Tag für Tag uns bekämpfend, um Sieg zu erringen und Obmacht, 
Sie, die titanischen Götter, und wir von Kronos Entsprossten. 
Auf denn, zeigt die gewaltige Kraft und die schrecklichen Hände 
Jetzt dem Titanengeschlecht, euch messend im hitzigen Kampfe, 
Freundlichen Dienstes gedenk, und wie viel ihr musstet erdulden, 
Bis ans Licht ihr gelangtet zurück aus lastenden Fesseln 
Wieder durch unseren Mut vom Reiche des mächtigen Dunkels!** 

Also Zeus. Ihm bot der unsträfliche Kottos entgegen: 
^Göttlicher, nicht Unbekanntes erwähnst Du, nein, wir selbst schon 
Wissen, dass höherer Geist Dir ward und höhere Einsicht; 
Dass Du der Ewigen Schirm Dich gezeigt vor schrecklichem 

Fluche, 
Dass wir wieder zurück aus unbarmherzigen Banden 
Nur durch Deinen Entwurf vom Reiche des mächtigen Dunkels 
Kamen, erhabener Sprosse des Kronos, nimmer es hoffend. 
Deshalb jetzt mit beharrlichem Sinn und bedächtigem Rate 
Wollen wir eure Gewalt in vertilgender Fehde beschirmen: 
iMit den Titanen uns messend in machtvoll ringenden Schlachten!" 
Also sprach er; da lobten's die göttlichen Geber des Guten, 
Als sie die Rede vernahmen; nach Krieg sehnt jedem das 

Herz sich 
Jetzt noch mehr, denn früher. Den schrecklichen Kampf nun 

begannen 
Alle die ewigen Götter zur Stund', ob Gott oder Göttin 
Sie, die titanischen Geister, und sie vom Kronos Entsprossten, 
Und die Zeus zum Lichte gesandt aus dem Dunkel der Erde, 
Furchtbar und mächtig begabt mit übergewaltiger Stärke. 
Ihnen entsprang an der Schulter ein Hundert riesiger Arme 
Allen zugleich, und fünfzig entsetzliche Häupter beherrschten 
Jedem herab von den Schultern den Bau der gedrungenen 

Glieder. 
Diese nun stellten im Kampf, im düsteren, sich gen die Titanen^ 
Wuchtige Stücke von Felsen umfassend mit nervigen Händen. — 
Doch auch drüben verstärkten zugleich die Titanen die Reihen 
Sorglichen Sinnes, und der Hand und der Kraft vortreffliche Werke 
Zeigten sie beide ; da rauscht rings wild die unendliche Meerflut, 
Weithin ächzet die Erde, der Himmel erdröhnt, der gewölbte ; 
Mächtig erschüttert nun wankt vom Grund der erhabene Olympos 
Unter der Ewigen Wucht; schon reicht das gewaltige Beben 



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— 124 — 

Bis zu des Tartaros Dunkel, das Schreckengetöse der Schritte. 
Und der gewaltigen Würfe im furchtbaren Schlachtengewühle. 
Also schleuderten sie gegeneinander die Jammergeschosse. 
Beider Geschrei stieg auf zum stemdurchfunkelten Himmel, 
Während sie sich auf reizten : sie stritten mit mächtigem Kampfruf. 
Doch auch Zeus hemmt länger den Mut nicht, sondern erfüllt ward 
Jetzt von Grimm sofort sein Herz; er enthüllte nun völlig 
Seine Gewalt, und Blitze zugleich vom Himmel entsendend 
Und dem Olympos, erging er sich rastlos; zündende Keile: 
Schlag auf Schlag mit Gekrach und Leuchtglanz flogen behende 
Aus der gedrungenen Hand und wirbelten heilige Glut her, 
Zahllos; aber die Erde, die nahrungssprossende, ächzte 
Rings in Flammen ; es kracht im Brande die mächtige Wölbung ; 
Ringsum zischte die Erde sodann, des Okeanos Strömung, 
Wie das verödete Meer; und die erdgebornen Titanen 
Hüllte versengender Brodem; es zuckt in die heiligen Lüfte 
Riesig die Flamme; sogar der Gewaltigen Augen erblinden 
Über der flackernden Helle der donnerbegleitenden Blitze. 
Grauenvoll erfasste der Brand nun das Chaos; völlig der Anblick 
War's für das Auge, zugleich für's Ohr auch das nämliche Tosen, 
Wie wenn gegen die Erde von oben der wölbende Himmel 
Schon sich nahte, so mächtig erhob sich ja das Gekrache, 
Als sie zermalmt einst lag und er von der Höhe sich senkte. 
So denn tobte der Lärm, als zum Kampf anstürmten die Götter 
Und mit Getös' auch jagten die Winde den Sturm und den 

Staub auf, 
Donner und lodernden Blitz in weithin flammenden Wetter, 
Arge Geschosse des Zeus, und trugen Geheul und Gestöne 
Unter die Kämpfenden hin : ein entsetzliches Tosen erhob sich 
Über dem schrecklichen Streit; kund wurden gewaltige Taten, 
Bis sich neigte die Schlacht. Doch zuvor noch hart aneinander 
Kämpften sie unablässig in machtvoll ringender Feldschlacht. 
Aber vor allen erweckte die furchtbar brennende Kampfwut 
Kottos, Briareos dann und der rastlos kämpfende Gyges, 
Die dreihundert Felsen zugleich den gedrungenen Händen 
Wurf auf Wurf nun entsandten, und fernhin mit den Geschossen 
Umschatteten sie die Titanen, und unter die kluftige Erde 
Jagten sie diese hinab und schlugen mit siegenden Händen 
Dannsie in schmerzliche Fesseln, so wild auch immer sie tobten, 



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- 125 - 

So tief unter die Erde, soweit von der Erde der Himmel; 
Denn gleichweit von der Erde zum Tartaros ist es, dem düsteren, 
Müsste ja doch neun Tage und neun Nächte ein eherner Amboss 
Fallen vom Himmel herab, am zehnten zur Erde gelangend, 
Wieder sodann neun Tag' und Nächte ein eherner Amboss 
Fallen herab von der Erde, am zehnten den Tartaros treffend. 
Diesen umläuft ringsum von Erz ein Gehege, und dreifach 
Lagert die Nacht auf ihm, um den Scheitel gegossen, darüber 
Wachsen die Wurzeln der Erde, sowie des unwirtlichen Meeres. 
Dorthin ward das Titanengeschlecht im dünsteren Dunkel 
Endlich gebannt nach dem Rate des Wolkenversammlers Kronion, 
Unten im dumpfigen Ort, am Rande der riesigen Erde: 
Flucht ist ihnen verwehrt; da Poseidon eherne Pforten 
Dorthin stellte, und ringsum ein steinern Gemäuer sich hinzieht. 
Gyges sodann, auch Kottos, der stolze Briareos ferner 
Wohnen daselbst als Wächter des Aegis-tragenden Herrschers. — 

Die Schilderung des Titanenkampfes hat etwas Gross- 
artiges: wie in einem Kolossalgemälde ist das Ganze dargestellt. 
Alles wird nur in wenigen, aber riesigen Zügen uns vorgeführt. 
Zeus eröffnet seinen Getreuen, dass eine definitive Auseinander- 
setzung mit den rebellischen Titanen unvermeidlich sei. Für 
alle sagt Kottos seine Ergebenheit und Hülfe im bevorstehen- 
den Entscheidungskampfe zu. Das Signal wird gegeben, und 
der gegenseitige Schlachtenruf schallt bis zum sternbesäten 
Olympos empor. Nun folgt ein Wettersturm, nicht von Hagel- 
steinen, sondern von Felsblöcken aus den mächtigen Händen 
hundertarmiger Kämpfer geschleudert. Die Höhen und Tiefen 
erzittern bei dem wuchtigen Anprall dieser kolossalen Kampfes 
geschosse. Hierauf schlägt Zeus in eigener Person mit Blitz 
und Donner unter die anstürmenden Titanen : ein Flammenmeer 
verschlingt Himmel und Erde, das Meer und die Unterwelt. 
Die treugebliebenen Anführer: Kottos, Briareos und Gyges 
schlagen nunmehr den Angriff der Titanen zurück und stürzen 
dieselben in den urweltlichen Schlund des Tartaros, in welchem 
alle Mächte der Finsternis und der Zerstörung hausen. Hier 
bleiben dieselben in ewiger Haft gebannt und mit Ketten 
gebunden, welche sie nicht zerreissen können. 

Zu vergleichen ist die Stelle im II. Briefe S. Petri Vers 4 : 
'0 eeö^ dTT^XiüV djuapxriadvTiüV ouk ^cpeiaaTO, dXXct (y€ipai(; Cöcpou 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. lO 



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— 126 — 



TapTapu)aa<;, napebuüKtv exe, Kpiaiv TripoujLievouq. Deus angelis 
peccantibus non pepercit, sed rüden tibus (catenis) inferni detrac- 
tos in tartarum tradidit cruciandos, in Judicium reservari. 
„Gott hat der Engel, welche gesündigt haben, nicht geschont, 
sondern mit Banden (Ketten) der Hölle sie in den Abgrund 
gestossen, um dieselben der Peinigung zu überantworten und 
für das Gericht aufzubehalten." — Ferner: Brief S. Judae 
Apostoli Vers 6: ''0 IricToöq dYT^Xou^ tou^ )Lif) Triprjaavxaq Tf|v 
^auTiüV dpx^v, dXXd uTroXiircvTaq t6 ibiov oiKiripiov, ei<; Kpiöiv MCTaXtiq 
fljn€pa<; becTiLioiq dibioiq uttö Cöpov xeiripriKev. Jesus (Deus) angelos, 
qui principatum suum non servaverunt, sed domicilium suum 
dereliquerunt, in Judicium magni (illius) diei vinculis aeteinis 
sub caligine reservavit. „Jesus, der Herr, hat die Engel, welche 
ihr Herrschertum nicht bewahrt haben, sondern ihre Wohnstätte 
verliessen, zum Gerichte des grossen Tages mit ewigen Banden 
unter der Finsternis aufbewahrt/* 

Hesiod ist in seiner Darstellung des Titanenkampfes dem 
Sänger Homer, wenn nicht überlegen, dann wenigstens eben- 
bürtig, und ein Vorbild für Äschylos und Dante geworden. 
Im christlichen Sinne haben Jost van den Vondel (1587—1679), 
der erste Dramatiker Hollands, in seinem „Lucifer'', sowie in 
der Gegenwart Eduard Hlatky in seinem dramatischen Gedichte 
„Weltenmorgen'' (1. Auflage 1896, 2. Auflage 1897, 3. Auflage 
1903), den „Engelsturz" behandelt. In dem kirchlichen Officium 
(„Stundengebet") heisst es: „Concussum est mare et contreniuit 
terra, quum S. Michael Archangelus ad draconem debellandum 
de coelo descendereti" (Ad IL Vesperas diei 29. Septembris.) 
„Hoch aufschäumte das Meer und heftig erbebte die Erde, als 
Sankt Michael, der Engelfürst, zum Kampfe gegen den Satan 
vom Himmel herabstieg." Cf. 1. II. Regum 22, 8 sq.; Psalmi 
Davidis 17. 8—17. 

Homer berichtet Odysseos 1. XI., 313 sq. von den Titanen: 

Ol pa Kai dGavotTOicTiv ^ireiXriTTiv ev 'OXujlittuj 

OuXöiriba CTTr|(T€iv 7To\udiKO<s TToXejuoio. 

"Oöcrav ^tt' 'OXujlittuj juejuacriv Gejuev, aurdp in' "Octctt] 

TTriXiov ei voaicpuXXov, iv' oupavö^ d)LißaTÖ^ eXr]. 
„Ja die Unsterblichen selber bedrohten sie, auf Olympos 
Feindlichen Kampf zu erregen und tobendes Schlachten- 
getümmel : 



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- 127 — 

Ossa zu höh'n auf Olympos gedachten sie, aber auf Ossa 
Pelion, rege von Wald, titn hinauf in den Himmel su steigen!^ 
Diesen Vorgang bezieht Philo Judaeus vel Alexandrinus 
(Operum Vol. II. Pag. 219 „De confusione linguarum", edidit 
Paulus Wendland, Berolini 1897) auf das titanische Unternehmen 
bei dem Turmbau zu Babel. 

Virgil sagt in seinen „Georgica" („Landbau") 1. 1. 276 seq.: 
„. . . Quintam fuge (diem): pallidus Orcus 
Eumenidesque satae; tunc partu Terra nefando 
Coeumque Japetumque creat saevumque Typhoea 
Et cönjuratos coelum refringere fratres: 
Ter sunt conati imponere Pelio Ossam 
Scilicet, atque Ossae frondosum involvere Olympum, 
Ter pater exstructos disjecit fulmine montes." 
„. . . Den fünften Tag aber meide: des hässlichen Todes 
Und der Furien Zeit ; es schuf einst die Erde 
Den Coeus dann und Japetus, sowie den wilden 
Typhoeus und Brüder, vereint den Himmel su stürmen \ 
Dreimal ja suchten sie Ossa zu höh'n auf Pelion, 
Auf Ossa sodann den waldreichen Olympos: 
Zeus aber schlug mit dem Blitze die Berge dreimal auseinander." 
Nach dem altrömischen Volksglauben, welchem auch der 
Kaiser Augustus zugetan war (cf. Suetonii „Divi Augusti" c, 92), 
gab es einige Tage in jedem Monate, die für Feldarbeiten usf. 
ungünstig waren (dies nefasti). Als einen solchen bezeichnet 
Virgil hier „den fünften". Dann hätten nämlich der bleiche 
Orkus und die Eumeniden eine besondere Gewalt ; desgleichen 
auch die Titanen: Coeus und Japetus, sowie Typhoeus, ein 
Ungeheuer mit hundert Drachenköpfen. Er erwähnt schliess- 
lich noch die Aleiden: Ottus und Ephialtes, welche sich ver- 
schworen hatten, gleich den Giganten, sogar den Himmel zu 
erstürmen. Zu diesem Zwecke versuchten sie, die Berge Ossa, 
Pelion und Olympus aufeinander zu türmen : dreimal nacheinander. 
Aber ebenso oft vereitelte Vater Zeus dieses Unternehmen 
und versenkte die Empörer mit dem Blitzstrahl in die Unter- 
welt. Die Strafe nun der so gestürzten Titanen beschreibt der 
Sänger Virgil in dem 6. Buche der Aeneis, Vers 577 sq. : 
„ . . . . Tartarus ipse 
Bis patet in praeceps tantum tenditque sub umbras 



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— 128 — 

Quantus ad aetherium coeli conspectus Olympum. 
Hie genus antiquum Terrae Titania pubes, 
Fulmine dejecti fundo volvuntur in imo. 
Hie et Aloidas geminos immania vidi 
Corpora, qui manibus magnum rescindere coelum 
Adgressi superisque Jovem detrudere regms. 
Vidi et erudeles dantem Solmonem poenas, 
Dum flammas Jovis et sonitus imitatur Olympi: 
Quattuor hie invectus equis et lampada quassans 
Per Grajum populos mediaeque per Elidis urbem 
Ibat ovans Divomque sibi poscebat honorem.^ 
^ . . , . Der Tartarus selber 

Streckt zweimal so tief sich hinab in die Schatten des Abgrunds, 
Als durch den Himmel der Blick zu ätherischen Höh*n des 

Olympus : 
Dort ist der Erd' uraltes Geschlecht, die titanische Jugend, 
Welche vom Blitze versenkt, am untersten Grunde sieh wälzet. 
Auch des Alceus Söhne, die Zwillinge, grässlichen Wuchses, 
Schaut' ich, die mit den Händen den Bau des erhabenen Himmels 
Aufzureissen gewagt, und Zeus vom Throne su stürben. 
Auch den Salmoneus sah ich, der schwer dem Jupiter büsste, 
Als er den Blitz nachahmt' und den Donnerhall des Olympus. 
Von vier mutigen Rossen geführt, und die Fackel erschütternd, 
Flog er durch Grajer einher und die Stadt der bevölkerten Elis : 
Stol^ im Triumph und forderte sich der Unsterblichen Ehre.^ 

Ähnlieh lautet die Darstellung, welche Ovid „Metamor- 
phoseon" 1. I., V. 151 sq. uns bietet: 

„Neve foret terris securior arduus aether 
Adfeetasse ferunt regnum coeleste Gigantes 
Altaque congestos struxisse ad sidera montes. 
Tum Pater omnipotens misso perfregit Olympum 
Fulmine, et excussit subjeetae Pelion Ossae. 
Obruta mole sua quum corpora dira jacerent, 
Perfusam multo natorum sanguine Terram 
Immaduisse ferunt calidumque animasse cruorem; 
Et, ne nuUa suae stirpis monimenta manerent. 
In faciem vertisse hominum. Sed et illa propago 
Contemtrix superum saevaeque avidissima caedis 
pt violenta fuit: scires e sanguine natos." 



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— 129 - 

„Aber damit der erhabene Himmel nicht ruhiger wäre 
Als der Erde Gefilde; so sagt man haben die Riesen 
Nach der Beherrschung des Himmels gestrebt und hohe Gebirge 
Aufeinander getragen, empor zu den Sternen gerichtet. 
Aber es riss der allmächtige Vater entzwei den Olympus 
Mit dem geschleuderten Blitz, und schmetterte über den Ossa 
Aufgerichtet den Pelion nieder. Und als die verruchten 
Riesengestalten da, von den Bergen begraben, nun lagen. 
Hat, wie man sagt, die Erde, durchtränkt von den Strömen 

des Blutes 
Ihrer Gezeugten, das warme Blut von neuem beseelet; 
Aber, damit keine Spur des Riesengeschlechtes ihm bliebe. 
Es zu Menschen geschaffen. Aber auch diese Geschlechte 
Waren Verächter der Götter und dürstend nach wütigen 

Schlachten, 
Waren voller Gewalttat — sie waren vom Blute geschaffen." 
Von der Strafe der Giganten, besonders von der Züch- 
tigung des Typhoeus, erzählt Ovid „Metamorphoseon" 1. V., 
V. 345—358: 

„Vasta giganteis ingesta est insula membris 
Trinacris, et magnis subjectum molibus urget 
Aetherias ausum sperare Typhoea sedes, 
Nititur ille quidem pugnatque sesurgere saepe. 
Dextra sed Ausonio manus est subjecta Peloro, 
Laeva, Pachyne, tibi Lilybaeo crura premuntur, 
Degravat Aetna caput, sub qua resupinus harenas 
Ejectat flammamque ferox vomit ore Typhoeus. 
Saepe remoliri luctatur pondera terrae, 
Oppidaque et magnos devolvere corpore montes. 
Inde tremit tellus, et rex pavet ille silentum, 
Ne pateat latoque solum retegatur hiatu 
Immissusque dies trepidantes terreat umbras." 
„Über der Riesen Gebeine wurde die Insel Trinacris (Sizilien) 
Hergeworfen und drückt mit grosser Last den begrabenen 
Kühnen, den Stürmer der himmlichen Sitse, Typhoeus. Er kämpfet 
Zwar, und stemmt sich wieder emporzuheben, doch ruhet 
Unter dem Berge Pelorus die Rechte, über der Linken 
Liegt Pachyne, und Lilybaeus über den Füssen, 
Aetna schwer auf dem Haupte; rückwärts liegt er darunter, 



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— I30 — 

Speit voll Grimmes Flammen und Sand aus dem Schlünde. 

Wohl öfters 
Strebt er, die Last der Erde von sich zu wälzen, und Städte 
Umzukehren mit seinem Leib' und grosse Gebirge. 
Darum erbebet die Erde; selbst der König der Schatten 
Fürchtet: sie möchten sich öffnen, und weit voneinander sich 

auftun, 
Und das hereingedrungene Licht die bebenden Schatten 
Erschrecken." 

„Metamorphoseon" 1. V., v. 317 sq. spricht Ovid von der 
Furcht, welche der gestürzte Typhoeus noch eingeflösst habe: 
„Tunc sine sorte prior, quae se certare professa est, 
Bella canit superum, falsoque in honore Gigantas 
Ponit, et extenuat magnorum facta deorum, 
Emissumque ima de sede Typhoea terrae 
Coelitihus fecisse metum, cunctosque dedisse 
Terga fugae, donec fessos Aegyptia tellus 
Ceperit et Septem discretus in ostia Nilus." 
„Darauf begann, die zuerst sich gerühmt hatte zu streiten, 
Von den Kriegen der Götter zu singen, und die Giganten 
Fälschlich zu loben; sie verkleinert die Taten der grossen 
Götter: sang, wie Typhoeus aus der Tiefe der Erde 
Sich erhoben und habe die Götter erschreckt, dass sie alle 
Wären geflohen, bis Aegypten und Nilus mit sieben 
Armen den Müden endlich hätten Ruhe gegeben." 

Im Buche lob c. 41, 16 heisst es (nach der Vulgata) von 
dem Leviathan = Satan, dem verstossenen Engelfürsten: „Quum 
sublatus fuerit Leviathan (etiam) angeli timebunt et territi 
purgabuntur." „Wenn der Leviathan emportaucht, so erzittern 
selbst die Engel, und erschreckt suchen sie ihr Heil.'* Der 
hebräische Text lautet wörtlich übertragen: „Vor seinem (des 
Leviathan = Satan) Aufbäumen fürchten sich Helden („Elim" 
Engel); vor Bestürzung (genauer „Brüchen") werden sie irre 
(fliehen sie)." S. Gregorius Magnus bezieht diese Stelle mit 
der Vulgata auf den „Drachen des Abgrundes" und übersetzt 
demgemäss den ersten Halbvers: „Wenn er (der Satan) hinweg- 
genommen wird (nämlich bei dem letzten Gerichte in den Ab- 
grund gebannt wird), dann erzittern (vor der Wucht seines 
Sturzes) selbst die Engel des Himmels." 



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— 131 — 

Zu der ganzen Auffassung der Titanen ist Eusebius 
„Historiae Ecclesiasticae" l. I., c. 2, n. 19 — 22 zu vergleichen, 
welcher deren frevelhafte Taten ausführlich beschreibt. 

Auch in diesem Abschnitte können wir nach Joseph Schreiner 
„Elysium und Hades", Seite 9 — 12 (Braunschweig und Leipzig 
1902 bei Richard Sattler) die I. Kategorie anführen; nämlich 
die Anklänge und Übereinstimmungen zwischen Bibel und 
klassischem Schriftentum in stofflicher Beziehung. 

3. Die Stindüut. 

Die Religion des alten Bundes hatte die Bestimmung, aus 
den engen Grenzen des Judenlandes herauszutreten und eine 
Welt-Religion aus sich hervorgehen zu lassen, nachdem der 
propädeutische Zweck Gottes an ihm erfüllt war. 'Ek fäp Ziujv 
e^eXeiicreTai vÖ|lio^, koi ö \6foq tou Kupiou iE 1epouaaXr|)Li- De Sion 
enim exibit lex, et verbum Domini de Jerusalem! ^Denn von 
Sion aus wird das Gesetz ergehen, und des Herrn Wort von 
Jerusalem!" Isaiae Prophetae c. IL, 3. Und ferner: ^0 v6|lio^ 
TiaibaTUJTÖq f||LiüJV T^TOvev eiq Xpiaiöv Lex paedagogus noster 
in Christum fuit. „Das Gesetz ist unser Erzieher auf Christus 
hin geworden." S. Pauli ep. ad Galatas c. IIL, 24. 

Judäa sollte Hellas und Rom sich erobern und geistig 
überwinden! Cf. S. Pauli ep. L ad Corinthios 1, 18 — 31. Ihm 
wurde ja verkündigt: „Dich, Israel, erwählet heute Jehowah, 
dass du ihm ein erbeigenes Volk seiest; wie er auch zu dir 
gesagt hat, dass du alle seine Gebote haltest. Dafür wird er 
dich über alle Völker erheben^ welche er zu seinem Lobe, Ruhme 
und Verherrlichung erschaffen hat." Libri Deuteronomii c. 26, 
17 — 19. Zu diesem Ende musste es aber seinerseits auch eben- 
bürtige Waffen auf den Kampfplatz bringen, auf welchem diese 
Geisterschlacht entschieden werden sollte. — Das alte Testament 
war für die übrige hellenisch gebildete Welt in einer „bar- 
barischen", fremden Sprache geschrieben. Das Semitische, mit 
seinen für das Verständnis anderer Nationen schwierigen und 
fremdartigen Anforderungen, konnte nicht eroberend auf- 
treten. Der Inhalt der heiHgen Bücher musste daher in 
eine andere und leichtere Form gegossen werden. Der Über- 
gang vom alten zum neuen Testamente wäre ohne das Da- 



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— 132 — 

zwischentreten eines Bindegliedes ein zu plötzlicher gewesen. 
Nach der Vorsehung Gottes wurde diese Vermittlung durch 
die Alexandrinische Übersetzung der Siebenzig, ^dieSeptuaginta^^ 
hergestellt. Gemäss dem Zeugnisse des Philo Alexandrinus 
vel Judaeus (zirka 20 vor Christus bis zirka 54 nach Christus), 
und des Flavius Josephus (37 — 101 nach Christus) wurden die 
Schriften des alten Testamentes unter dem Ägyptischen Könige 
Ptolemaeus Philadelphus (284 — 247) in das Griechische übersetzt. 
Hierdurch ist die hl, Schrift der gansen gebildeten Heidenwelt 
zugänglich geworden. ^) 

Nachdem nun zirka 280 v. Chr. das Gesetz Moses über- 
tragen war, folgten die übrigen Bücher nach; so dass gegen 
250 vor Christus die Schriften des alten Testamentes sämtlich 
ein griechisches Gewand besassen. Von dieser Zeit an stand 
der Weg zum Studium der hellenischen Literatur offen. Auch 
ist die Übersetzung der Septuaginta ein unsterbliches Werk, 
welches immerdar seine Bedeutung behalten wird. Mit ihr 
erhielt die ehrwürdigste aller Urkunden in der königlichen 
Bibliothek zu Alexandrien einen vorzüglichen Platz, um von 
hier aus eine neue Richtung für die gesamte hellenische und 
römische Bildung anzubahnen. Schon unter Ptolemaeus VI., 
Philometor (180 — 145) berief sich der jüdische Philosoph Aristo- 



^) Philo Judaeus vel Alexandrinus („De Vita Mosis" 1. IL, c. 5—8 
Ausgabe von Leopold Cohn Vol. IV., Seite 171 — 175, Berlin bei Georg 
Reimer 1902) beschreibt die Übertragung des Pentateuchs in die grie- 
chische Sprache und fügt noch hinzu, dass zur jähriichen Erinnerung an 
dieses wichtige Ereignis in Alexandrien ein Fest- und zu Jerusalem ein 
Fasttag angesetzt worden sei: A16 xai in^xpi vOv dvA iräv ^to^ ^opT?i xal irav- 
iflT^pK; äT€Tar ktX. Cf. L. c. c. 7, n. 41, Seite 174, Berlin 1902. — Eine 
sehr ausführliche Darstellung von der Entstehung der „Septuaginta" gibt 
Flavius Josephus in seinem Werke „Antiquitatum Judaicarum" 1. XII., c. 2, 
n. I — 15; femer in seiner Verteidigung „Contra Apionem" 1. IL, c. 4. — 
Diese Tatsache bezeugen auch: Tertullianus „libri Apologetici" c. 18; 
Athanasius in dem ihm zugeschriebenen Werke: „De synopsi scripturae 
sacrae"; Epiphanius „Liber de mensuris et ponderibus"; Justinus „Cohor- 
tatio ad Gentiles"; Augustinus „De civitate Dei" 1. 18, c. 42; l. IL „De 
doctrina christiana" c. 15; „De consensu evangelistarum." l. L; Eusebius 
„De praeparatione Evangelica" 1. 8, c. i ; „Historiae Ecclesiasticae" 1. V., 
c. IG.; 1. VI. c. 16.; Irenaeus „Adversus haereses" 1. IIL, c. 25; Hilarius 
„Tractatus in Psalmum IL" 



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— 133 — 

bulos öffentlich auf die Septuaginta, um nachzuweisen, dass 
Plato einiges von Moses entlehnt habe. Cf. Eusebius „De 
praeparatione evangelica" 1. 13, c. 12; Clemens Alexandrinus 
„Stromatum" 1. 1., c. 22. Von nun an tritt der Name des Moses 
neben jene der gefeiertsten Männer des Altertums. Diodorus Siculus 
ein Zeitgenosse des Kaisers Augustus, führt in seiner „Biblio- 
theca Historica" 1. I., c. 94, die Gesetzgeber der Aegyptier 
(Menes), der Kreter (Minos), der Lacedämonier (Lycurgos), der 
Geten in Thracien (Zamolxis) usf. an, welche alle durch die 
Gottheit zu ihrem Amte berufen wurden, und fährt dann 
(Kaxa auvecTiv) weiter: TTapd bfe toT^ 'loubaioiq Miuafiv vo|lioG€ttiv 
TTpoöTTOiricyaTG 6 lau» ^mKaXou^evo^ Oeö^* Apud Judaeos tradunt 
Jaho, quem deum invocabant, auctorem fuisse Moysi ut logis- 
lator populi sui fieret. Man sagt, dass bei den Juden ihr Gott 
Jaho (Jehowah, Jahve) den Moses veranlasst habe, ein Gesetz- 
geber seines Volkes zu werden. (Am Sinai.) Philo Alexan- 
drinus hielt die Septuaginta für göttlich inspiriert und legte 
sie allen seinen Werken zugrunde. Auch die Apostel des 
Herrn (Evangelien usf., Briefe) bedienten sich derselben, sowie 
ihre ersten Nachfolger. In der griechischen Kirche blieb sie 
im liturgischen und öffentlichen Gebrauche bis heute. 

Ausserdem kam noch ein Umstand den Juden sehr zu 
statten, dass sie sich allmählich in allen grösseren Städten der 
heidnischen Länder niederliessen und griechische Bildung an- 
nahmen. Ihre Zahl war eine grosse. Die Verbreitung der 
Judenschaft lässt sich in eine östliche, südliche und westliche 
unterscheiden. Die erste und älteste geschah im Jahre 722 
vor Christus mit der Wegführung der zehn Stämme nach 
Assyrien (cf. 4. Regum c. 17, 6), und brachte die Israeliten in 
die Lande und Städte des Ostens bis nach Mittel- und Hoch- 
Asien, sogar nach China hin. Daher ist die Möglichkeit vor- 
handen, dass jüdische Kolonisten auf den Boden Chinas und 
Indiens bereits Ideen verpflanzten, aus welchen dort die ver- 
hältnismässig reine Lehre des Laotse (geboren 565 v. Chr.) 
und Konfuzius (551 — 479 v. Chr.), sowie hier die weniger lautere 
Reformation Buddhas (f 12. Mai 542 v. Chr.) hervorwuchs. 
Vgl. Haneberg „Geschichte der biblischen Offenbarung" 4. Auf- 
lage, S. 393—396; Regensburg bei Manz. Bald nach der 
Assyrischen Deportation erfolgte die zweite und südliche Aus- 



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— 134 — 

Wanderung der Juden nach Aegypten hin, und zwar aus den 
nördlichen zehn Stämmen. Vgl. Oseae prophetae c. 8, 13; c. 9, 
3 sq. Um dieselbe Zeit verkündigt der Prophet Isaias (c. 19, 
18 f.), dass fünf Städte in Aegypten hebräisch reden würden, 
und deutet an, dass sogar ein jüdischer Tempel in Aegypten 
gebaut werde. Ein Jahrhundert später erhalten wir sichere 
Nachrichten über die Niederlassung der Israeliten im Pharaonen- 
Lande. Nach der Zerstörung Jerusalems und der treulosen 
Ermordung des edelen Statthalters Gedalia (588 — 586 a. Chr.) 
zogen viele Juden mit dem Propheten Jeremias nach Aegypten. 
Vgl. 4. Regum c. 25, 26 f.; und Jeremiae proph. c. 42—44. 

Somit blühte schon bald nach 722 a. Chr. eine jüdische 
Kolonie daselbst: 150 Jahre früher, ehe Pythagoras aus Samos 
(ca. 540 a. Chr.) eine wissenschaftliche Reise dahin unternahm 
und späterhin auch Plato. 

Unter Alexander dem Grossen (332 a. Chr.) und seinen 
Nachfolgern (Diadochen) in Syrien begann die dritte Aus- 
wanderung der Juden, und zwar nach Westen, von Hellas und 
den Inseln des ägäischen Meeres, von Aegypten und Vorder- 
Asien an nach Italien, Spanien, Nord-Afrika und über die 
Säulen des Hercules (Gibraltar und Ceutä) hinaus. Hören wir 
nun den Bericht des Flavius Josephus über die Judenschaft 
„in der Zerstreuung" (AiacTTTopd, cf. Evgl. S. Johannis c. 7, 35; 
Ep. S. Jacobi c. 1, 1; Ep. I., S. Petri c. 1, l). „Viele Tausende 
von ihnen, so erzählt er ' Antiquitatum Judaicarum' 1. 15, c. 3, 
n. 1, bewohnten Babylon und Medien, wo ihre Väter unter 
Cyrus zurückgeblieben waren (von 722 bzw. 606 bis 536 sq.)." 
Eine Kolonie zog unter Alexander dem Grossen nach Aegypten 
(332) und erhielt zu Alexandrien gleiche Rechte mit den Griechen. 
(Antiq. 1. 12, c. 1.; „De hello Judaico" 1. IL, c. 18.) Noch mehr 
wuchs ihre Zahl unter Ptolomaeus Lagi (Soter): 323 — 284. 
(Antiq. L 12, c. 1). In Syrien begünstigte sie Seleucus Nicator 
(301 — 281) und gab ihnen gleiches Recht mit den Mazedoniern 
in Antiochia. Nach Phrygien und Lydien schickte Antiochus III., 
der Grosse (224 — 187), an 2000 jüdische Familien, welche er 
aus Mesopotamien zum Schutze jener Provinzen mitnahm. Die 
Übersiedelung geschah unter sehr vorteilhaften Bedingungen. 
Von da aus kamen dieselben nach Klein-Asien und Griechen- 
land, (Antiq. 1. 12, c, 3.) In Arabien trat um das Jahr 100 



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^135 - 

vor Christi Geburt der König der Homeriten zum Judentum 
über. 

Zu Rom und Sparta erhielt das Volk der Juden eine 
staatsrechtliche Anerkennung (166—160 a. Chr.) durch die 
Bündnisse, welche Judas Machabaeus daselbst veranlasste. 
Vgl. 1. I. Machabaeorum c. 8; c. 12, sq.; c. 14, 16 u. 24; 1. II. 
Machabaeorum c. 11, 34 sq.: Bündnis bu Rom; cf. 1. I. Macha- 
baeorum c. 12, 2 u. 5—24; c. 14, 16 u. 19—24: Bündnis bu 
Sparta. 

Pompejus, der Grosse, schickte im Jahre 63, als er Jeru- 
salem und den Tempel -erstürmt hatte, viele Juden als Kriegs- 
gefangene nach Rom, wo sie bald ihre Freiheit wieder erhielten. 
Ihre Zahl wuchs daselbst rasch an, so dass sie einen grossen 
Teil des Stadtbezirkes jenseits der Tiber zum Aufenthalt not- 
wendig hatten. 

Julius Cäsar war ihr Beschützer und gab ihnen die Er- 
laubnis, sich überall im römischen Reiche Synagogen zu er- 
richten. Cf. Philonis Judaei „Legationis ad Cajum'^ § 23; 
Flavii Josephi „Antiquitatum Judaicaram" 1. 14, c. 10, n. 8. 

Wie Philo berichtet, sei um das Jahr 40 vor Christus kein 
Land auf der ganzen Erde zu finden gewesen, welches nicht 
von zahlreichen Juden bewohnt war. („Legationis ad Cajum" 
§ 36; „Actus Apostolorum** c. II, 9 sq.). Flavius Josephus sagt 
von seiner Zeit (37—101 nach Christus): ,,Es gibt keine helle- 
nische oder barbarische Stadt, und kein Volk (auf der weiten 
Erde), wo nicht die bei uns übliche Sabbatfeier sich Bahn 
gebrochen hätte, und wo nicht das Fasten, Lichterbrennen und 
viele unserer Speisegesetze beobachtet würden." („Contra 
Apionem" 1. IL, c. 39.) 

Ähnlich drückt sich der Apostel Jacobus auf der ersten 
allgemeinen Kirchenversammlung zu Jerusalem aus (zirka 52 
nach Christus): „Moses hat seit alten Zeiten in den einzelnen 
Städten seine Verkündiger in den Synagogen, wo er jeden 
Sabbat vorgelesen wird." Cf. „Actus Apostolorum" c. 15, 21. 

Aber auch in der grössten Entfernung blieben die Juden 
der Religion und den Gebräuchen ihrer Väter getreu und ver- 
zichteten auf kein Wort der hl. Schriften. Jerusalem betrach- 
teten sie als ihren geistigen Mittelpunkt, wohin sie jährlich zu 
wallfahren, sowie Gaben und Geschenke zu überbringen, oder 



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- 136 -^ 

ZU senden pflegten. Von dieser Gewohnheit und der grossen 
Anhänglichkeit derselben an Jerusalem, sowie von dem Einfluss, 
welchen sie sich in Rom erworben hatten, legt Cicero ein 
wichtiges Zeugnis ab, wenn er in der oratio pro Flacco c. 28 
sagt: ^Sequitur auri illa invidia Judaici. Quum aurum Judaeo- 
rum nomine (Rechnung) quotannis ex Italia et ex omnibus 
provinciis Hierosolyma exportari soleret, Flaccus sanxit edicto, 
ne ex Asia exportari liceret. Ob hoc crimen hie locus abs te, 
Laeli, atque illa (Judaeorum) turba quaesita est: scis, quanta 
Sit manus, quanta concordia (Zusammenhalten), quantum valeat 
in orationibus. Sic, submissa voce agam, tantum, tit judices 
audiant; neque enim desunt, qui istos in me atque in Optimum 
quemque incitent; quos ego^ quo idfaciliusfacianty non adjuvabo, 

'At Cn. Pompejus captis Hierosolymis victor ex illo fano 
nihil attigit; In primis hoc, ut multa alia sapienter; in sus- 
pitiosa ac maledica civitate (Romana) locum sermoni obtrecta- 
torum non reliquit. Non enim credo religionem et Judaeorum 
et hostium impedimento praestantissimo imperatori, sed pudo- 
rem fuisse" (die Rücksicht auf seine Ehre). 

Nun folgt die gehässige Anklage wegen des jüdischen 
Goldes, 1) 

^) Da es nämlich üblich war (vgl. IL Moses c. 30, 13; II. Paralip. 
c. 24, 6; Flavii Josephi „De hello Judaico L VII., c. 6, n. 6, Evgl. S. Mat- 
thaei c. 17, 23 — 26.), dass alljährig auf Rechnung der Juden (die Tempel- 
steuer, wozu jeder Jude von 20 Jahren an eine attische Doppeldrachme 
= I Reichsmark, zu entrichten hatte, und welche der leichteren Über- 
sendung wegen in Gold eingefordert wurde) aus Italien und aus allen 
Provinzen das Reiches eine bestimmte Summe in Gold (zur Unterhaltung 
und Ausstattung des Tempels = Tempelsteuer) nach Jerusalem überschickt 
wurde; so erliess der angeklagte Lucius Flaccus (welcher als Propraetor 
im Jahre 62 a. Chr. die Provinz Asien zu verwalten hatte) ein Edikt, gemäss 
welchem die Ausfuhr von Gold aus Asien nicht mehr gestattet war. Dies 
wird ihm nun zu einem Verbrechen angerechnet, und deshalb, o Lälius, 
(„du Ankläger") ist diese Stätte (in der Nähe der Gradus Aurelii = „der 
Steinstufen" an dem von C. Aurelius Cotta a. 74 v. Chr. erbauten Gerichts- 
hofe), und dieser Volkshaufe {der Juden) ausgewählt worden. Du weisst, 
ivie gross ihre Anzahl^ ivte fest ihr Zusammenhalten^ und wie bedeutend ihr 
Einfluss bei den öffentlichen Gerichtsverhandlungen ist! Daher will ich mit 
leiser Stimme sprechen, damit nur ihr, o Richter, es hören könnet; denn 
es gibt Leute hier, welche fähig wären, eben diese Juden gegen mich 
und gegen jeden Besten aus uns zu verhetzen. Ich werde mich hüten, 



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_ 137 ~ 

Hierauf erwidere ich zunächst, dass Pompejus, wie in 
vielen anderen Stücken, so auch in dieser Angelegenheit sich 
sehr weise benommen hat; denn er wollte in einer so arg- 
wöhnischen und schmähsüchtigen Stadt, wie Rom, niemand 
eine Gelegenheit zur übelen Nachrede bieten. Denn ich glaube 
nicht, dass bei einem so vorzüglichen Feldherrn die Rücksicht 
auf die Religion der uns feindlichen Juden, sondern nur die 
Sorge für seine eigene Ehre massgebend sein konnte." 

Statt des hebräischen Textes der hl. Schrift bedienten sich 
die Juden fortan der alexandrinischen Übersetzung und hielten 
dieselbe in grossen Ehren. (Philonis Alexandrini „De vita Mosis" 
l. IL, c. 7, n. 41.) 

Durch ihre Synagogenvorlesungen wurden sie eifrige Ver- 
mittler derselben an die Heidenwelt. Wie schon früher, Seite 
135, gesagt ist, erklärte S. Jakobus auf dem Apostelkoncilium 
zu Jerusalem: „Moses hat seit alten Zeiten her in den einzelnen 
Städten seine Verkündiger in den Synagogen, wo er jeden 
Sabbat vorgelesen wird." (Actus Apostolorum c. 15, 21.) Auch 
die Heiden nahmen an jenen Versammlungen gerne und zahl- 
reich Anteil. (L. c. c. 13, 42 — 44, nach dem griechischen Texte.) 
Herkömmlich wurde dann je ein Lehrstück (Parascha: n-Jü-is) 
aus dem Gesetze Moses (Thorah: n-j-in), und ein Abschnitt aus 
den Propheten (Haphtara: n-^üerr), letzterer gegen das Ende 
der Versammlung, durch einen Vorleser (Maphtir: -»"»nsiTD) rezi- 
tiert, und von einem Gesetzeslehrer (Rabbi: -»sn) ausgelegt. 



solchen Menschen ihr Geschäft zu erleichtern. — Man wird mir nun ein- 
wenden: „Ganz anders handelte Cnejus Pompejus, welcher, obgleich er 
(a. 63 a. Chr.) Jerusalem erobert hatte »und Sieger war, dennoch aber aus 
jenem berühmten Tempel daselbst sich nichts aneignete !" — Kai irapcXBibv 
öOv Tolg ircpi aÖTÖv ö TTo|Liirf)'io<; elq töv vaöv, xd €vbov ^BcdaaTo öXöxpuaa 
irdvia Kai Icpuiv xP^M^if^v clq xdXavTa ÖiaxiXia* oÖtc hk toOtiuv oöt' dXXou 
Tiv6<; xCtiv UpiX^v KciMliXiuüv fJniaxo Flavii Josephi „De hello Judaico" 1. 1., 
c. 7, n. 6. Pompejus quippe cum iis, quos secum habebat, in templum 
ingressus quae intus erant ex auro omnia conspexit et sacram pecuniam 
ad duo milia talentorum, neque tamen istam vel aliud quid quam attigit. 
„Pompejus ging mit den Seinigen in den Tempel (zu Jerusalem) und sah 
das Innere (das AUerheiligste) ganz von Gold strahlen (goldene Gefässe 
usw.), sowie 2000 Talente an Geld: er betrachtete zwar dieses alles, rührte 
aber nichts davon an." Vgl. Mommsen „Römische Geschichte" III. Band, 
Seite 130 — 136; Drumann „Geschichte Roms", IV. Band, Seite 435 f. 



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- 138 - 

Cf. Evgl. S. Lucae c. 4. 15 sq. Der Heiland selbst ging nach 
seiner Gewohnheit am Tage des Sabbates in die Synagoge zu 
Nazareth, und stand auf, um vorzulesen. Man reichte ihm das 
Buch des Propheten Isaias, welches er entrollte, und die 
messianische Stelle c. 61, 1 f. vortrug, sowie die Auslegung 
dazu gab: „Heute ist diese Schriftstelle vor eueren Ohren in 
Erfüllung gegangen!" Ihr höret nämlich jetzt denjenigen selbst 
vorlesen, welcher einst durch Isaias diese Verheissung gegeben 
hat: Gott in Menschengestalt. Actus Apostolorum c. 13, 14—45: 
„Am Tage des Sabbates gingen Paulus und Barnabas in die 
Synagoge zu Antiochien (Pisidien) und setzten sich nieder. 
Nach Verlesung der Abschnitte aus dem Gesetze und den 
Propheten schickten jedoch die Synagogenvorsteher zu ihnen 
und Hessen sagen: Männer, Brüder! wenn ihr ein Wort der 
Ermunterung habet an das Volk, so sprechet! Da stand Paulus 
auf, winkte mit der Hand, zu schweigen und sprach: Ihr Männer 
von Israel, und die ihr Gott fürchtet, höret! usf. Ferner: An 
dem nächstfolgenden Sabbate aber kam fast die ganze Stadt 
zusammen, um das Wort Gottes zu hören." 

In Rom befand sich, wie wir oben (cf. Ciceronis oratio 
pro Fiacco c. 28) anführten, eine bedeutende Judenkolonie, 
deren Ansehen Cicero Furcht einflösste. Ihre Verbindungen 
reichten bis in die höchsten Kreise. In der Trauer um die 
Ermordung des grossen Cäsar taten sich die Juden am meisten 
hervor und hielten Tag und Nacht eine öffentliche Totenklage 
um ihn. Cf. Tranquilli Suetonii „Divi Julii" c. 84 (und c. 39). 
Aristius Fuscus, ein sehr gelehrter Dichter, Redner und Gramma- 
tiker, gehörte der römischen Judenschaft an. Cf. Horatii Flacci 
1. I. Satyr. 9, 69. Er war ein besonderer Freund des Horatius 
(8. Dezember 65 bis 27. November 8 vor Chr.), welcher diesem 
seine berühmte Ode 1. 1., 22: „Integer vitae scelerisque purus^, 
sowie eine Satyre (Satyrarum 1. 1., 10) widmete. Durch Virgilius 
wurde Horaz seinem künftigen Gönner Maecenas, und durch 
diesen dem Kaiser Augustus näher gebracht. So stieg das 
Ansehen der römischen Judenkolonie bedeutend. Als nach dem 
Tode Herodes des Grossen (f 2 nach Christus) mit Erlaubnis 
des damaligen Präses von Syrien Quinctilius Varus (f 9 nach 
Christus im Teutoburger Walde) eine jüdische Deputation von 
50 Mann nach Rom ging, um eine freie Verfassung zu erwirken. 



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schlössen sich derselben 8000 röwische Juden an. Der Kaiser 
Augustus empfing sie im Apoilotempel, welchen er gebaut 
hatte. (Cf. Flavii Josephi „Antiquitatum" 1. 17, c. 11, n. 1.) 
Der Dichter Ovidius Naso (20. März 43 vor Chr. bis 18 nach 
Chr.) rät der jungen Mannschaft, sich am Sabbate vor den 
jüdischen Synagogen in Rom einzufinden. (Cf. Artis am. 1. 1., 76.) 
Hieraus hönnen wir den Schluss ziehen, dass die Sitten 
und Gebräuche, die Religionsübungen, sowie die hl. Schriften 
der Juden, welche ja in den Synagogen nach der allen ver- 
ständlichen griechischen Übertragung öffentlich vorgelesen 
wurden, selbst in der grossen Weltstadt an der Tiber immer 
mehr bekannt und gewtlrdigt wurden. Auf diese Weise ist 
die Tatsache leicht zu erklären, dass die römischen Schrift- 
steller aus der Zeit des Kaisers Augustus usf. eine gewisse 
Bekanntschaft mit der Bibel verraten und sich mehrfache An- 
klänge an dieselbe bei ihnen vorfinden. Ovid z. B. erzählt die 
Sintflut fast mit den Worten der Genesis: „Metamorphoseon" 1. 1., 
V. löO — 206. Die Flut ist eine Strafe für die Sünden der Menschen, 
„ . . Gigantum illa propago 

Contemptrix superum saevaeque avidissima caedis 
Et violenta fuit: scires e sanguine natos." (L. c. 160 — 163.) 
„Quae Pater ut summa vidit Saturnius arce 
Ingemit et facto dignas Jove concipit iras: 
Non ego pro mundi regno magis anxius illa 
Tempestate fui, qua centum quisque parabat 
Injicere angipedum captivo brachia coelo. 
Nam quamquam ferus hostis erat, tamen illud ab uno 
Corpore et ex una pendebat origine bellum. 
Nunc mihi, qua totum Nereus circumsonat orbem 
Perdendum est mortale genus. Per flumina juro .... 
Cuncta prius tentata; sed immedicabile vulnus 
Ense recidendum est . . ." Metamorphoseon I., 163 sq. 
„ . . . Dieser Giganten Geschlechte 

WarenVerächter der Götter und dürstend nach wütigen Schlachten, 
Waren voller Gewalttat: sie waren vom Blute entsprossen. 
Vater Jupiter sah es von seinem erhabenen Throne, 
Und er seufzte. Gewaltiges Zürnen ergriff" ihn und würdig 
Jupiters sprach er die Worte: Nicht war ich so bange 
Um die Beherrschung der Welt zu jenen schrecklichen Zeiten, 



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Da ein jeder der schlangenfüssigen Riesen versuchte 
Hundert Arm' anzulegen an den belagerten Himmel; 
Denn ob dies gleich ein wütiger Feind war, so kam doch der 

Krieg nur 
Her von einer Rott* und aus einer Quelle: jetzt aber 
Muss ich, soweit das Meer den ganzen Erdball umbrauset, 
Töten der Sterblichen Volk! Ich schwöre es bei den Gewässern . . . 
Alles sei erst versucht! Doch muss die unheilbare Wunde 
Weggetilgt sein mit Eisen . . . !" 

Schön wird auch das Mitleiden der Himmlischen beschrieben: 
„Est tamen humani generis jactura dolor 
Omnibus, et quae sit terrae mortalibus orbae 
Forma futura, rogant, quis laturus in aras 
Thura . . . ." (Ibidem v. 246 sq.) 
„Doch schmerzt alle des Menschengeschlechtes Vertilgung, 

sie fragten. 
Welche Gestalt der Erde, verwaist von den sterblichen Kindern, 
Sein soll, und wer alsdann noch Weihrauch zu den Altären 
Bringen wird?" 

Die hl. Schrift sagt hierüber: „Gigantes autem erant super 
faciem terrae in diebus illis. Videns autem Deus, quod multa 
malitia hominum esset in terra et cuncta cogitatio cordis 
intenta esset ad malum omni tempore, poenituit eum, quod 
hominem fecisset in terra. Et tactus dolore cordis intrinsecus: 
„Delebo'* inquit „hominem quem creavi, a facie terrae . . ." 
(Genesis c. 6, 4 sq.) „Es waren aber Riesen in jenen Tagen 
auf Erden. Als nun Gott sah, dass der Menschen Bosheit sei 
viel auf Erden, und das gesamte Denken des Herzens zu aller 
Zeit auf das Böse gerichtet sei, da reute es ihn, dass er den 
Menschen geschaffen habe auf Erden. Und von Schmerz er- 
griffen im Herzensgrunde sprach er: „Vertilgen will ich den 
Menschen, welchen ich erschaffen habe, hinweg von der Erde!" 
Das Gericht durch eine Sintflut kündigt Ovid mit folgen- 
den Worten an: 

„Poena placet diversa, genus mortale sub undis 
Perdere et ex omni nimbos dimittere coelo." (L.c.v.260sq.) 
.... „Zeus wählt nun ein anderes 
Strafgericht: in den Wassern der Sterblichen Volk zu vertilgen, 
Und vom ganzen Olymp die Wasserwolken zu stürzen." 



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Moses berichtet: „Deus dixit ad No^: ecce ego adducam 
aquas diluvii super terram, ut interficiam omnem carnem!" 
Genesis c. 6 (13), 17. 

Gott sprach zu No^: „Siehe, ich führe das Wasser der 
Flut herauf über die Erde, dass ich töte alles Fleisch (alles 
Lebendige)!" 

Recht anschaulich beschreibt Ovid den Verlauf der Flut : 
sie steigt bis über die höchsten Berge. 
„Terra 

Intremuit motuque vias patefecit aquarum. 
Expatiata ruunt per apertos flumina campos, 
Cumque satis arbusta simul pecudesque virosque 
Tectaque cumque suis rapiunt penetralia sacris. 
Si qua domus mansit potuitque resistere tanto . 
Indijecta malo, culmen tarnen altiov hujus 
Unda tegit pressaque latent sub gurgite turres, 
Jamque mare et tellus nuUum discrimen habebat: 
Omnia pontus erant; deerant quoque litora ponto. 
Nat lupus inter oves, fulvos vehit unda leones, 
Unda vehit tigres, nee vires fulminis apro, 
Crura nee ablato prosunt velocia cervo; 
Quaesitisque diu terris, ubi sistere possit, 
In mare lassitis volucris vaga decidit alis. 
Obruerat tumulos immensa licentia ponti 
Pulsabantque novi montana cacumina fluctus. 
Maxima pars unda rapitur; quibus unda pepercit, 
Illos longa domant inopi jejunia victu.** (Metam. I.I., 183 sq.) 
„Die Erde bebte nun auf und eröffnete zitternd der Wasser 
Wege. Die Ström', aus den Betten gehoben, sie stürzten durch 

offene 
Felder hindurch und rissen zugleich mit Saaten, Gebüsche, 
Tiere und Menschen und Hütten dahin auch Tempel mitsamt ihren 
Heiligtümern; und blieb noch ein Haus und vermochte zu stehen, 
Ungesttirzt von dem grossen Verderben, so deckte den Gipfel 
Dennoch das höhere Wasser, und unter den lastenden Wogen 
Lagen Türme versenkt. Schon erschien das Meer und das Land 
Nicht mehr durch Grenzen geschieden: alles war offenes Meer, 
Ein Meer ohne jegliche Ufer .... Der Wolf schwimmt 
Unter den Schafen daher, die Flut reisst braungelbe Löwen, 

KrÖll, Die Beziehung^en des klass. Altertums zu den hl. Schriften. H 



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— 142 - 

Tiger reisst die Flut mit sich fort. Die blitzende Schlagkraft 
Nützt dem Eber nicht mehr, und nicht dem ergriffenen Hirsche 
Seine fliegenden Läufe. Der irrende Vogel, nachdem er 
Lange gespäht nach Land, wo er ruhen wohl könnte, sinkt endlich 
Mit ermattendem Flügel ins Meer. Die Hügel schon deckte 
Das unermesslich tobende Meer, und als Fremdlinge schlugen 
An der Gebirge Gipfel die Wogen. — ... 

Die meisten nun (Menschen und Tiere) wurden 
Weg von der Flut gerissen, und die von der Flut noch Verschonten 
Sanken entkräftet bei dürftiger Nahrung nach längerem Hungern." 
j^Der Untergang alles Fleisches,"^ (Genesis c. 7, 21.) Moses 
schreibt: „Factum est diluvium quadraginta diebus super terram 
et multiplicatae sunt aquae. Vehementer enim inundaverunt et 
omnia impleverunt in superficie terrae. Et aquae praevaluerunt 
nimis super terram, opertique sunt omnes montes excelsi sub 
universo coelo. Consumptaque est omnis caro quae morebatur 
super terram: volucrum, animantium, bestiarum omniumque 
reptilium, quae reptant super terram, universi homines." 
Genesis c. 7, 17 sq. „Die Flut war 40 Tage auf Erden, und 
die Wasser mehrten sich. Denn sie schwollen mächtig an und 
füllten alles aus auf der Oberfläche der Erde. Und die Wasser 
nahmen gewaltig zu auf Erden, und bedeckt wurden alle hohen 
Berge unter dem weiten Himmel. So starb alles Fleisch, das 
sich regte auf Erden : Vögel, Vieh, Getier, und alles Kriechende, 
was sich bewegt auf Erden, die Menschen insgesamt.'^ 

Nach Ovid werden nur Deucalion und Pyrrha wegen ihrer 
Frömmigkeit auf einem Fahrzeuge gerettet. 

„Mons ibi verticibus petit arduus astra duobus 
Nomine Pamassus, superantque cacumina nubes: 
Hie ubi Deucalion — nam caetera texerat aequor — 
Cum consorte tori parva rate vectus adhaestt. 
Non illo melior quisquam nee amantior aequi 
Vir fuit, aut illa metuentior uUa deorum. " (Metam. 1. 1. 31 6sq.) 
„Hier war ein Berg, Pamassus genannt, der mit den beiden 
Gipfeln über die Wolken bis zu den Sternen emporragt: 
Hierher, denn alles war Tiefe, war Deucalions kleiner 
Nachen getrieben, hier stand er mit seiner Genossin und flehte. 
Keiner war frömmer als er, und keiner gerechter, und keine 
Fürchtete mehr die Götter als sie." 



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— H3 — 

Die hl. Schrift berichtet von Noe und seiner Familie: 
„Dixit Dominus ad Noö: Ingredere tu et omnis domus tua in 
arcam; te enim vidi justum coram me in generatione hac." 
(Genesis c. 7, 1 sq.) Ferner: 

„Requievit arca mense septimo, vigesimo septimo die 
super montes Armeniae. Aquae vero ibant et descrescebant 
usque ad decimum mensem: prima die mensis apparuerunt 
cacumina montium." (L. c. c. 8, 4 sq.) „Locutus est autem 
Deus ad No6 dicens: Egredere de arca tu et uxor tua . . .1" 
(Ibidem v. 16.) 

„Und der Herr sprach zuNoe: 'Gehe du und dein ganzes 
Haus in die Arche, denn ich habe dich gerecht gesehen in 
diesem Geschlechte.' Die Arche aber kam im 7. Monate, 
am 27. Tage, auf den Bergen Armeniens zum Stillstande." 
(Nach dem Hebräischen: . . . „am 17. Tage auf den Bergen 
Ararat." Dieser ist das Hochgebirge Armeniens und hat 2 
Gipfel: der grosse und der kleine Ararat. Ovid sagt: mons 
arduus verticibus duobus: „ein hoher (steiler) Berg mit 2 
Gipfeln") 1). „Die Gewässer aber wichen und nahmen ab bis 
zum 10. Monate, und am 1. Tage des 10. Monates erschienen 
die Spitzen der Berge. . . Gott aber redete zu Noe und sprach : 
'Gehe aus der Arche, du und deine Frau ....!'" 
Ovid beschreibt das Ende der Flut: 

„Jupiter ut liquidis stagnare paludibus orbem 
Et superesse virum de tot millibus unum 
Et superesse videt de tot millibus unam 
Innocuos ambOy cultores numinis ambo, 



^) „Die Gewässer aber wichen und nahmen ab bis zum lo. Monate 
und am i. Tage des lo. Monates erschienen die Spitzen der Berge . . . 
Gott aber redete zu Noe und sprach : 'Gehe aus der Arche du und deine 
Frau . . .'!" — Am i6. Tage des 2. Monates hatte die Flut begonnen 
(vgl. c. 7, II f.), mithin am i6. Mai; am 17. Tage des 7. Montes, also am 
13. Oktober, kommt die Arche zur Ruhe. Drei und einen halben Monat 
später erschienen die Gipfel der Berge, beiläufig am 24. Dezember. Der 
Boden der Ebene zeigt sich im i. Monat, am i. Tage, = 22. März. 
Hierauf nach 8 ^/^ Wochen sobald das Erdreich fest geworden war, betritt 
Noe mit den Seinigen wieder dasselbe. Daher hat die Flut ein volles 
Sommerjahr gedauert. Die Zeitrechnung gibt das Ende der Flut auf 1657 
nach Erschaffung der Welt, 2348 v. Chr. an. 



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- 144 — 

Nubila disjecit nimbisque aquilone remotis 
El coelo terras ostendit et aethera terris: 
Jam mare litus habet, plenos capit alveus amnes, 
Flumina subsidunt, coUesque exire videntur; 
Surgit humus, crescunt loca decrescentibus undis 
Postque diem longam nudata cacumina silvae 
Ostendunt limumque tenent in fronde relictum: 
Redditus orbis eratl^ Metam. 1. I., 324 sq. 
„Als Jupiter aber 

Überschwemmt die Erde erblickte von strömenden Fluten, 
Und von vielen Tausenden einen nur übrig, von vielen 
Tausenden eine nur übrig, heid' unschuldig und beide 
Seiner Gottheit Verehrer ; da zerstreut er die Wolken, 
Und vertrieb durch den Nordwind den Regen ; da schaute der 

Himmel 
Wieder der Erde Antlitz, und die Erde den Himmel. 
Das Meer war wieder in Ufern und leichter 
Gingen in vollen Betten wieder die Ströme. 
Da die Gewässer sanken, so schienen die Hügel zu steigen: 
Es hob sich der Boden, es wuchsen die Fluren, abnahmen die 

Wellen, 
Und nach so langer Frist zeigten sich wieder die Wälder, 
Tragend im Laube den Schlamm, der übrig geblieben vomWasser: 
Das war wieder der früheren Erde Gestalt,'' 

Plutarchos „De sollertia animalium" c. 13 berichtet noch 
ergänzend: Deucalion habe eine Taube ausgeschickt, welche 
durch ihre Rückkehr Sturm und durch ihren Ausflug heiteres 
Wetter angekündigt habe. Hierzu ist zu vergleichen Genesis 
c. 8, 8 — 13: Noe emisit ex arca columbam, ut videret, si jam 
cessassent aquae super faciem terrae. Quae quum non invenisset, 
quo requiesceret pes ejus, reversa est ad eum in arcam etc.** 
„Noe entsandte eine Taube aus der Arche, um zu sehen, ob 
die Gewässer auf dem Erdreiche bereits versiegt wären. Weil 
diese aber noch keine Stelle fand, wo ihr Fuss ruhen konnte, 
so kam sie wieder zu ihm in die Arche usf." 

Um nun die Stätte, an welcher die Arche landete, nach 
Schrift und Tradition genauer zu bezeichnen (vgl. S. 143), so 
müssen wir anführen^ dass nach dem Wortlaute des Hebräischen 
Textes die Arche stehen blieb „auf den Bergen Ararat". 



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- 145 - 

(Genesis c. 8, 4.j Ararat ist aber im alten Testamente ein 
Ländername und bezeichnet entweder ganz Armenien (Isaiae 
c. 37, 38), oder einen Teil desselben (Jeremiae c. 51, 27). 
Ferner trägt der höchste Gipfel in der Gebirgslandschaft 
Armeniens diesen Namen. Derselbe wird von den Armeniern 
„Macis", bei den Türken „Aghur-Dagh", und von den Persern 
„Kuhi-Nuch" (Berg Noes) geheissen. Er erhebt sich in der 
mächtigen Gebirgskette des Taurus 13 350 m über der Talebene 
des Araxes mit 2 Gipfeln („kleiner und grosser Ararat"). In 
der Nähe ist die alte Armenierstadt „Nachschivan" = Standort 
der Arche ^). Die Arche blieb stehen (nach dem Hebräischen) 
am 17. Tage, im 7. Monate; das heisst: als das Wasser nicht 
mehr wuchs. — Der 27. Tag der Septuaginta und der Vulgata 
scheint eine exegetische Konjektur zu sein (Hoberg). Ovid 
nennt nach römisch-griechischer Anschauung den Berg: Parnas- 
sus. Flavius Josephus (37 — 101 nach Christus) erzählt in seinen 
„Antiquitates" (1. I., c. 3, n. 6 u. 7), dass zu seiner Zeit der 
Ort, an welchem die Arche Npes zu Ruhe gekommen sei, bei 
den Armeniern: 'ATToßaTripiov = egressorium d. h. „Stelle des 
Ausganges" (Ausgang) genannt werde. Er fügt noch hinzu: 
„Und bis auf den heutigen Tag zeigt man dort noch übrig 
gebliebene Stücke von der Arche." — Dieser Flut samt der 
Arche gedenken auch alle, welche die Geschichte anderer Völker 
geschrieben haben. Unter anderen tut dies Berosus, der Chal- 
daer, indem er sich bei Erzählung der Sintflut in folgender 
Weise ausdrückt: „Man sagt, dass von jenem Schiffe („Arche") 
noch ein Stück zu Armenien auf dem Berge der Cordyaer 
vorhanden sei, und dass einige davon Harz nehmen, und sich 
desselben als eines Mittels gegen allerlei Übel bedienen." Auch 
Hieronymus, der Aegyptier, welcher die Geschichte der Phönizier 



^) Diese von Loch und Reichl in ihrem Bibelwerke I. Band, Seite I2, 
Anmerkung (Regensburg bei Manz 1884) angegebene Deutung der Namen 
wird von Steuern angefochten. Vgl. den Artikel „Ararat in der Bibel", 
Theologische Quartalschrift 1901, S. 321. 

Dass die Arche auf der Spitze des Grossen oder Kleinen Ararat 
stehen geblieben sei, ist mit keinem Worte in der hl. Schrift auch nur 
angedeutet. Zudem ist der Name erst später von der Landschaft auf 
das Gebirge übertragen worden. Vgl. Dr. Selbst „Handbuch zur biblischen 
Geschichte", I. Teil, Seite 168 f. Freiburg bei Herder 1906. 



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- 146 - 

geschrieben hat, meldet jenes Ereignis; desgleichen Mnaseas 
und noch andere mehr. Ebenso Nicolaus Damascenus (ein 
Freund des Kaisers Augustus) lässt sich im 96. Buche seiner 
Geschichte hierüber also vernehmen: „Oberhalb der Landschaft 
Mylias liegt ein Berg in Armenien Baris genannt, auf welchen 
sich der Überlieferung gemäss zur Zeit der Sintflut viele 
gefltichtet haben und so errettet worden sind. Auch soll 
jemand in einer Arche auf den Gipfel des Berges geraten sein, 
und hätten sich Überbleibsel vom Holze der Arche noch lange 
Zeit erhalten. Vielleicht ist dieses der nämliche, von dem auch 
Moses, der Gesetzgeber der Juden, geschrieben haty- Den Moses, 
als Gesetzgeber der Juden, erwähnt auch Diodorus Siculus 
(Zeit des Kaisers Augustus) in seiner „Bibliotheca Historica", 
1. I., c. 94, wie bereits oben, Seite 133, gesagt wurde. „Bei 
den Juden war Moses Gesetzgeber und wurde von Jaho (Jahve, 
Jehovah) hierzu berufen.'' Vgl. „Babel- und Bibelfrage" von 
P. Keil, Seite 28. Trier, Paulinusdruckerei 1902. 

Ziehen wir nun aus dem Vorhergehenden unsere Folge- 
rungen, so müssen wir anerkennen, dass Nicolaus Damascenus, 
Diodorus Siculus und Ovidius Naso unter der Regierung des 
Kaisers Augustus lebten und Zeitgenossen waren. Die beiden 
ersten aber hatten unstreitig eine Kenntnis von den Schriften 
des Moses, wie dies aus den mitgeteilten Aussprüchen der- 
selben hervorgeht. Sollten wir von Ovid nicht dasselbe an- 
nehmen dürfen, da seine Beschreibung von der grossen Flut 
eine so grosse Ähnlichkeit mit dem Wortlaute der Genesis 
bekundet, und ihm die jüdischen Synagogen in Rom sowie 
die Sabbatfeier in denselben so gut bekannt waren? Vgl.S. 139. 

Wie sich das nun auch verhalten mag : durch die UroflFen- 
barung war die Kunde von der Sintflut zu allen Völkern gelangt, 
und wurde durch die griechische Mythologie, als deren Bear- 
beiter: Antigonus von Korystos, Nicander von Kolophon und 
der Lehrer des Virgil: Parthenius von Nikaea gelten, weiter 
ausgesponnen. Des letzteren Werk führte ebenfalls den Namen: 
MeTa)Liop(pu)(J€i^, Metamorphen = Verwandlungen. Hierzu kam noch 
der altitalische und römische Sagenkreis. Aus diesen Vorlagen 
entnahm nun Ovid seinen Stoff" und gestaltete denselben poetisch 
aus, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass er auch das erste 
Buch Moses gekannt und benützt hat. 



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- 147 — 

Die Flutsagen finden sich ausserdem bei den Ariern, 
Babyloniern, Indiern, Chinesen und auch in der nordischen 
Mythologie. Vgl. Mone „Nordisches Heidentum", IL Teil, 
S. 491 f. 

Sogar in der neuen Welt waren dieselben bekannt. Eine 
mexikanische Überlieferung berichtet: „Als die Menschen ihre 
Pflichten und ihren Ursprung durchaus vergassen, wurden sie 
durch eine allgemeine Wasserflut gänzlich vertilgt. Nur ein 
Priester mit Namen Tesbi blieb verschont. Dieser setzte sich 
mit seiner Familie in einen grossen, hölzernen Kasten, nahm 
auch allerlei Tiere und verschiedene Sämereien mit. Nach 
Ablauf des Wassers Hess er den Vogel Aura fliegen, welcher 
aber nicht zurückkehrte. Ebenso blieben verschiedene andere 
Tiere aus, welche er hatte fliegen lassen. Nur der allerkleinste 
von ihnen, Kolibri, stellte sich nach einiger Zeit wieder ein 
und trug einen Baumzweig im Schnabel." Cf. Genesis c.8, 11. 
Vgl. Dr. Ferdinand Stiefelhagen (f 1902 als Canonicus in 
Cöln a. Rhein) ,,Spuren der Uroflenbarung in den heidnischen 
Mythologien** Seite 15 f., Eupen 1857. Hierin sehen wir die 
Erfüllung des biblischen Wortes: „In omnem terram exivit 
sonus eorum et in fines orbis terrae verba eorum!" 7, Über 
die ganze Welt ist ausgegangen ihr Schall, und bis zu des 
Erdballs Grenzen ihr Wort." Psalmi Davidis 18, 5. 

Wollen wir nun zum Schlüsse dieses Abschnittes eine 
Kategorie der Beziehungen aufstellen, so können wir hier die 
geschichtliche Parallelbezeugung nennen. (Kategorie IV.) Denn, 
wie Canonicus Dr. Ferdinand Stiefelhagen „Spuren der Uroflen- 
barung" Seite 15 f. anführt, wäre es, die geschichtliche Wirk- 
lichkeit der Sintflut beiseite gesetzt, irgendwie denkbar, dass 
bei allen Völkern eine solche Sage von so merkwürdiger 
Übereinstimmung selbst in den unwesentlichen Einzelheiten, 
rein ersonnen und erdichtet worden wäre? Das ist durchaus 
undenkbar und unmöglich. Wenn nun das vernünftige Denken 
dazu nötigt, in diesem Punkte eine wahrhafte und geschicht- 
liche Übereinstimmung der heidnischen Mythologien mit der 
Erzählung der Bibel anzunehmen, so leuchtet ein, dass hier 
nicht die dichtende Phantasie als Grund der Übereinstimmung 
angenommen werden kann, sondern die allen Völkern gemein- 
same Kunde von der aus der Vorzeit überlieferten Tatsache. 



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- 148 ~ 

In der indischen Sage wird erzählt, dass, als die Flut zu 
Ende war, acht Personen (vgl. Genesis c. 7, 13 und 1. ep. 
S. Petri c. 3, 20) aus dem Schiffe stiegen und Gott dankten 
Die Söhne des geretteten Mannes aber heissen: Scherma, 
Charma und Japati, deren Namen mit den biblischen : Sem, Cham 
und Japhet buchstäblich übereinstimmen. (Cf. Genesis c. 10, l.) 

4. Der Himmelsbesuch bei Abraham und Sara. 

Flavius Josephus „Antiquitatum Judaicarum" 1. 1, c. 7, n. 2 
berichtet von Abraham: „Unseres Vaters Abraham gedenkt, 
freilich mit Verschweigung des Namens, auch der Geschicht- 
schreiber Berosus, der Chaldäer (300 vor Christus) ; mit folgen- 
den Worten: 'In der 10. Geschlechtsfolge von der Sintflut 
(1 Genesis c. 11, 26 — 33) lebte ein gerechter und vortrefflicher 
Mann, welcher in der Himmelskunde sehr erfahren war'. Hekataeus 
von Milet (530 vor Christus) hat sogar ein ganzes Werk über 
denselben geschrieben. Nicolaus von Damascus, ein Freund 
des Kaisers Augustus, sowie Zeitgenosse Herodes', des Königs 
von Judaea (f 2 n. Chr.), schreibt im vierten Buche seiner 
Geschichte über ihn also: „Zu Damascus regierte Abram, 
welcher als Fremdling aus dem oberhalb Babylon gelegenen 
Lande der Chaldäer (Ur Kasdim = Ur Chaldaeorum : 1. Genesis 
c. 11, 31) mit Heeresmacht dahin gekommen war. Es dauerte 
aber nicht lange, so wanderte er mit seinem ganzen Volke 
aus, und zog in das Land Chanaan, wo sein Geschlecht stark 
heranwuchs. Dieses Land wird nunmehr Judäa genannt." 
(1 Genesis c. 12, 1 sq.) Dass Abraham unter „allen Söhnen 
des Ostens" eine hervorragende Stellung einnahm, können wir 
aus der ehrenvollen Aufnahme schliessen, welche er bei dem 
Könige in Aegypten fand (1 Genesis c. 12, 10—20), sowie in 
der feierlichen Begrüssung ausgedrückt finden, welche ihm, 
dem Sieger über vier Herrscher des Morgenlandes, durch Mel- 
chisedech, den König von Salem, zuteil wurde: „Gesegnet sei 
Abram von Gott, dem Höchsten, welcher Himmel und Erde 
erschaffen hat; und gelobt sei Gott, der Höchste, durch dessen 
Beistand die Feinde in deine Hände gekommen sind!" (1 Genesis 
c. 14, 18—21.) 

Bei dieser grossen Berühmtheit des wandernden Hirten- 



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— 149 — 

fürsten konnte es nicht ausbleiben, dass die Ereignisse seines 
Lebens weithin bekannt und nicht bloss von Moses, dem 
Gesetzgeber des jüdischen Volkes, sondern auch von bedeuten- 
den Geschichtschreibem der Heiden aufgezeichnet und von 
Dichtem poetisch ausgeschmtickt wurden. Gemäss den Bemer- 
kungen Seite 106 f. 139 und 146 ist anzunehmen, dass der 
Dichter Ovidius Naso den Stoff zu seinen Metamorphosen 
(„Verwandlungen") vielfach aus dem Morgenlande entnommen 
hat, und dass ihm, als wissbegierigem Schriftsteller, die Sabbat- 
vorlesungen der Juden in den römischen Synagogen nicht 
unbekannt sein konnten. Was er nämlich Metamorphosen l.VIII, 
611 sq. von dem Himmelsbesuche bei Philemon und Baucis 
erzählt, erinnert in mancher Beziehung an den Bericht des 
Moses (l Genesis c. 18, 1 sq.), in welchem uns mitgeteilt wird, 
dass Abraham nebst Sara unter dem Schatten der Eiche zu 
Mambre den Besuch Gottes und zweier Engel erhielten und 
freudig aufnahmen. 

Ovid stellt uns dieses wunderbare Ereignis, welches er 
nach Phrygien verlegt, gemäss seiner griechisch-römischen An 
schauung in folgender Weise dar: 

Ante omnesque Lelex, animo maturus et aevo, 
Sic ait: Immensa est finemque potentia coeli 
Non habet, et quidquid superi voluerCy peractum est. 
Quoque minus dubites, tiliae contermina quercus 
Collibus est Phrygicis, modico circumdata muro. 
Ipse locum vidi; nam me Pelopeia Pitthus 
Misit in arva suo quondam regnata parenti. 
Haud procul hinc stagnum est^ tellus habitabilis olim^ 
Nunc celebres mergis fulicisque palustribus undae" 
Hierauf begann vor allen Lelex, an Weisheit 
Reif und an Jahren: „Unermesslich und grenzenlos ist die 
Macht des Himmels, und alles, was die Himmlischen wollten, 
Ist'auch geschehen. Damit du aber nicht zweifelst, so höre: 
Eine Eiche hei einer Linde auf phrygischen Hügeln 
Steht, von kleiner Mauer umgehen: Ich habe den Ort da 
Selber gesehen ; denn Pittheus sandte mich einst in des Pelops 
Reich, das vorhin sein Vater beherrschte. Unisoeit von hier isty 
Sonst war das Land hewohnhary ein See und Wellen, von vielen 
Wasserhühnern und Tauchern hewohnt . , . . " 



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- 150 - 

Der Dichter markiert den Schauplatz seiner Erzählung 
durch eine Eiche, von kleiner Mauer umgeben, unweit eines 
Sees, dessen Gebiet früher trockenes Land bildete, welches 
bewohnt war: Jetzt sei es bloss ein Aufenthalt für Enten und 
Taucher (Wasservögel). 

Und die Verwandlung (Metamorphose) des einst so glück- 
lichen Landes zu einem unwirtlichen See, leitet Ovid von dem 
unmittelbaren Eingreifen Gottes ab, welcher dieses Strafgericht 
über die gottlosen Bewohner desselben verhängte, (Metam. 
1. VIII, 689—698.) 

Die vorliegende topographische Beschreibung passt auf- 
fallenderweise zu den Örtlichkeiten in der Umgegend des 
„Toten Meeres" am Jordan. Bis auf den heutigen Tag steht 
noch jene berühmte Eiche su Mambre bei Hebron, unter deren 
Zweigen einst Abraham die Himmelsgäste bewirtete. Sie ist 
ein Ableger jener uralten, und hat zum Schutze eine steinerne 
Umffiedigung; ganz wie Ovid sagt: „quercus modico cirumdata 
muro." Auch steht die Eiche auf einer Anhöhe, welche von 
den Arabern heute noch: Ramath el Chalil = ^Höhe des 
Freundes Gottes^ d. i.: Abrahams, genannt wird. Ovid sagt: 
quercus collibus est Phrygicis = die Eiche steht auf phrygischen 
Hügeln. Dieselbe gehört zu den ältesten und schönsten Bäumen 
des hl. Landes. Der Stamm hat 7 m, die Krone 85 m im Um- 
fange. (Vgl. Schegg „Pilgerreise" II. Teil, S. 45. „Das hl. Land", 
1881, Seite 11.) Gegenwärtig wird der Baum als Eigentum 
der Russen angesehen, welche daselbst ein Pilgerhaus erbaut 
haben. Eine Abbildung gibt Professor Holzammer in seinem 
„Handbuche der biblischen Geschichte", 4. Auflage Seite 152, 
Freiburg b. Herder 1886 i). 

Ovid erzählt weiter : „Unweit von hier (nämlich von jener 
Eiche) liegt ein See, dessen Grundfläche einst bewohnbares, 
wohnliches Land darstellte, jetzt aber nurmehr von zahlreichen 



1) Merkwürdig ist auch der Baum der hl. Familie (Sykomore) in 
Ägypten bei Matarieh (Heliopolis) aus den ersten Jahren der christlichen 
Zeitrechnung, welcher 6 m im Umfange und 8 m an Höhe misst. Im 
Jahre 1869 schenkte dei Vizekönig von Ägypten denselben an die Kaiserin 
Eugenia von Frankreich. (Vgl. L. c. IL, S. 69.) Die Abtei Marienstatt 
bei Hachenburg (Hessen- Nassau) besitzt einen zum Baume ausgewachsenen 
Weissdorn aus dem Jahre 121 5. 



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- 151 — 

Wasserhühnern und Tauchern belebt ist." Hiermit ist unzweifel- 
haft das „Tote Meer" bezeichnet, welches das ehemalige Gebiet 
von Sodoma und Gomorrha tiberdeckt. Von allen lebenden 
Wesen können sich faktisch nur Enten und Taucher an seinen 
Wellen aufhalten. (Vgl. Joseph Schreiner „Elysium und Hades** 
Seite 44, Braunschweig und Leipzig 1902.) Zutreffend ist auch 
die Entfernung von jener Eiche angegeben: „Nicht weit von 
hier liegt ein See." Gemäss Genesis c. 19, 27 — 29 konnte 
Abraham aus der Nähe der Eiche bei Mambre, woselbst er 
mit Gott geredet hatte, die unglückliche Stätte von Sodoma 
und Gomorrha überschauen ; „Abraham machte sich frühmorgens 
dorthin auf, wo er vordem bei dem Herrn gestanden hatte. 
Und als er seinen Blick nach Sodoma und Gomorrha und die 
ganze Fläche jener Gegend hin richtete, sah er von der Erde 
einen Rauch aufsteigen, wie den Rauch eines Ofens." 

Stadt und Land brannten im Feuer des Himmels. 

Zu den Worten des Ovid: ,,Haud procul hinc stagnum 
esttellus habitabilis olim" verhält sich der Bericht des Geschicht- 
schreibers Cornelius Tacitus ^Historiarum" 1. V, c. 7 wie ein 
Kommentar: „Haut procul inde campi sunt, quos ferunt olim 

uberes magnisque urbibus habitatos fulminum jactu arsisse " 

Nicht weit hiervon (er redet vom Salzmeer) liegen Gefilde, von 
denen man sagt, dass sie einst zwar fruchtbar und von grossen 
Städten bewohnt waren, später aber durch die Donnerkeile 
des Himmels in Flammen aufgegangen seien. Tacitus erzählt 
hier von dem Untergange der Pentapolis: Sodoma, Gomorrha, 
Adama, Zeboim (und Zoar) sowie von der Entstehung bezw. 
Ausdehnung des Salzsees, welcher die ausgebrannten und ein- 
gesunkenen Bodenflächen derselben tiberschwemmt und bedeckt 
haben soll. Er bestätigt aber seine Darstellung, indem er fort- 
fährt: „Ego sicut inclytas quondam urbes igne coelesti fla- 
grasse concesserim, ita halitu lacus infici terram, corrumpi super- 
fusum spiritum reor ..." Wie ich nun gerne ftir wahr halte, 
dass jene einst so berühmten Städte durch die zündende Macht 
des Blitzes in Brand geraten sind; ebenso glaube ich, dass der 
Boden durch die Ausdünstung des Sees („Toten Meeres'*) ver- 
pestet und die darüber lagernde Atmosphäre verdorben wird. 

In die Gegend nun des späteren „Toten Meeres'*, in den 
Eichenhain zu Mambre bei Hebron, war nach Genesis c. 18, 



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- 15» — 

1 sq. Gott, der Herr, in Menschengestalt zu Abraham und 
Sara gekommen, nebst zwei Engeln, welche bald darauf nach 
Sodoma zu Lot gingen, um die Gerechten aus dem Verderben 
der bald untergehenden Stadt zu erretten. 

Ovid erzählt, dass in das Land, in welchem zur Zeit jener 
merkwürdiger See liege, Jupiter in Begleitung des Mercur zum 
Besuche bei Philemon und Baucis gewandert sei; beide in 
Menschengestalt : 

^Jupiter huc specie mortali cumque parente 
Venit Alantiades positis caducifer alis^). 
Mille domos adiere, locum requiemque petentes: 
Mille domos clausere serae; Tamen una recepit, 
Parva quidem, stipulis et canna tecta palustri. 
Sed pia Baucis anus parilique aetate Philemon 
lUa sunt annis juncti juvenalibus, illa 
Consenuere casa, paupertatemque fatendo 
Effecere levem nee iniqua mente ferendo. 
Nee refert, dominos illic famulosque requiras : 
Tota domus duo sunt idem parentque jubentque. 
Ergo ubi Coelicolae parvos tetigere penates 
Submissoque humiles intrarunt vertice postes, 
Membra sua posito jussit relevare sedili 
Qua super injecit textum rüde sedula Baucis . 
„Jupiter kam einst 

Menschlich gestaltet; Atlas' Enkel, der Heroldsstabträger, 
Kam mit dem Vater, ohne Flügel^ hier an, und sie gingen 
Hin zu tausend Häusern und baten um Obdach und Ruhe. 
Tausend Häuser waren verriegelt; doch nahm sie eins auf. 
Zwar war es klein, mit Stroh nur und Sumpfschilf gedeckt, 

die fromme 
Alte Baucis aber, der ebenso alte Philemon 
Waren in jüngeren Jahren in dieser Hütte verbunden, 
Waren nun alt da geworden, und erleichterten ihre 
Armut, die wir gelassen ertragen müssen, durch Dulden. 
Herren und Diener suchte man da vergebens; das ganze 
Haus bestand nur aus zweien : beide gehorchten und herrschten. 
Als die Himmelsbewohner das kleine Häuschen erreichten, 
Und mit gesenktem Haupt durch die niedrige Türe geschritten 

1) Cf. Act. Apost. 14, 10. 



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- »53 - 

Waren, da bat sie der Alt' auf jenem Stuhle zu ruhen, 
Welchen mit einer geringen Decke die emsige Bausis hatte 

belegt . . . .^^ 

Die Unterredung mit Abraham und Lot über den Unter- 
gang von Sodoma und Gomorrha gibt Moses mit folgenden 
Worten: Dixit autem Dominus (ad Abraham): „Clamor Sodo- 
morum et Gomorrhae multiplicatus est et peccatum eorum 
aggravatum est nimis?** (Genesis c. 18, v. 20.) Der Herr aber 
sprach (zu Abraham) : „Das Geschrei über Sodoma und Gomorrha 
hat sich gemehrt, und deren Sünden sind allzu schwer gewor- 
den !** Während nun Abraham sich bemühte, bei dem Herrn 
Fürsprache für die bedrohte Gegend einzulegen, entfernten 
sich die begleitenden Engel und kamen nach Sodoma. Hier 
sprachen sie zu Lot : „Delebimus locum istum, eo quod increverit 
clamor eorum coram Domino, qui misit nos, ut perdamus illos." 
Eduxeruntque eum et posuerunt extra civitatem, ibique locuti 
sunt ad eum: „Noli respicere post tergum tuum, nee stes in 
omni circa regione, sed in monte salvum tefacf' .... Dominus 
igitur pluit super Sodomam et Gomorrham sulphur et ignem a 
Domino de coelo et subvertit civitates et omnem circa regionem, 
. . Atque Lot de Segor ascendit et mansit in monte.^^ (Genesis 
c. 19, 13 sq.) Wir sollen diese Stätte zerstören, weil das Ge- 
schrei über sie zu gross geworden ist vor dem Herrn, welcher 
uns gesandt hat, damit wir sie zugrunde richten !*^ Sie führten 
ihn hinaus und hielten an vor der Stadt. Daselbst sprachen 
sie zu ihm. „Schaue nicht hinter dich und stehe nicht stille 
in der ganzen Umgegend, sondern rette dich in das Gebirge, 
damit du nicht mit jenen umkommst!'^ 

Hierauf Hess der Herr Feuer und Schwefel vom Herrn 
aus Himmelshöhe her regnen über Sodoma und Gomorrha, 
und vernichtete (wörtlich „sturste um'' durch unterirdische 
Feuereruption und Erdbeben, indem das Feuer vom Himmel 
her den mit Naphtha getränkten Boden entzündete, welcher jene 
Städte trug; cf. 1. Deuteron, c. 29, 23) diese Städte und die ganze 
Umgegend. 

Lot aber sog von Segor (Zoar) aufivärts und wohnte auf 
dem Gebirge. 

Nach Ovid legten Jupiter und Mercurius bei Philemon 
und Baucis ihr Incognito ab und sprachen: 



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,yDique sumus, meritasque luet vicima poenas 
Impia'* dixerunt, vobis immunibus hujus 
Esse mali dabitur, ^^ntodo vestra relinquite tecta 
Ac nostros comitate gradus et in ardua montis 
Ite simul."' Parent ambo baculisque levati 
Nitunlur longo vestigia ponere gressu. 
Tantum aberant summo, quantum semel ire sagitta 
Missa potest: Flexere oculos et mersa palude 
Caetera prospiciunty tantum sua tecta manere. 
(Metamorphoseon 1. VIII, 680 sq.) 
y^Wir sind Götter f^^ so sprachen sie^ „und die gottlosen Nachbarn 
Werden verdiente Strafen erleiden: Ihr aber sollt frei sein 
Von dem Verderben^ verlasst nur das Haus, und begleitet auf 

unseren 
Wegen uns und geht mit uns auf die Höhe des Berges!'' 
Beide gehorchten; die Götter gingen vorauf, und die Alten 
Stützten sich auf Stäbe, und strebten langsam vor Alter, 
Auf des Berges Höhe zu kommen. Sie waren vom Gipfel 
So weit nur noch, als ein geschossener Pfeil fliegt, da wandten 
Sie die Augen und sahen, dass alles vom See bedeckt war. 

Es wird hierauf die Verwandlung von Philemon und Baucis 
erzählt. Eine wirkliche Metamorphose aber erlebte die Frau 
des Lot : Respiciens autem uxor Lot post se versa est in statuam 
salis, Genesis c. 19, 26. Des Lots Frau sah sich um, und 
wurde in eine Salzsäule verwandelt. Sie erstickte nämlich im 
Schwefeldampfe, und ihre Leiche wurde bei dem Ausbruche 
der vulkanischen Tiefen während jener furchtbaren Katastrophe 
über Sodoma und Gomorrha mit Harz und dann mit Salz über- 
zogen. So stand die Säule noch in den Tagen des Königs 
Salomo (1015—975), und Josephus Flavius 37—101 n. Chr.) 
behauptet, dieses Denkmal der Strafgerechtigkeit Gottes noch 
gesehen zu haben. (Vgl. 1. Sapientiae c. 10, 7 und Antiquitatum 
Judaicarum 1. I, c 11, n. 4.) 

Man sieht aus der Darstellung des Ovid, dass der Auf- 
enthalt der Himmlischen bei Abraham und Sara mit dem hier- 
auf folgenden Besuch der Engel in Sodoma zusammenfliesst: 
Jupiter und Merkur führen Philemon und Baucis (Lot und 
die Seinigen) aus der Stadt und verhelfen zur Flucht auf das 
Gebirge. Hierauf sehen wir den Untergang der soeben ver 



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- HS - 

lassenen Stätte: „mersa palude caetera prospiciunt.** Das Tote 
Meer bedeckt die unglückliche Gegend. Die hl. Schrift sagt: 
„Das Tal Siddim (mit der Pentapolis), welches nunmehr das 
Salzmeer ist". (Genesis c. 14, 3.) Moses stellt kurz vor seinem 
Tode noch jenes furchtbare Strafgericht den Seinigen als War- 
nung vor Augen : ,,Das kommende Geschlecht wird die Strafen 
und Krankheiten dieses Landes sehen, welches der Herr mit 
Schwefel und der Glut des Salzes verbrannte, gleich der Um- 
kehr von Sodoma, Gomorrha, Adama und Zeboim." (Deuter, 
c. 29, 22 sq.) Im oben zitierten Buche der Weisheit c. 10, 7 
heisst es: „Die Gottlosen kamen um, als das Feuer über die 
fünf Städte herabfiel, wovon noch jetzt zum Zeugnisse ihrer 
Bosheit der Erdboden wüste liegt und raucht, die Bäume aber 
Früchte bringen, welche nicht reif werden können, und auch 
die Salzsäule zum Andenken an eine ungläubige Seele dasteht." 
(Cf. Genesis c. 19, 26.) Hiermit stimmt vollkommen überein, 
was Cornelius Tacitus, der römische Geschichtschreiber, 
„Historiarum" 1. V, c. 6 und 7 berichtet: 

„Est in Judaea lacus immenso ambitu, specie mariSy sapore 
corruptior, gravitate odoris accolis pestifer, neque vento im- 
pellitur, neque pisces autsuetasaquisvolucrespatitur.»* (CaputVI.) 

„Haud procul inde campi, quos ferunt olim uberes magnis 
que urbibus habitatos fulminum jactu arsisse ; et manere vestigia 
terramque ipsam specie torridam, vim frugiferam perdidisse; 
nam cuncta sponte edita, aut manu sata, sive herba tenus aut 
flore solidam in speciem adolavere, atria et inania velut in 
cinerem evanescunt. Ego sicut inclytas quondam urbes igne 
coelesti flagrasse concesserim, ita halitu maris infici terram, 
corrumpi superfusum spiritum, eoque foetus segetum et autumni 
putrescere reor, coelo soloque juxta gravi.** (Caput VII.) 

In Judäa liegt ein See^ von unermesslichem Umfange, 
einem Meere gleich, aber von sehr verdorbenem Geschmacke; 
auch bringt er durch seinen pestartigen Geruch den Anwohnern 
Verderben. Seine Gewässer können von keinem Winde in 
Bewegung gebracht werden; Fische und gewöhnliche Wasser- 
vögel halten es dort nicht aus. (Kapitel 6.) Nicht weit davon 
sind Landstriche, von denen man sagt, dass sie einst zwar 
fruchtbar und von grossen Städten bewohnt waren, später aber, 
von den Donnerkeilen des Himmels epfzündet, in Flammen auf- 



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^ 15b ^ 

gegangen sind. Spuren dieser Katastrophe sollen noch vor- 
handen sein; auch hat der Boden, dessen Oberfläche dem An- 
scheine gemäss verbrannt ist, seine fruchtbringende Kraft ver- 
loren. Alle Vegetabilien, welche entweder zufällig oder durch 
Menschenhand dorthin verpflanzt werden, sterben schon im 
Kraute oder in der Blume ab ; wenn sie aber ihr gewöhnliches 
Wachstum erreichen, so ist die Frucht ganz schwarz und taub, 
auch vergeht sie zu Asche. 

Wie ich nun gerne für wahr halte, dass jene so hoch- 
berühmten Städte durch die zündende Macht des Blitzes im 
Brande aufloderten, ebenso glaube ich, dass der Boden durch 
die Ausdünstung des Sees („Toten Meeres*») verpestet und die 
darüber lagernde Atmosphäre verdorben wird. Daher geraten 
auch die Früchte der Saaten und des Herbstes in Fäulnis -; 
indem Klima und Boden gleichmässig ungesund sind. Kapitel 7. 
(Vgl. Seite 151.) Ähnlich drückt sich Diodorus Siculus „Biblio- 
thecae Historicae'^ 1. II, c. 48 aus : '0 bk ttXtictiov TÖTioq, finTrupoq 
ujv Ktti bu^iüÖTiq, TTOieiTai TÖi cTu)|LiaTa Tuiv dvGpüuTTOV emvocra, kqi 
iravTeXaiq öXiTOXpövia- Weil das Gebiet (des Toten Meeres) 
ringsum vom Feuer durchglüht, die Luft aber von bösen Aus 
dünstungen erfüllt ist, so sind die Anwohner vielen Krankheiten 
unterworfen und werden nicht alt. (Cf. 1. Deuteronomii c. 29, 
22 sq. S. 162.) 

Der römische Geschichtschreiber M. Junianus Justinus, 
welcher unter der Regierung der Antonine (13S — 180 n. Chr.) 
lebte, schreibt über das Tote Meer „Historiarum Philippicarum 
Epitomes" l. 36, c. 3 n. 6: „In ea Judaeae regione lacus est 
Asphaltites, qui propter magnitudinem et aquae immobilitatem 
'mare mortuum' dicitur; nam neque ventis movetur, resistente 
turbinibus bitumine.** In jener bekannten Gegend von Judäa 
befindet sich ein Asphaltsee, welcher wegen seiner Grösse und 
der Unbeweglichkeit seines Wassers das „Tote Meer" genannt 
wird. Kein Wind hat ihn jemals in Bewegung gebracht, indem 
das Erdharz den Stürmen widersteht. 

Interessant ist auch der Bericht des Geographen Strabon 
(t 24 n. Chr.) über die Entstehung und Ausdehnung des „Toten 
Meeres'*: Bei Masada (gegenüber der Zungenhalbinsel am Toten 
Meere sind versengte Felsen und an vielen Stellen auch Erd- 
risse sowie aschenartiger Boden. Es quellen aus den Felsen 



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— 157 — 

Pechtropfen hervor und siedende Bäche, welche einen tibelen 
Geruch weithin verbreiten. Zudem findet man daselbst zer- 
trümmerte Wohnorte, so dass man den umwohnenden Barbaren 
Glauben schenken darf, wenn sie versichern, durch Erdbeben 
und Ausbrüche des Feuers sowie heisser Asphalt- und Schwefel- 
quellen (Dämpfe) sei der See "weiter vor angerückt,'^ PeuJTpacpiKiüv 
1 16, c. 764. (Strabons „Geographie^.) 

Demgemäss war das Salzmeer schon früher vorhanden 
und breitete sich nach jenen gewaltigen vulkanischen Eruptionen 
bei dem Untergänge der Pentapolis über die ausgebrannte und 
eingesunkene Fläche der Umgegend weiter aus. 

Hiermit stimmt überein, was Genesis c. 14,3 gesagt wird: 
„Die Heere der Könige des Ostens und der Pentapolis stiessen 
im Tale Siddim aufeinander, welches nunmehr das Salzmeer 
ist", wie die hl. Schrift erklärend beifügt. (Vgl. Seite 155.) 
Der Zusatz kann nur verstanden werden, wenn wir annehmen, 
dass die grössere Westhälfte des heutigen Toten Meeres die 
ehemaligen Gefilde des Tales Siddim (Waldtal) bedeckt, in 
welchen die Städte Sodoma Gomorrha, Adama und Zeboim 
gelegen waren. Zoar als Rettungsort des Lot blieb verschont. 
Diese Annahme wird auch durch die Tiefmessungen, welche 
der amerikanische Kapitän W. Lynch im Jahre 1848 an Ort 
und Stelle vornahm, bestätigt. Vgl. G. Hoberg „Die Genesis 
nach dem Liiteralsinn erklärt". Seite 139. Freiburg im Br., bei 
Herder 1899. Ausserdem sind noch zu vergleichen: Plinii 
„Historiae Naturalis" 1. V, c. 16, n. 15. Diod. Sic. „Bibliothecae" 
1.X1X, c. 98 u. 99; Flavii Josephi „Antiquitatum" 1. I, c. 12, n. 4; 
^De hello Judaico" 1. 4, c. 8, n. 4, 

Mit diesen Beschreibungen des Toten Meeres stimmen 
auch die Resultate der neuesten wissenschaftlichen Forschungen 
überein. Johannes Elbert ^Die Entstehung und Geschichte des 
Toten Meeres" (vgl. ^Natur und Offenbarung", 46. Jahrgang, 
1900, in. Heft, Seite 136) berichtet hierüber: „Die Bemerkung 
im Referate der Genesis, dass der Herr Feuer und Schwefel 
„vom Himmel herab" regnen Hess, deutet darauf hin, dass es 
sich bei diesem Brande um atmosphärische Feuer, also um 
brennende Gase, verbunden mit Gewittererscheinungen, handelte. 
Da nun auch Bruchspalten im Osten des Dschebel Usdum 
Salzberg) nachgewiesen sind, so dürfte ohne weiteres an- 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 12 



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- 158 — 

genommen werden, dass diese auch unter dem Toten Meere 
durchgehen. Demgemäss haben wir einen Anhalt bezüglich 
der Existenz einer submarinen Spalte, welche die ganze Länge 
des Sees, fast von Norden nach Süden, durchläuft, an dem 
auf der Oberfläche sich befindenden breiten Schaumstreifen, 
der im beständigen Aufblähen und anhaltend blasiger Bewegung, 
gleich einem reissenden Strome, die stille Wasserfläche durch- 
zieht.** 

„In befriedigender Weise dürfte also die in der Genesis 
geschilderte Sodomkatastrophe harmonieren mit den geologischen 
Forscht^ngsergebnissen." 

Zum Schlüsse können wir die Behauptung aufstellen, dass 
die mitgeteilten Zeugnisse aus den lateinischen und griechischen 
Schriftstellern die Berichterstattung der heiligen Schriften über 
den Untergang von Sodoma und Gomorrha sowie die Ent- 
stehung und Beschaff*enheit des Toten Meeres vollauf bestätigen. 

Fragen wir nun, unter welche Kategorie der Beziehungen 
dieser Abschnitt einzureihen sei, so können wir sagen, dass 
es sich an dieser Stelle wohl um stofl*liche Verwandtschaft der 
einzelnen Darstellungen handeln dürfte. Eine gewisse Kennt- 
nis der hl. Schrift scheint hierbei nicht ausgeschlossen zu sein, 
gemäss der Verbreitung, welche die Septuaginta in der Zeit 
des Kaisers Augustus bereits gefunden hatte. (Kategorie I.) 

5. Josuas langer Tag. 

Die hl. Schrift erzählt von einem ausserordentlichen Er- 
eignisse in den Tagen des Feldherrn Josua (1450 v. Chr.), welches 
seinesgleichen in der ganzen Weltgeschichte nicht gefunden 
hat; auf Gebet des Josua blieb die Sonne (nach dem Augen- 
scheine gesehen) mitten am Himmel stille stehen, und eilte 
nicht zum Untergange einen ganzen Tag. „Weder vorher, 
noch auch nachher war ein Tag so lang, wie dieser, da Gott 
hörte auf die Stimme eines Menschen und stritt für Israel." 
(L. Josues c. X., 13 sq.) Im Zusammenhange damit wird be- 
richtet: „Et conturbavit hostes Dominus a facie Israel, quumque 
fugerent filios Israel et essent in descensu Beth Horon, Dominus 
misit super eos lapides magnos usque ad Azeca; et mortui 
sunt multo plures lapidibus grandinis, quam eos gladio per- 



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- 159 - 

cusserant iilii Israel.'^ (L. c. c. X., lU sq.) „Tunc locutus est 
Josue Domino: Sol contra Gabaon ne movearis et Luna contra 
vallem Ajalon!" „Steteruntque Sol et Luna, donec ulcisceretur 
se gens de inimicis suis." Es verwirrte aber der Herr die 
Feinde bei dem Anblicke der Israeliten, und als sie vor ihnen 
die Flucht ergriffen und sich im Hohlwege von Bethorn befanden 
(wo es kein Ausweichen gab), da sandte er über sie schwere 
Steine bis nach Azeka hin. (Die Verfolgung dehnte sich auf 
eine Strecke von 20—25 km, = 4—7 Stunden aus.) Und viel 
mehr Feinde wurden durch die Hagelsteine, als durch das 
Schwert der Israeliten erschlagen. Damals flehte Josua zu dem 
Herrn: Sonne stehe still über Gabaon und Mond über dem 
Tale Ajalon!" Und stille standen Sonne und Mond bis sich 
das Volk an seinen Feinden gerächt hatte. — Dies ist das 
Faktum. — 

Nach dem Ptolomäischen Weltsystem glaubte man, die 
Sonne bewege sich um die Erde. Nach der richtigeren An- 
schauung des Galileo Galilei (1564—1642), welche sich auf 
Copernicus stützte, bewegt sich die Erde aber um die Sonne. 
Trotz der Wahrheit dieses letzteren Systems konnte man vor- 
her und nachher, volkstümlich, poetisch von einem „Aufgang", 
„Untergang'* und auch von einem „Stillstehen** der Sonne 
sprechen. Es konnten in der Tat eine eigenartige Veranlagung 
des Äthers und der Amosphäre und eine im Zusammenhange 
damit von Gott eigens und wunderbar verursachte Strahlen- 
Brechung ein längeres Verweilen des Sonnenbildes über dem 
Horizont herbeiführen. Und dies durfte der Wahrheit gemäss 
populär poetisch als ein Stillestehen der Sonne bezeichnet und 
geschildert werden. Das Wunder ist nämlich in der hl. 
Schrift nicht in naturwissenschaftlichen Wendungen, sondern 
nach dem Eindrucke des Augenscheines volkstümlich erzählt. 
Auch das neue Weltsystem leugnet keineswegs in der an- 
gezogenen Bibelstelle die Möglichkeit und Wirklichkeit eines 
Wunders, wenn der Zusammenhang der Bibel ein solches ver- 
langt. Nur müssen die naturwissenschaftlichen Begleiterschei- 
nungen des Wunders jetzt ganz anders aufgefasst werden, 
als dies früher der Fall war. (A. Meyenberg, Canonicus und 
Professor der Theologie in Luzern.) 

Jesus Sirach sagt hierüber c. 46, 5: „Annon in iracundia 



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— i6o — 

Josue impeditus est Sol, et una dies facta et quasi duo?!" 
„Josue invocavit Altissimum potentem in oppugnuado inimicos 
undique, et audivit eum magnus et sanctus Deus in saxis 
grandinis virtutis valde fortis." V. 6 ibidem. Wurde nicht 
auf das inbrünstige Gebet des Josua die Sonne in ihrem Laufe 
zurückgehalten, so dass ein Tag wurde an Länge wie swei? 
Er rief den Allerhöchsten an, welcher Macht hat. die Feinde 
ringsum zu besiegen ; und es erhörte ihn der grosse und heilige 
Gott mit Hagelsteinen von gewaltiger Grösse. 

Flavius Josephus „Antiquitatum" 1. V c. 1, n. 17 beschreibt 
dieses Ereignis mit folgenden Worten: ^Es erkannte Josua, 
dass Gott ihm selbst zu Hülfe gekommen sei; denn es donnerte j 
und blitzte gewallig, und ein ungewöhnlich heftiger Hagelschlag 
ging nieder. Dazu kam noch, dass der Tag selbst sich ver- 
längerte, damit die Hebräer nicht durch die einbrechende Nacht 
an der Verfolgung ihres Sieges gehindert würden. Dass sich 
aber der Tag damals wirklich verlängert und über das gewöhn- 
liche Zeitmass hin sich ausgedehnt habe, wird von den hl. 
Schriften, welche im Tempelarchiv aufbewahrt werden, aus- 
drücklich bezeugt." (Cf. 1. Josuas c. X., 9—15.) 

Eine Nacht fiel aus, und die Sonne schien ununterbrochen 
36 Stunden lang. Dass hierdurch eine grosse Überhiti^ung in 
den unteren Luftregionen eintrat, war die natürliche Wirkung 
des ungewöhnlich langen Tages. Ein furchtbarer Hagelsturm 
erfolgte hierauf, welcher, mit Blitz und Donner verbunden, über 
die Feinde Israels verheerend niederbrauste. Dabei war es 
wunderbar, das die Schleudersteine des Himmels nur die heid- 
nischen Amorrhäer zerschmetterten, während die verfolgenden 
Kinder Israel unverletzt blieben. 

In heissen Tagen nämlich ist die Wärme zunächst der 
Erde am grössten und wird mit der zunehmenden Höhe ober- 
halb derselben immer geringer, indem über die Atmosphäre 
hinaus die Sonnenstrahlen den Äther zwar durchscheinen, aber 
nicht mehr erwärmen können. Ist nun die Erdoberfläche sehr 
warm geworden, so steigt die heisse Luft, welche leichter 
wird und eine grosse Fähigkeit hat „Wasser in Gasform auf- 
zunehmen, in die höheren, kalten Regionen empor: es bilden 
sich nach oben .'ziehende Luftströme, Die aufsteigende Säule 
aber nimmt eine wirbelnde Bewegung an, und, in die kalten, 



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— i6i — 

höheren Luftschichten eindringend, schlägt sie dort ihren 
VVasserdampf in rascher Wolkenbildung nieder. Die hierbei 
frei werdende Wärme dehnt die Luft noch mehr aus und treibt 
sie schneller empor. In den nun immer stärker kreisenden 
Strudel werden jetzt von allen Seiten her eisig kalte Luftmassen 
hineingerissen : immer höher wirbelt derselbe empor. Dabei be- 
zeichnet er seinen Weg durch eine dichte Wolke von grossem 
Umfange, welche unten aus flüssigem, aber unter dem Gefrier- 
punkt erkalteten Wasserteilchen, dagegen oben schon aus Eis- 
nadeln besteht. Letztere werden von der stürmisch bewegten 
Luft zu Graupelkörnern geballt, w^elche zu schwer, um schweben 
zu können, in den unteren Teil der Wolke herabfallen, und 
dort zu plötzlicher massenhafter Eisbildung den Anstoss geben. 
Um jedes Graupelkorn als Kern bildet sich sofort eine dichte 
Eisschicht, welche, sobald die Wolke aus mehr oder weniger 
wasserreichen Lagen besteht, aus mehrfach konzentrischen 
Schalen zusammengesetzt sein kann. Auch Sandkörner und 
andere feste Körperchen, welche von dem aufwärts ziehenden Luft- 
strome mit emporgerissen werden, können die überschmolzenen 
(überkalteten) Wasserteilchen der Wolken zum plötzlichen Er- 
starren bringen und auf diese Weise die Kerne von Hagelkörnern 
abgeben. Die nun im Augenblicke fertigen Hagelkörner, welche 
schon in der Höhe mit Gerassel zusammenstossen, fallen hier- 
auf, sobald ihre Schwere die elektrische Anziehung der Wolken 
überwiegt, verheerend herab und verstärken sich im Nieder- 
sinken durch überkühlte Regenwolken sogar zu schweren 
Schlossensteinen. Wie bei jeder raschen Wolkenbildung, so 
treten auch bei der Hagelwolke elektrische Entladungen auf, 
und das Gewitter ist der stete Begleiter des Hagels. (Vgl. 
Albert Gokel „Das Gewitter", IL Auflage Seite 228 f., Köln, 
C. Bachem 1905.) 

Am 20. April 1880 ging u. a. über die Ortschaften Roche- 
fort und S. Jan-D'Ang^ly in Frankreich ein Hagelwetter nieder, 
das entsetzliche Verwüstungen anrichtete. Es fielen nämlich 
Hagelstücke von 490—500 Gramm: mehrere Personen wurden 
tödlich verletzt, und zahlreiche Tiere wurden erschlagen sowie 
eine Unzahl von Dachziegeln und Glasscheiben zertrümmert^). 

1) Die Temperatur in 14 Kilometern über der Erde. Der Meteorologe 
Teisserenc de Bort hat zu Anfang 1904 an die Pariser Akademie der 



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— I62 — 

Als ein Strafgericht Gottes über die Feinde Israels war 
jener Wettersturm um so vernichtender, als ganz ungewöhn- 
liche Vorbedingungen für denselben gegeben waren. Die 
ausserordentliche Länge des Tages und das Anhalten der 
Mittagsglut begünstigten die Hagelbildung ungemein, so dass 
die zermalmenden Schlössen in wohl nie gesehener Grösse 
zur Erde niederstützten. (Cf. 1. Exodi c. 9, 22—27.) 

Eine ähnliche Erscheinung zeigte sich unter den 10 Plagen 
Ägyptens (1. Exodi 1. c.) und bei dem Siege des Samuel über 
die Philister (1. I. Regum c. 17, 10). Ein gleichartiges Wunder 
geschah auf das Gebet der christlichen Legion (;,legio fulmi- 
natrix") im Kampfe des Kaisers Marcus Aurelius (166 — 180 
n. Chr.) gegen die Markomannen und Quaden. (Cf. Eusebii 
„Historiae Ecclesiasticae" 1 V., c. 7, und Dionis Cassii „Historiae 
Romanae" 1. 71, c. 8 sq.) 

Diese wunderbare Tatsache konnte unmöglich verborgen 
bleiben und gab Veranlassung, das grossartige Ereignis sagen- 



Wissenschaften eine Mitteilung ergehen lassen, in welcher er die vorlie- 
genden Erlebnisse über die Erforschung der Lufttemperatur in grossen 
Höhen durch Vermittlung von s, g. Pilotballons zusammenfasst. Die 
Untersuchungen erstrecken sich auf nicht weniger als 581 Ballon -Aufstiege, 
welche sich auf 5 Jahre verteilt haben. Aus so zahlreichen Beobach- 
tungen können ohne Zweifel allgemeine Schlüsse von bedeutendem Werte 
gezogen werden, zumal in 141 Versuchen mit den Ballons Höhen bis 
zu 14000 Meter über der Erdoberfläche erreicht wurden. Die aufge- 
stellten Tabellen geben bis zu 5000 Meter Höhe die Temperatur von 
500 zu 500 Meter an; weiterhin die von 1000 zu 1000 Meter. Die Er- 
gebnisse sind auch so angeordnet, dass die Verschiedenheit der Jahreszeiten 
hervortritt. Im Sommer betrug die Temperatur, wenn sie am Erdboden 
zu 13 Grad bestimmt wurde, in 500 Meter Höhe noch etwas mehr, nämlich 
14 Grad, und nahm dann fortgesetzt ab. Der Gefrierpunkt wurde in einer 
Höhe zwischen 3000 und 4000 Meter erreicht. In 10 000 Meter zeigte das 
Therometer eine Kälte von — 45 Grad, und in 14000 Meter eine solche 
von mehr als — 5 1 Grad ; jedoch wurde die niedrigste Temperatur mit 
52,7 Grad in 12000 Meter gemessen. Im Winter war die Kälte in den 
höheren Luftschichten selbstverständlich noch bedeutender. In loooo 
Meter Höhe wurden bereits — 53 Grad gemessen. Die tiefste Temperatur 
wurde mit fast — 58 Grad in 11 — 12000 Meter Höhe ermittelt, wäh- 
rend in 14000 Meter wieder eine Abnahme bis auf — 55,5 Grad fest- 
gestellt wurde. (Vgl. Köln. Volks-Zeitung Nr. 289, Freitag, 8. April 1904. 
Seite 2.) 



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- i63 - 

haft auszuschmücken. Der römische Dichter Ovid, welcher 
den Stoff zu seinen Metamorphosen teilweise aus dem Morgen- 
lande entlehnte (vgl. S. 139), scheint den langen Tag des Josua 
vor Augen gehabt zu haben, wenn er die poetische Fahrt des 
Phaeton auf dem Sonnenwagen seines Vaters Titan beschreibt. 
(Metamorphoseon 1. L, 748—779 und 1. IL, 1—407.) Wer kennt 
nicht die schönen Verse: 

„Regia Solls erat sublimibus alta columnis 
Clara micante auro flammasque imitante pyropo. 
Cujus ebur nitidum fastigia summa tenebat 
Argenti bifores radiabant lumine valvae.** 
Phoebus Burg war hoch auf erhabenen Säulen, und glänzend 
Von dem Schimmer des Goldes und feurigem Diamant. 
Weisses Elfenbein deckte die hohen Gipfel, und zweifache 

Türen 
Blitzten am silbernen Eingang. 

Titan redete seinen Sohn Phaeton also an: 

„Quoque minus dubites, quodvis pete munus, ut illud 
Me tribuente feras; promissis testis adesto 
Dis juranda palus, oculis incognita nostris! 
Vix bene desierat currus rogat ille paternos 
Inque dum alipedum jus et moderamen equorum. 
Paenituit jurasse patrem: qui ter quaterque 
Concutiens illustre caput 'Temeraria* dixit 
Vox mea facta tua est. Utinam promissa liceret 
Non dare! confiteor, solum hoc tibi, nate negarem, 
Non honor est: poenam, Phaeton pro munere poscis! 
Finierat monitus, diicts tamen ille repugnat, 
Propositumque premit flageratque cupidine currus.** 
Dass du nun nicht zweifelst an mir: so bitte dir jegliches 

Geschenk aus, 
Dass du von mir es erhaltest. Höret meine Verheissung 
Ihr Gewässer, wobei die Götter schwören, von meinen 
Augen noch nie gesehen! Kaum hatt' er also geredet, 
So erbat sich der Sohn den Wagen des Vaters und einen 
Tag sur Gewalt^ die beflügelten Rosse su führen. 
Da gereute den Vater der Schwur, und drei Mal bis vier Mal 
Schüttelnd das strahlende Haupt, begann er: „Nachteilig werden 
Meine Worte durch deine Bitten; und war' der Verheissung 



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— 164 — 

Nichterfüllung erlaubt, so würde ich die einzige Bitte 

Dir nicht gewähren. Doch darf ich Dir widerraten! Dein 

Wunsch ist, 
Phaeton, unbedachtsam und mehr, als die Kräfte vermögen : 
Nicht Ehre, Strafe Phaeton, forderst du statt der Belohnung !** 
Also warnte der Vater; Der Sohn, beharrlich im Vorsatz, 
Widerstrebte der Warnung und brannte, den Wagen zu führen. 
Mit bekümmerter Seele übergibt Titan seinem Sohne den 
Sonnen wagen und mahnet: 

„Hac Sit iter: manifesta rotae vestigia cernes. 
Utque ferant aequos et coelum et terra calores: 
Nee preme, nee summum molire per aethera currum! 
Altius egressus oelestia tecta coremabis, 
Inferius terras: medio tuUssime ibis!^ 
Lass deine Bahn so sein: Du wirst noch deutliche Spuren der 

Räder 
Finden. Damit nun aber Himmel und Erde die Wärme 
Gleich empfinden, so treibe den Wagen nicht nieder-, nicht auf- 
wärts 
An den hohen Olymp; denn steigst Du hoch, so verbrennest 
Du die himmlische Burg, und abwärts, die Erde. Die Mitte 
Wird am sichersten sein! 

Weil aber Phaeton seiner hohen Aufgabe unkundig und 
nicht gewachsen war, so lenkte er den Wagen und die Sonnen - 
rosse, der sicheren Führung entbehrend, rissen denselben bald 
zu hoch und bald zu tief: Himmel und Erde gerieten in Brand 
und Flammen. Ihn selbst aber traf der zuckende Blitzstrahl 
des Donnerers („im Gewitter"); er stürzte vom Wagen herab, 
und sein einsames Grab erhielt die warnende Inschrift: 
„Hie Situs est Phaeton, currus auriga paterni: 
Quem si non tenuit, magnis tamen excidit ausis!" 
„Hier ruhet Phaeton, der den Wagen desVater zu führen versucht ; 
Wenn er auch nicht die Leitung verstand, so war doch gross 
Sein Wagnis: er stürzte!" 

Diese Sonnenwagenfahrt, welche im einzelnen nachzulesen 
ein Genuss ist (Metamorphoseon 1. II v. 1-— 334), gehört unstreitig 
zu den schönsten Darstellungen des römischen Sängers Ovid. 
Der lange, heisse Tag unter Josua gewinnt den vollkommensten 
poetischen Ausdruck. Von den Begleiterscheinungen wird gesagt: 



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- 165 - 

^,Nam pater obductos luctu miserabilis aegro 
Condiderat vultus; et, si modo credimus, unum 
Isse diem sine sole ferunt: incendia lumen 
Praebebant, aliquisque malo fuit usus in illo." 
Phoebus, der Vater, verhüllte jammernd sein Antlitz. 
Und ein Tag, wenn wir anders der Sage glauben, soll ohne 
Sonne vorübergegangen sein. Nur die Brände erhellten 
Ihn: so hatte das Unglück noch einigen Nutzen. 
Hochpoetisch wird die Hitze jenes ungewöhnlichen Tages 
als so gross dargestellt, dass die von ihr verursachten Feuer- 
brände das Licht der Sonne ersetzt haben sollen. Liegt darin 
nicht eine Anspielung auf das Buch Josua c. X, 14: „Weder 
vorher noch nachher war ein so langer Tag, als der Herr der 
Stimme eines Menschen gedachte und stritt für Israel?" 

Als Aveitere Folge jener ausserordentlichen Hitze teilt 
Ovid uns mit, dass selbst die Flüsse davon in Brand geraten 
seien. Unter ihnen werden namentlich aufgeführt: der Rhein 
(Deutschland), die Rhone (Frankreich), der Tagus (Tago in 
Spanien), der Po (Oberitalien), der Tiber (Mittelitalien), der 
Hebrus (Marizza) und Strymon (Struma), beide in Thracien, 
der Eurotas (Basiliponto) in Griechenland, der Euphrat (Baby- 
lonien), der Orontes (Ahssey) in Syrien, der Ganges (Indien) 
und der Nil in Afrika. (Cf. Metamorphoseon 1. II, 227—260.) 
Demgemäss hätte sich jenes Ereignis in der ganzen damals 
bekannten Welt bemerklich gemacht. 

Ein ähnliches Brennen der Flüsse bei dem Kampfe des 
Achilleus mit den Trojanern erzählt Homer Iliados 1. XXI, 
330 — 385. Zur Hülfe des mutigen Helden ruft Here den 
Hephaistos in die Schranken, welcher die empörten Gewässer 
des Xanthos mit der lodernden Glut des Feuers angriff und 
alles Grün ringsum versengte, bis der Sieg vollendet war. 

Das klassische Altertum hatte ausserdem noch die Kennt- 
nis von dem Wortlaute des Gebetes, welches Josua damals 
aussprach: „Sol contra Gabaon ne movearis, et Luna contra 
vallem Ajalon!" Steteruntque Sol et Luna. „Sonne, stehe 
still über Gabaon und Mond über dem Tale Ajalon!" Und 
stille standen Sonne und Mond! 

Der Sänger Homer berichtet nämlich, Iliados 1. II, 412 sq., 
dass 4er Völkerhirte Agamemnon vor dem erwarteten An- 



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-.- 166 — 

Sturme auf Troja im zehnten Jahre des Krieges an Zeus die 
Bitte gerichtet habe: 

„Zeö Kubi<TT€, ^exicTTC, K€XaiV€<p€5, alO^pi vaiuiv, 
Mf| Tipiv in^ i^^Xiov bövai iiii KV^<pa^ dX9eiv, 
TTpiv ^€ KttTtt 7rpT]vt^ ßaX^eiv TTpiä^oio ^Aa9pov." 
„Zeus, rühm würdig und hehr, Schwarz wolkiger, Herrscher des 

Äthers. 
Nicht eher lass sinken die Sonn' und das Dunkel heraufziehn, 
Bis ich hinab von der Höhe gestürzt des Priamos Wohnung!" 

„Steteruntque Sol et Luna, donec se ulcisceretur gens de 
inimicis suis." (L.Josues c. X, 13.) Und stille standen Sonne 
und Mond, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte." 
(Vgl. Joseph Schreiner „Hercules redivivus", S. 27.) 

Der bekannte Professor Sepp (München) stellte in einem 
für das grosse Publikum berechneten Aufsatze („Augsburger 
Allgemeine Zeitung", 1875, Nr. 169, § 2657; vgl. Goldziher 
„Der Mythos bei den Hebräern" S. 14) die Behauptung auf: 
„Aber keine Nation war so gewandt, sich geistig und materiell 
fremdes Eigentum anzueignen, wie die Hebräer. Was sagen wir 
dazu, dass der Sonnenstand im Geheiss Josuas zum Zweck, die 
Amelekiter bis zur Vernichtung zu schlagen, geradeswegs von 
Homer entlehnt ist, wo lUas II., 412, die poetische Hyperbel 
Agamemnon in den Mund gelegt ist: „Nicht, o Zeus, lass sinken 
die Sonne!" . .? Hierauf erwidern wir, dass der gelehrte Herr 
Professor Sepp sich mindestens um 500 Jahre in der Chrono- 
logie geirrt hat Die Abfassung des Buches Josua fällt näm- 
lich in die Zeit von ca. 1450—1440 v.Chr.; die Ausgestaltung 
und erste schriftliche Aufzeichnung der Homertischen Gesänge 
dagegen in das 9./8. Jahrhundert, und die attische Recension 
derselben wird in die Regierungszeit des Peisistratos um 540 
vor Christi Geburt angesetzt. (Drerup, München.) Wenn nun 
eine Entlehnung stattgefunden hat, so muss dieselbe aus dem 
Buche Josua genommen worden sein, und nicht umgekehrt. 
(Vgl. auch Dr. Joh. Nikel „Die Genesis und die Keilschrift- 
forschung" Seite 17; Freiburg, Breisgau, bei Herder 1903.) 

Auch bei diesem Artikel dürfte die I. Kategorie: literarische 
Verwandtschaft mit einer, wenn auch getrübten Kenntnis der 
Bibel anzunehmen sein. 



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— i67 — 

6. Der Raub der Sabinerinnen verglichen mit einem Vorgange 

aus der Zeit der Richter. 
(Titi Livii „Ab urbe condita"!. I, c.9 u. 1. „Judicum" c. 21, 15 sq.) 

Dr. Moritz Müller, Oberlehrer zu Stendal, sagt in der Er- 
klärung zu Titus Livius „Römische Geschichte" 1. I, c. 9, S. 45 
(II. Auflage, Leipzig bei Teubner, 1888) : „Die Erzählung von 
dem Raube der Sabinerinuen ist wohl nur eine mythische Dar- 
stellung aus der ersten Zeit des römischen Staates der auch 
bei anderen Völkern üblichen Sitte, dass die Braut von dem 
Manne aus dem elterlichen Hause entführt wurde." Einen 
wirklichen historischen Vorgang dieser Art nun berichtet „das 
Buch der Richter", Kapitel 21, Vers 15 und folgende, welcher 
sich um das Jahr 1440 vor Christus im Volke Israel zutrug. 
Da jedoch die Abfassung dieses Buches in die Zeit des Samuel 
(ca. 1170—1095) fällt, Titus Livius aber sein Ereignis, welches 
er 30 vor Christus beschrieb, kurz nach 753 a. Chr. verlegt, 
so ist es unzweifelhaft, dass sowohl die Tatsache, wie auch 
die schriftliche Aufzeichnung derselben im Buche der Richter 
der Erzählung bei Livius um mehrere Jahrhunderte vorausgeht. 

Titus Livius, zu Padua zirka 59 v. Chr. geboren und 
17 n. Chr. daselbst gestorben, brachte den grössten Teil seines 
Lebens in Rom zu. Er gehört auch zu jenen ausgezeichneten 
Männern, welche mit Virgil, Horatius, Ovid sowie Diodorus 
Siculus und Nicolaus Damascenus das Zeitalter des Augustus 
durch unsterbliche Werke verherrlicht haben. Sein Haupt- 
verdienst bildet das 142 Bücher umfassende Geschichtsopus 
„Ab urbe condita libri'*, welches von der Gründung der Stadt 
Rom (753 a. Chr.) ausgehend, bis zum Tode des Drusus f 9 v.Chr. 
reicht, und deren schriftliche xA^ufzeichnung von 30 a. Chr. 
bis 14 n. Chr. geschah. Livius stand in einem freundschaft- 
lichen Verhältnisse zu dem Kaiser Augustus und war gleich 
ihm mit der griechischen Sprache und Literatur vertraut. (Cf. 
Suetonii Tranquilli ^Divi Augusti" c. 98 u. 99; „Ab urbe con- 
dita'' 1. 26, c. 22, n. 14; 1. 27, c. 11, n. 5 sq.; 1. 68, c. 10 u. a.) 
Auch von seiner sonstigen mannigfachen Bildung legt sein Werk 
ein beredtes Zeugnis ab. Durch die damals in Rom von einer 
zahlreichen Judengenossen schaft verbreitete griechische Über- 
setzung der Septuaginta konnte ihm jenes Faktum aus der 



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— i68 — 

Geschichte des Volkes Israel wohl bekannt sein. Im Jahre 1849 
glaubte Edward Wilton den Beweis erbracht zu haben, dass 
Titus Livius die Bibel gelesen habe, und dass die Beschreibung 
des Zweikampfes des David mit Goliath (1. 1 Regum c. 17, 39 sq.) 
der Erzählung des Livius von dem Kampfe des Titus Manlius 
Torquatus mit dem Gallier (396 a. Chr., Titi Livii „Ab urbe 
condita" 1. VII, c. 10) zugrunde liegen müsse. (Cf. Journal of 
Sacred Literature II (1849), 344 sq.; Goldziher „Der Mythos 
bei den Hebräern und seine geschichtliche Entwickelung", 
Seite 13, Leipzig 1876; und Dr. Joh. Nikel „Die Genesis und 
die Keilschriftforschung" S. 9. Freiburg (Breisgau) bei Herder 
1903, sowie dieses Buch S. 137—139, 146.) 

Die hl. Schrift erzählt den Vorgang nach dem Wortlaute 
der Vulgata wie folgt: Universus populus Israel valde doluit 
et poenitentiam egit de interfectione unius tribus (Benjamin) 
ex Israel. Dixerunt igitur majores natu: „Quid faciemus reli- 
quis, qui non acceperunt mulieres? Omnes enim in tribu 
Benjamin mulieres ceciderunt et magno nobis cura et studio 
providendum est, ne tribus una ex Israel deleatur. Juramento 
enim et maledictione constricti Alias nostras iis dare non possu- 
mus, quia diximus : 'Maledictus sit, qui de filiabus suis uxorem 
dederit Benjamin!' Ceperunt igitur concilium atque dixerunt: 
Ecce solemnitas Domini est in Silo anniversaria, quae sita est 
ad septentrionem urbis Bethel, ad plagam orientalem viae, 
quae de Bethel est ad Sichimam et ad meridiem Lebonae 
oppidi. Pilus uutem Benjamin praeceperunt atque dixerunt: 
Ite et latitate in vineis! Quumque videritis filias Silo ad 
choros ex more ducendos procedere, exite repentino de vineis 
et rapite ex iis singuli uxores singulas et pergite in terram 
Benjamin. Quumque patres earum fratresque venerint, qui 
adversum vos queri coeperint et jurgari, iis dicemus: Miseremini 
eorum! non enim rapuerunt eas jure bellantium atque victorum 
(ut servae fierent), quibus rogantibus ut acciperent, non dedistis; 
quod a vobis peccatum fuisset! — Fecerunt igitur filii Benjamin 
sicut ipsis imperatum erat, atque ad numerum suuni rapuerunt 
sibi ex iis quae choros ducebanr uxores singulas et in possessio- 
nem profecti suam urbes aedificabant habitabantque in iis. 

Ganz Israel hatte grossen Schmerz und Reue über den 
Untergang eines Stammes in Israel. Daher sagten die Ältesten 



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— i69 — - 

des Volkes: ^Was sollen wir anfangen mit den übrigen, welche 
keine Frauen erhielten? Von Benjamin nämlich sind alle 
Frauen umgekommen. Daher müssen wir mit allem Eifer und 
der grössten Mühe dafür sorgen, dass nicht ein Stamm in 
Israel erlösche. Unsere Töchter jedoch können wir ihnen nicht 
geben, da wir durch Eid und Fluch gebunden sind, indem wir 
sprachen: ''Verflucht sei der, welcher an Benjamin eine seiner 
Töchter zur Frau gibt!'" Sie fassten nun den Entschluss und 
sagten : ^Siehe, es kommt das alljährige Fest des Herrn (Volks- 
fest) in Silo, welches nördlich von der Stadt Bethel liegt und 
östlich von dem Wege, der von Bethel nach Sichem führt, so- 
wie südlich von der Stadt Lebona." Sic trugen daher den 
Söhnen Benjamin auf und sprachen : Gehet und haltet euch in 
den Weinbergen verborgen! Und wenn ihr die Töchter von 
Silo, wie gewöhnlich um Tänze aufzuführen, herkommen sehet, 
so eilet schnell aus den Weinbergen, und ein jeder nehme sich 
davon eine Frau und gehet damit in das Land Benjamin. 
Sollten etwa ihre Väter und Brüder kommen und gegen euch 
zu klagen und zu streiten beginnen, so werden wir ihnen sagen: 
'Habet Nachsicht mit ihnen! Sie haben ja dieselben nicht nach 
dem Rechte der Krieger und Sieger genommen (um sie als 
Kriegsgefangene zu Sklavinnen zu machen); sondern ihr habt 
auf ihre Bitten, sie nehmen zu dürfen, sie ihnen nicht gegeben, 
— was von eurer Seite eine Sünde gewesen wäre — . Sie 
werden nunmehr die rechtmässigen Gattinnen euerer Stammes- 
genossen und Brüder!'" 

Hierauf taten die Söhne Benjamin, so wie ihnen anbefohlen 
war, und sie raubten sich, soviele ihrer waren, jeder eine Frau 
von denen, welche Tänze aufführten. Hierauf zogen sie in 
ihren Besitz (im Stamme Benjamin) zurück: sie erbauten sich 
Städte und wohnten darin. 

Fast gleichlautend ist der Bericht bei Titus Livius, beson- 
ders mit Rücksicht auf das spätere rechtliche Verhältnis der 
gewalttätigen Brautwerbung : 

^lam res Romana adeo valida, ut cuilibet finitimarum 
civitatum hello par esset; sed penuria mulierum hominis aetatem 
duratura magnitudo erat; quippe quibus nee domi spes prolis 
nee cum finitimis connubia essent. Tum ex consilio patrum 
Romulus legatos circa vicinas gentes misit, qui societatem 



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connubiumque novo populo peterent: 'urbes quoque, ut cetera, 
ex infimo nasci; deinde quas sera virtus et Di jurent, magnas 
opes sibi magnumque nomen facere; satis se scire, origini 
Romanae et Deos affuisse et non defuturam esse virtutem. 
Proinde ne graverentur, homines cum hominibus sanguinem et 
genus miscere.' Nusquam benigne legatio audita est; adeo 
simul spernebant. simul tantam in medio crescentem molem 
sibi et posteris suis metuebant; ac plerisque rogitantibus dimissi, 
ecquod feminis quoque asylum aperuissent: id enim demum 
compar connubium fore. Aegre id Romana pubes passa et 
haud dubie ad vim spectare res coepit, Cui tempus locumque 
aptum ut daret Romulus, aegritudinem animi dissimulans, ludos 
ex industria parat Neptuno equestri soUemnes. Consualia vocat. 
Indici deinde finitimis spectaculum jubet quantoque apparatu 
tum sciebant aut poterant, concelebrabant, ut rem claram ex- 
spectatamque facerent. Multi mortales convenere studio etiam 
videndae novae urbis, maxime proximi quique: Caeninenses, 
Crustumini, Antemnates; jam Sabinorum omnis multitudo cum 
liberis et conjugibus venit. Invitati hospitaliter per domos, 
quum situm moeniaque et frequentem tectis urbem vidissent, 
mirantur, tam brevi tempore rem Romanam crevisse. Ubi 
spectaculi tempus venit deditaeque eo mentes cum oculis erant, 
tum ex composito orta vis, signoque dato Juventus Romana ad 
rapiendas virgines discurrit. 

Magna pars forte, in quem quaeque inciderat, raptae sunt. 
Turbato per metum ludicro moesti parentes virginum profugiunt, 
incusantes hospitii foedus Deumque invocantes, cujus ad soUerane 
ludosque per fas ac fidem decepti venissent. Nee raptis aut 
spes de se melior aut indignatio est minor. Sed ipse Romulus 
circumibat docebatque „patrum id superbia factum esse, qui 
connubia finitimis negassent. Illas tamen in matrimonio (justo), 
in societate fortunarum omnium civitatisque, et quo nihil carius 
humano generi sit, liberorum fore. Mollirent modo iras, et 
quibus fors corpora dedisset darent (etiam) animos.'* 

Schon war das junge Anwesen in Rom so weit erstarkt, 
dass es jedem der benachbarten Staatengebilde im Kriege eben- 
bürtig gegenüber auftreten konnte, aber durch die geringe 
Anzahl von Frauen konnte es nur auf die gewöhnliche Lebens- 
zeit eines Menschen Bestand haben: besonders weil sie zu 



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^ 171 -- 

Hause kdne Hoffnung auf Nachwuchs besassen und auch nicht 
die Gelegenheit hatten, mit ihren Grenznachbaren eine Ehe- 
gemeinschaft zu schliessen (d. h. die Möglichkeit, wechselseitig 
rechtsgültige Heiraten einzugehen). Zu jener Zeit nun schickte 
Romulus nach dem Rate der Volksältesten Gesandte bei den 
benachbarten Volksstämmen umher, welche eine Bundesgenossen- 
schaft und die Möglichkeit, rechtsgültige Heiraten einzugehen, 
für den neuen Staat anbahnen sollten. „Denn'^, so lautete ihr 
Auftrag, ^auch die Städte haben, so wie die übrigen mensch- 
lichen Einrichtungen, einen kleinen Anfang, in der Folgezeit 
aber, wenn die Himmlischen und die eigene Tüchtigkeit ihnen 
beistehen, erwerben sie sich grosse Macht und ein bedeutendes 
Ansehen. Er wisse gar wohl, dass bei der Gründung des 
römischen Gemeinwesens die Himmlischen tätige Hülfe geleistet 
hätten, und dass für die Stadt Rom auch die eigene Tüchtigkeit 
in der Zukunft nicht fehlen werde. Daher möchten sie kein 
Bedenken tragen, als Menschen mit Menschen (d. h. mit Gleich- 
berechtigten) die Gemeinschaft des Blutes und der Ehebündnisse 
mit ihnen einzugehen." 

Nirgends aber fand diese Gesandtschaft eine gütige Auf- 
nahme: teils verachtete man sie, teils auch hatte man die Furcht, 
das in ihrer Mitte so kühn aufstrebende neue Staatswesen 
könne ihnen selbst und ihren Nachkommen einstens gefährlich 
werden. Demgemäss nun wurden sie entlassen, während die 
meisten sie noch befragten, ob sie denn in Rom auch für die 
Frauen ein Asyl („Freistätte") eröffnet hätten. Nur in diesem 
Falle sei die Möglichkeit vorhanden, ein mit allen rechtlichen 
Folgen gültiges Ehebündnis (matrimonium justum) unter Gleich- 
berechtigten einzugehen. Nur mit Unwillen hörte die junge 
Mannschaft zu Rom diese Botschaft an, und es bestand kein 
Zweifel mehr darüber, dass die ganse Angelegenheit auf einen 
Gewaltstreich hinauslaufen werde. Um nun hierfür die geeig- 
nete Zeit und eine passende Gelegenheit zu gewinnen, ver- 
barg Romulus seine Missstimmung und Hess absichtlich ein 
Fest zu Ehren des Neptun, als Schöpfer des Pferdes (T7o<T€ibd)v 
mmoO veranstalten. Er nannte dasselbe Consualia (mit Rück- 
sicht auf den mit Neptun identifizierten alt-lateinischen Gott 
der Erde und des Ackerbaues (Consus), zu dessen Ehre am 
21. August und 15. Dezember ein Opferfest mit Wagenrennen 



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— 172 — 

im Zirkus gefeiert wurde). Er Hess hierauf den Nachbarvölkern 
ein Schauspiel ansagen, und so gut sie es damals verstanden 
und ausführen konnten, trafen alle zusammen die eifrigsten 
Vorbereitungen, um das Fest berühmt und zum Gegenstände 
einer frohen Erwartung zu machen. Viele Leute kamen zur 
Festlichkeit und zeigten einen besonderen Eifer, die neue Stadt 
sich anzusehen. Am zahlreichsten aber waren die Nächst- 
gelegenen erschienen: die Caeniner, Crustumier und die Antem- 
naten; zuletzt kamen noch die Sabiner in grosser Anzahl mit 
ihren Kindern und Frauen. Nachdem sie nun in den einzelnen 
Häusern eine gastfreundliche Aufnahme gefunden hatten, 
betrachteten sie die Lage, die Mauern und die grosse Anzahl 
von Gebäuden in der neuen Stadt und sprachen ihre Verwunde- 
rung darüber aus, dass das römische Anwesen in so kurzer 
Zeit einen solchen Aufschwung habe gewinnen können. Als 
nun die Zeit des Festspieles herangekommen war und alle mit 
Herz und Sinn darauf gespannt waren, da enstand gemäss der 
Verabredung (plötzlich) ein gewalttätiger Tumult: auf ein 
gegebenes Zeichen hin brachen die römischen Jünglinge aus 
ihrem Verstecke hervor, um sich die Jungfrauen zu rauben. 
Ein grosser Teil derselben wurde auf diese Weise mit Gewalt 
entführt. Durch die so entstandene Verwirrung fand das 
Schauspiel einen jähen Abschluss, indem die in Trauer ver- 
setzten Eltern die Flucht ergriffen. Sie erhoben aber Klage 
wegen der geschehenen Verletzung der Heiligkeit des Gast- 
rechtes, denn die ihnen zugekommene Einladung zum Feste 
hätte den Eingeladenen dieselben Rechte garantieren müssen, 
welche eine förmlich unter Staaten abgeschlossene Gastfreund- 
schaft (foedus, Gastfreundschaftsbündnis) gewährte, auf welche 
hin vertrauend, sie der Einladung zum Feste nachgekommen 
seien. Ferner liege darin eine Beleidigung des Gottes, zu 
dessen Ehren das Fest angesagt worden sei. Auch die geraubten 
Jungfrauen hatten keine bessere Hoffnung für ihr eigenes 
Schicksal und keinen geringeren Unmut über die gewaltsame 
Entführung, als ihre eigenen Väter. In dieser kritischen Lage 
griff Romulus persönlich ein: er besuchte die einzelnen und 
tröstete sie durch die Mitteilung, die ganze traurige Angelegen- 
heit sei durch den Übermut ihrer Väter herbeigeführt worden, 
welche trotz seiner Bitten den ihnen benachbarten Römern 



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— '73 — 

rechtsgültige Ehebündnisse abgeschlagen hätten. Sie nun selbst 
hätten aber nicht das Los von Kriegsgefangenen zu befürchten 
(etwa der Sklavinnen), sondern im rechtsgültigen Ehebündnisse 
seien sie zur Gemeinschaft aller Glücksgüter aufgenommen 
und sollten als freie Bürgerinnen im römischen Staate Aner- 
kennung finden. Da sie nun durch Zufall in die Gewalt von 
römischen Bürgern gekommen seien, so möchten sie jetzt auch 
freiwillig auf die ihnen gestellten günstigen Bedingungen ein- 
gehen! 

Die vorstehenden Berichte des Titus Livius und der hl. 
Schrift haben in vier Beziehungen eine gemeinsame Grundlage. 
Sie behandeln nämlich beide gleichmässig : 

1. die Gefahr des Aussterbens eines ganzen Volksstammes; 

2. die Verweigerung von selten der Grenznachbarn, mit 
den Bedrängten rechtsgültige Ehebündnisse abzuschliessen ; 

3. die vorbedachte (ex composito) gewaltsame Entführung 
der Jungfrauen bei Gelegenheit eines bürgerlichen Festes; und 

4. die amtliche Zusicherung, dass die Geraubten nicht 
dem Schicksale von Kriegsgefangenen (etwa der Sklavinnen) 
anheimfallen, sondern als die rechtmässigen Gattinnen von 
freien Bürgern anerkannt werden sollen. 

Schliesslich bemerken wir noch, dass nicht bloss der Sinn, 
sondern an manchen Stellen sogar der Wortlaut in den beider- 
seitigen Darstellungen eine grosse Ähnlichkeit miteinander er- 
kennen lässt. 

I. Kategorie: literarische und stoffliche Verwandtschaft 
der beiden Berichte. 

?• Se'ila; die Tochter des Jephte, und Iphigenia, die Tochter 

des Agamemnon. 

Gemäss dem Urteil aller Kenner des Altertums sind die 
Phönizier das älteste Hand eis volk der Welt. Der Ursprung 
ihres ausgebreiteten Landverkehres und ihrer Seefahrten reicht 
über die geschichtlich beglaubigte Zeit hinaus. Die Gründung 
ihrer meisten Kolonien (Niederlassungen) fällt in die Jahre von 
1000 bis 550 vor Christi Geburt. Damals stand Tyrus an der 
Spitze, und Handel nebst Schiffahrt blühten am herrlichsten.- 



Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den Jil. Schriften. ^3 ^j^^^h^\ 



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Califo"'^ 



— 174 - 

Die Inseln des Meeres, welche den Phöniziern am nächsten 
gelegen waren, wie Cypern und Creta, ebenfalls die kleineren, 
mehr nördlich gelegenen, hatten fast ohne Ausnahme phönizische 
Ansiedler. Eine Hauptniederlassung derselben war auf der 
Insel Thasos an der thrazischen Küste. Das kleine Tenedos 
führte nach Plinius („Historiae Naturalis" 1. V., c. 30) sogar den 
Namen „Phoenice", und nach dem Berichte der Apostelgeschichte 
c. 27, 12 befand sich an der Südküste der Insel Creta ein 
Hafen, welcher ^Phoenike" hiess, das heutige „Lektro". Die 
Kultur der alten Welt (cf. Caesaris „De hello Gallico" 1. 1., c. 1) 
folgte überall den Pfaden, welche der Handel ihr zuvor gebahnt 
hatte, nahm also ihren Weg von Osten nach Westen, zumeist 
durch die Vermittlung der Phönizier. So geschah es, dass die 
Ostküste des griechischen Festlandes, Thracien nämlich, weit 
früher, als die Westküste zivilisiert wurde. Mit Recht sagt 
daher Movers „Untersuchungen über die Religion und Gott- 
heiten der Phönizier", Band III., 2. Teil, Seite 3 f., Bonn 1847: 
„Bedarf es eines weiteren Zeugnisses, dass die Kultur den 
Pfaden des Handels gefolgt ist, so verweisen wir auf ihre 
gleichartige Gestaltung bei den Völkern, welche in dem Gebiete 
des mittelländischen Meeres wohnten. Sie erstreckt sich nicht 
bloss auf Dinge und Einrichtungen, welche der Handel mit 
sich bringt, sondern sie umfasst auch die Kunst, Wissenschaften, 
Schrift und Religion. Je weiter entfernt von der Zentral- 
bewegung des Handels auf dem Mittelmeere, desto verschieden- 
artiger ist die Bildung der Völker, selbst derjenigen, welche 
durch ihre Abstammung denselben ursprünglich nahe standen. 
Der Hellene in der homerischen Zeit steht in besug auf das^ 
was sur äusseren Bildung gehörty dem Semiten^ selbst dem 
Hebräer, viel näher, als dem Inder und Germanen. ^^ 

Dass die Kultur nach Griechenland aus dem fernen Osten, 
speziell von Phönizien her, übertragen wurde, lässt sich ausser- 
dem noch aus den ältesten Formen der griechischen Schrift Büge 
erkennen. Dieselben stimmen nämlich auffallenderweise mit 
den phönizischen und althebräischen Buchstaben vor der babylo- 
nischen Gefangenschaft (606 — 536 v. Chr.) überein. Sogar was 
die Namen, die Anordnung und die alphabetische Reihenfolge, 
sowie die Zahlwerte und die Richtung der alt-griechischen 
•Buchstaben anbelangt, ist eine unverkennbare Ähnlichkeit mit 



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- 175 - 

dem semitischen Alphabet vorhanden ^). Die Schriftzeilen dei* 
ältesten Griechen gehen ebenso, wie bei den morgenländischen 
Völkern, von der Rechten Btir Linken, Zum Beweise dienen 
uralte Denkmalsinschriften, welche in neuerer Zeit auf der 
Insel Greta (Gandia) aufgefunden worden sind. (Gf. „Imagines 
Inscriptionum Graecarum Antiquissimarum". Gomposuit Her- 
mannus Röhl, Berolini.) Die Herkunft der griechischen Schrift- 
züge darlegend, sagt daher Professor G. Hinrichs „Griechische 
Epigraphik" Seite 361 — 375: „Trotz aller entgegenstehenden 
Hypothesen kann es noch für ausgemacht gelten, dass das 
^phönikisch-hehräische-griechische Alphabet^ nur einmal und nur 
an einer Stelle, welche in der Nähe Aegyptens zu suchen ist, 
erfunden sein kann. Und die Zeit der Entstehung desselben 
behandelnd, kommt Professor K. Schlottmann (bei Riehm „Hand- 
wörterbuch'' Seite 1430) zu folgendem Resultat: „Es ist im 
höchsten Grade wahrscheinlich, dass jenes altsemitische Alpha- 
bet während der Herrschaft der Hyksos über Aegypten (ca. 
1950—1550 V. Ghr.) an irgend einer Stelle entstanden sei, und 
dass durch die Zurückwanderung dieser semitischen Hirten- 
stämme nach Syrien die dortige Verbreitung der Schrift sich 
erkläre.'' Obige Zeitbestimmung fällt mit der Wirksamkeit des 
Joseph (Einwanderung der Kinder Israels nach Gosen) und des 
Moses in Aegypten (Aussug nach Chanaan) nahe zusammen. 
Die literarische Überlieferung : Herodoti „Historiarum" I.V., c. 58, 
Plinii „Historiae Naturalis'' I.V., c. 12; Taciti „Annalium" 1. XI. 
c. 14; Lucani „Pharsaliae" 1. III., v. 220, berichtet überwiegend, 
dass Cadmus, Sohn des Königs Agenor von Phönizien (ca. 1500 
V. Ghr.) ein Alphabet von 16 Buchstaben nach Griechenland 
überbrachte, welches die Grundlage für die Schriftzeichen dieses 
Volkes wurde. (KcÄ^oq == Morgenländer; vgl. öijp: K&d&m = 
Morgenland.) Seit Ende des 16. Jahrhunderts v. Chr. blieben 
die phönizischen Mutterstädte Sidon, wie später (seit der ersten 



1) Das älteste Latein, welches man bis jetzt gefunden hat, ist in d«r 
Inschrift an dem Romulus- Grabe enthalten. Dasselbe wurde im Januar 
1899 auf dem Forum Romanum entdeckt. Die abwechselnd: linksrechts, 
rechtslinks laufende Inschrift ist schwer zu entziffern. Ähnlich sind auch 
die Gesetze des Selon geschrieben (504 v. Chr.). Man nennt diese 
Schreibweise ßouaxpoqpriböv = furchenweise. (Vgl. Richard Thiele „Das 
Forum Romanum", S. 46. Erfurt 1904.) 



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— 176 — 

Hälfte des 1 2. Jahrhunderts) Tyrus mit den Griechen in ununter 
brochener Berührung. Sie besassen nämlich zahlreiche Kolo- 
nien auf Kreta, den Inseln des Archipels, in Argolis, Attika, 
sowie Booetien und behaupteten die unbestrittene Herrschaft in 
den griechischen Meeren. Es kann daher als ziemlich sicher 
angenommen werden, dass die Phönizier in der Zeit vom 
16.— 12. Jahrhundert, mithin zweifellos vor der dorischen Wande- 
rung, die Kenntnis der Schrift den Griechen übermittelt haben. 
(Cf. Plinii „Historiae Naturalis" 1. VII., c. 56, 57, § 192.) Wie 
nun die Dorier bei der Erorberung des Peloponneses (ca. 1100 
V. Chr.) mit der gesamten Kultur der von ihnen unterjochten 
Achäer und Jonier sich auch die Schrift derselben aneigneten, 
so nahmen die Auswanderer dieser Stämme den Schriftgebrauch 
in ihre neue klein asiatische Heimat mit hinüber. (Vgl, „Philo- 
logische Untersuchungen" von A. Kiessling und U. von Wila- 
mowitz-Moellendorf, Heft 7, Berhn 1884.) 

Mit den Phöniziern aber standen, wie später noch genauer 
dargelegt wird, die Israeliten in regem Verkehre, besonders 
seit dem 12. Jahrhundert vor Christus: Hiram, David, Salomo. 
Aus diesen Tatsachen ziehen wir unsere Folgerungen. Eine 
fremde Sprache und Schrift kann man nicht erlernen, ohne 
auch gewisse Ideen und Vorstellungen, welche damit verbunden 
sind, sowie ihr besonders eigentümlich anhaften und in der 
Literatur derselben sich vorfinden, zugleich mitanzunehmen. 
Nun pflegen aber die religiösen Vorstellungen die ältesten 
Begriffe eines jeden Volkes zu sein. So behauptet Cicero 
„Tusculanarum Disputationum" 1. L, c. 13 und ^De Legibus" 
1. I., c. 8: „NuUa gens tarn fera, nemo omnium tam immanis 
est, cujus mentem non imbuerit Deorum opinio." Kein Volk 
ist so wild, und niemand von allen Menschen ist so ungebildet, 
dass seinem Geiste nicht irgend welche Vorstellung von 
höheren Wesen (Göttern) anhaften sollte. Mithin ist der Schluss 
berechtigt, dass die Griechen zugleich mit den phönizisch- 
hebräischen Schriftzeichen auch religiöse Vorstellungen und 
geschichtliche Tatsachen dieser beiden Völker sich angeeig- 
net, mit den ihrigen verbunden und weiter ausgestaltet haben. 
(Cf. 1. L Machabaeorum c. 3, 48.) Dieser Ansicht huldigt auch 
Professor Dr. Volkmuth in seiner Schrift „Die Pelasger (älteste 
Bt^wohner Griechenlands) als Semiten" 1860, in welcher er 



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- 177 — 

ausführt: ^ Es ist meine Überzeugung y dass nicht bloss einzelne 
Gottheiten, wie Apollon, sondern die ganze grosse Götterfamilie 
der Hellenen aus semitischem Geiste entsprungen ist. Dem- 
zufolge ist eine wissenschaftliche Erklärung der griechischen 
Mythologie nur möglich, wenn man auf die ersten Prinzipien 
derselben zurückgeht, welche für Hellas im Semitismus liegen". 
(ITeXacytoi, Pelasger = „Die über das Meer Gekommenen"; vgl. 
7T€XdZui, sich nähern, herzukommen, Pass. und Med.; sowie 
7TAaT0(; = das Meer ; vermutlich eine phönizische Völkerschaft. 
Joh. Joachim Eschenburg.) 

Die nächsten Nach baren der Phönizier waren nun die 
Israeliten durch Besitznahme des ihnen von Gott zugeteilten 
Landes Kanaan geworden. Zwar gehörte das Gebiet der Phöni- 
zier auch zu dem „gelobten Lande" und wurde zu dem Stamme 
Äser gerechnet. Derselbe nahm es aber nie in Besitz; denn 
es war um höherer Zweke willen ausgenommen. Die Israeliten 
nämlich, welche mit allen Nachbaren fast beständig Krieg 
führten, standen mit den Phöniziern in gutem Einvernehmen, 
selbst bis in die Zeit Jesu Christi und der Apostel. (Cf. 1. 
Josues c. 19,28; Evgl. S. Marci c. 7, 24 und 31; S. Lucae 
c. 6, 17 sq.; Actus Apostolorum c. 11, 19; c. 21, 3 und 4; 
c. 27, 3.) Unter David und Salomo (1055 — 975) war die 
Glanzperiode des hebräischen wie des phönisischen Volkes. 
Die Königshäuser von Jerusalem und Tyrus pflegten die besten 
Beziehungen untereinander, und die Bewohner beider Länder 
waren zugleich an dem Baue des Tempels, sowie des könig- 
lichen Palastes zu Jerusalem beschäftigt. An jenem wurde 
sieben, an diesem dreizehn Jahre gearbeitet. (Cf. 1. IIL Regum 
c. 5 und c. 7.) Auch Handelsreisen zur See unternahmen die 
Israeliten gemeinschaftlich mit den Tyriern während der Re- 
gierung des Königs Salomo. (Cf. 1. IIL Regum c. 10, 21 sq. 1. IL 
Paralipomenon c.9, 20—22). Aus diesen, längere Jahre hindurch 
fortgesetzten maritimen Unternehmungen der beiden Völker er- 
geben sich für unsere Zwecke sehr wichtige Folgerungen. 
Bei dem freundschaftlichen Verkehr der Phönizier und Israeliten 
sind ohne Zweifel manche Phönizier, zumal unter David und 
Salomo, als der Mosaische Kultus seine ganse Pracht entfaltet 
hatte, zur Erkenntnis und Verehrung des wahren Gottes ge- 
kommen. Der König Salomo liess einmal die Fremden (Nicht- 



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-^ 178 ~ 

Israeliten) in seinem Lande zählen und fand 153600 Männer, 
ohne Frauen und Kinder zu rechnen. (Cf. 1. II. Paralipomenon 
c. 2, 17.) Diese Fremden mussten gleich den Israeliten zu 
Ostern sieben Tage lang ungesäuertes Brot essen (1. Exodi 
c. 12, 19); sie hatten ihren Anteil an den Freudenmahlzeiten 
während des Ernte- (Pfingst-) und Laubhüttenfestes. (L. Deutero- 
nomii c. 16, 11 und 14.) Auch der öffentlichen Vorlesung des Ge> 
seines am Feste ^der Hütten^^ durften sie beiwohnen (L. Deutero- 
nomii c. 31, 10—13). Das Gesetz Moses war überhaupt auch/wr 
die Öffentlichkeit bestimmt. Auf Befehl Gottes wurden alle Worte 
des Gesetzes zur Kentnisnahme aller Menschen auf grosse 
Steine klar und deutlich geschrieben, nachdem das Volk den 
Jordan überschritten hatte. (L. Deuteronomii c. 27, 4—8.) 
Sodann geschah auf den Bergen Hebal und Garizim vor dem 
ganze Volke laut und deutlich die Ankündigung der Segnungen 
für die Haltung, und der Strafen (Flüche) für die Übertretung 
des Gesetzes. (L. Deuteronomii c. 27 und c. 28.) Die Phönizier 
nun, obschon in häufigem und unmittbaren Verkehre mit den 
Israeliten, blieben der Mehrzahl nach zwar ihrem Götzendienst 
ergeben; das schliesst aber nicht den Übertritt einzelner Per- 
sonen aus, welche dem Zuge der göttlichen Gnade folgten 
und „Proselyten" genannt wurden. (Cf. 1. fl. Esdrae c. 10,28; 
Evgl. S. Matthaei c. 23, 15; Actus Apostolorum c. II., 11.) 
Diese aber hatten Gelegenheit, ihre reineren Religionsbegriffe 
auch anderswohin zu verpflanzen, besonders nach Griechenland, 
in welchem der Same der Heilswarheiten auf einen fruchtbaren 
Boden fiel. Aus diesem Grunde stellt Plato „De republica" 
1. IV., p. 433, das (piXo)ia0€<; der Griechen („Liebe zum Lernen": 
Lernbegierde), dem (piXoxpr|)iaTOv („Liebe zum Erwerben": Hab- 
sucht) der Phönizier und Ägypter entgegen. „Die Griechen, 
sagt Welcker („Griechische Götterlehre" S, 81) kam eine beson- 
dere Glaubensfähigkeit, leichte Gläubigkeit und eigentliche 
Leichtgläubigkeit zu, welche Plutarch das tö fixav \x\(^ Tricneuji; 
nennt." Dieses Zeugnis gibt auch Sankt Paulus den Athenern: 
Actus Apostolorum c. 17, 22. Somit ist die Möglichkeit dar- 
getan, dass durch phönizische Proselyten bessere und wahre 
religiöse Vorstellungen nach Griechenland übertragen wurden. 
Auch ist es ebenso wahrscheinlich als natürlich, dass während 
der Fahrten auf dem Mittelmeere die Schiffe Salomos mit der 



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— 179 — 

Flotte des Hiram ebenfalls an der Küste von Griechenland, 
oder grichischer Inseln, an welcher die Phönizier Niederlassungen 
und Stapelplätze besassen, landeten sowie länger verweilten; 
ferner dass manche Israeliten an diesen Orten zurückgeblieben 
sind und sich dauernd niederliessen. Das konnte um so leichter 
geschehen, als die Sprachen dieser beiden semitischen Völker 
nur dialektisch verschieden waren. Zudem hatten die Hebräer 
die Gewohnheit, sogar bei ihren Reisen die hl. Schrift, welche 
überdies mit den alt-phöniBischen Buchstaben aufgezeichnet war, 
bei sich zu führen. (Cf. L. Deuteronomii c. 6, 8, 11, 18 und 19; 
Evgl. S. Matthaei c. 23, 5 und 15.) Da nun, wie oben S. 174 
bis 176 dargelegt wurde, die ältesten Formen der griechischen 
Lettern mit den alt-phönizischen und hebräischen Schrift- 
zeichen eine merkwürdige Ähnlichkeit haben, so können wir 
hieraus den Schluss ziehen, dass die Seefahrten der Israeliten 
und Phönizier eine passende Gelegenheit darboten, die Kenntnis 
der hl. Bücher des alten Testamentes weithin, auch bis nach 
Griechenland, zu verbreiten. In der Tat berichtet der Afrika- 
Reisende Dr. Carl Peters (Berlin), dass in dem Gebiete von 
Sofala (zwischen Zambesi und Sabi im Südosten von Afrika), 
dem alten biblischen Ophir^ sich noch grossartige Ruinen von 
uralten Gold-Minen, ummauerte Schächte, zahlreiche Grab- 
steine und Symbole, welche sich auf die phönizische Religion 
beziehen, sowie ein Volksstamm, welcher unverkennbare Ähn- 
lichkeit mit den Juden hat, und religiöse Gebräuche, die ohne 
Zweifel an das Gesetz Moses erinnern, bis auf den heutigen 
Tag sogar erhalten haben. (Vgl. „Alte und neue Welt" 1904, 
16. Heft, S. 549 f. Forschungsreisen 1899—1901.) Auf Grund 
dieser Entdeckungen können wir mit Peters annehmen, dass 
viele Juden in den Tagen der Könige Salomo und Hiram in 
dem Goldlande Ophir, dem heutigen Sofala, zurückgeblieben 
sind und sich daselbst angesiedelt haben, als sie an der Küste 
von dem südöstlichen Afrika gelandet waren. (Cf, 1. III. Regum 
c. 9, 26— 28; c. 10,22.) 

Wir gehen nunmehr einen Schritt weiter : nicht bloss die 
Möglichkeit, sowie grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit 
einer religiösen Ideenübertragung von Palästina nach Griechen- 
land kann nachgewiesen werden; wir können auch eine tat- 
sächliche Verbindung dartun. Der Prophet Abdias verkündigt 



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— i8o 



unter dem Könige Ozias, ca. 780 v. Chr., dass die Juden, welche 
als Übersiedler (Auswanderer oder Kriegsgefangene) nach Se- 
pharad, i'ico, „Sparta", gekommen seien, wieder zurückkehren, 
und die „Städte des Südens", d. i.: Judäa, in Besitz nehmen 
würden. (Cf. Abdiae prophetae c. 1,20; und Actus Aposto- 
lorum c. II., 5 sq.) Der Seher Joei, welcher ca. 750 v. Chr. lebte, 
wirft den Tyriern und Sidoniern vor: „Was habe ich an euch, 
Tyrus und Sidon, spricht der Herr, da ihr die Söhne Judas 
und Jerusalems verkauft habet an die Söhne der Griechen, um 
sie wegzuführen aus ihrem Gebiete?!" (Cf. JoSlis prophetae 
c. IIL, 3— 7 sq; und 1. III. Regum c. 10, 1 sq.) 

Der Prophet Ezechiel redet Tyrus an: ^Griechenland^ Thubal 
und Mosoch (die Tibarener am Schwarzen Meere, und Moscher 
in Colchis) sind deine Kaufleute; sie brachten Sklaven und 
eherne Geräte deinem Volke!" (Ezechielis prophetae c. 27, 13.) 

Amos, der Seher, hat folgende Klage gegen Tyrus: „Diess 
spricht der Herr : Wegen drei Vergehen von Tyrus und wegen 
vier wende ich dieses (Unglück) nicht von ihm ab; weil sie 
vollends eingeschlossen haben die (jüdischen) Gefangenen, und 
nicht mehr gedachten des Bruderbundes (unter David, Salomo 
und Hiram)". Cf. Amos 1, 9. 

Auch Homer, Odysseos 1. XV., 402, f., beschreibt den See- 
und Sklavenhandel der Phönizier. 

Weil aber die alten Schriftsteller die Nationen der Syrer, 
Phönizier und Hebräer nicht voneinander unterschieden, sondern 
für ein Volk gehalten haben ; so ist wohl diesem Umstände allein 
es zuzuschreiben, dass sie die hebräischen Sklaven nicht speziell 
erwähnen, (Vgl. Movers, l. c, II. Band, III. Teil, S. 781). Durch 
solche Gefangenen nun konnten religiöse Ideen und biblische 
Tatsachen ebenfalls verbreitet werden. Auf diese Weise ver- 
pflanzte sich in den Tagen des Propheten Elisaeus (896 --836 
V. Chr.) die Kenntnis Jehowahs faktisch an den königlichen Hof 
von Damaskus durch eine hebräische Sklavin, welche in den 
Dienst des syrischen Feldobersten Naaman gekommen war. 
(Cf. 1. IV. Regum c. 5, 2 sq.) 

Ähnliche Fälle weist ja auch das Christentum mehrere 
auf. ^Für Iberien (Kaukasus) wurde eine fromme Sklavin, für 
Äthiopien ein Sklave, Namens Frumentius, die Veranlassung, 
dass diesen Ländern die Leuchte des Evangeliums angezündet 



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— i8i - 

wurde. (Vgl. Stollberg, „Geschichte der Religion Jesu Christi", 
10. Band, S. 197, f. i). 

„So sind gewiss, sagt Movers, 1. c. S. 7, manche Keime 
der Jehowah -Religion durch hebräische Sklaven, welche zu Zeiten 
(cf. Jo€lis prophetae c. III., 3—7) ein Hauptartikel des phöni- 
zischen Handels waren, in fernere Gegenden gelangt, wenn 
auch die Kunde von ihrem Wachstume und Gedeihen auf den 
Blättern der Weltgeschichte nicht verzeichnet ist." 

Von der Zeit an jedoch (540 v. Chr. usw.), als griechische 
Weisen nach dem Oriente, und vorzüglich nach Ägypten, sich 
begaben, um den Kreis ihres Wissens zu erweitern, konnten 
die lange zuvor daselbst eingewanderten Juden, sei es mittel- 
bar, sei es unmittelbar, auf jene wissbegierigen Hellenen ein- 
wirken. Die Schriften dieser gelehrten Männer tragen unver- 
kennbare Züge davon an sich. Anus (Arcus), König der 
Spartaner, ein Zeitgenosse des Seleucus Nikator und des Pto- 
lemaeus Lagi, richtete ca. 300 v. Chr. an den hohen Priester 
Onias zu Jerusalem ein amtliches Schreiben, in welchem er 
darlegt- in einer (alten griechischen) Schrift über die Spartaner 
und Juden habe sich die Nachricht vorgefunden, dass sie 
Brüder, und von dem Geschlechte Abrahams seien. (Cf. 1. 1. 
Machabaeorum c. 12, 6, 7, 11 und 20 sq. II. Mach. 5, 9.) Um 
das Jahr 145 v. Ch. schrieb der hohe Priester Jonathas an 
die Spartaner, dass die Juden zu Jerusalem bei ihren Festen 
und Opfern der Spartaner als ihrer Brüder im Gebete ein- 



^) Vergleiche auch Prof. Dr. J. Marx „Lehrbuch der Kirchen- 
geschichte" S. io6. Trier, Paulinus-Druckerei 1903. Demgemäss hiess die 
kriegsgefangene Sklavin in Iberien (auch Georgien genannt) Nunia. 
Äthiopien, oder Abessinien, gelangten zum Christentume durch die Brüder 
Aedesius und Frumentius von Tyrus, welche mit ihrem Oheim, dem Philo- 
sophen Meropius, auf einer Entdeckunsreise begriffen, in einem Hafen 
Abessiniens gefangen genommen und als Sklaven an den Hof nach 
Axuma (ca. 326) gebracht wurden. Frumentius gelangte zur Stelle eines 
Reichsverwesers und wirkte als solcher für das Christentum. (Cf. Actus 
Apostolonem c. 8, v. 28 sq.) Während sein Bruder in die Heimat zurück- 
kehrte, Hess er sich ca. 328 vom hl. Athanasius zum Bischof von Axuma 
weihen. Damit kam Abessinien zum Patriarchate von Alerandrien, und 
wurde von hier aus später in den Monophysitismus hineingerissen, in welchem 
es verblieb (Kopten). Vgl. Weber „Die katholische Kirche in Armenien" 
und die einschlägigen Artikel in dem „Oriens Christianus". 



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— l82 — 

gedenk seien. (L. c. c. 12, 11.) Der ca. 143 v. Chr. erfolgte 
Tod des Hohenpriesters Jonathas wurde zu Sparta (und Rom) 
lebhaft betrauert. (L. c. c. 14, 16.) Vgl. S. 133 — 135 dieses 
Buches. 

Gerhard Johann Voss (Vossius), geboren in der Nähe von 
Heidelberg 1577, starb als Professor zu Amsterdam 1649, und 
war durch seine gelehrten philologischen Arbeiten eine Zierde 
der Wissenschaft. Im Jahre 1641 ei schien sein Werk: „De 
theologia gentili et physiologia christiana, sive de origine ac 
progressu idololatriae". Amstelodami. Libri quattuor. In dem- 
selben erörtert er die vielfachen Beziehungen, in welchen das 
Heidentum zum Christentume, und die Schriften der Klassiker 
zur hl. Schrift stehen. Unter anderem stellt er die Behauptung 
auf, das indendierte Opfer des Richters und Heerführers Jephte 
habe in der Sage von der Iphigenia zu Aulis und Tauris, durch 
Euripides bei den Griechen, und durch Ovid bei den Römern 
einen Nachhall gefunden. Auch das Wort : Icpit^veia (Herodot), 
oder IcpiTÖvn (Euripides „Elektra") scheint ihm, sowie anderen 
Philologen, aus 'kcpOeT^veia entstanden zu sein. 

Nach Euripides (480—406) hat Goethe diesen Stoff 1779 
in Prosa, 1786 in Versen mit Umformung durch christliche 
Ideen behandelt. Eine französische Bearbeitung der Schicksale 
Iphigeniens lieferte Racine im Jahre 1675, welche Friedrich von 
Schiller 1805 ins Deutsche tibertrug. (Vgl. Houben, Oberlehrer, 
„Euripidis Iphigenia in Aulide cum Racinii comparata". Trier 
1850.) Im Anfange des vorigen Jahrhunderts hat der Rektor 
des Gymnasiums zu Görlitz in Schlesien wieder darauf hin- 
gewiesen, dass die Tochter des Jephte (Seila) das Vorbild zur 
Sage der Iphigenia geworden sei. (Osterprogramm 1815, von 
Dr. Anton herausgegeben.) Das Buch der Richter (c. 11, 29 sq.) 
erzählt, dass der israelitische Heeresführer Jephte vor seinem 
Kriegszuge gegen die Ammoniter ein Gelübde gemacht habe, 
falls er den Sieg gewinne, so solle, wer immer zuerst aus der 
Türe seines Hauses ihm entgegenkomme, dem Herrn als 
Brandopfer geweiht werden. (Cf. 1. Judicum c. 11, 29 sq.) ^) 



^) So nach der Vulgata. Der hebräische Text lautet wörtlich: „Und 
Jephte machte ein Gelöbnis dem Herrn; Wenn Du die Söhne Ammon 
in meine Hand gibst, so soll der, welcher zuerst aus der Türe meines 



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- i83 - 

Revetente autem Jephte in Maspha domum suam, occurrit 
ei unigenita filia sua cum tympanis et choris: non enim alios 
habebat liberos. Qua visa, scidit vestimenta sua et ait: „Heu 
me, filia mea, decepisti me et ipsa decepta es: aperui enim 
OS meum ad Dominum, et aliud facere non potero (votum feci). 
Cui illa respondit: „Pater mi, si aperuisti os tuum ad Dominum, 
fac mihi, quodcunque poUicitus es, concessa tibi ultione de 
hostibus tuis." Dixitque (autem) ad patrem: „Hoc solum mihi 
praesta, quod deprecor : dimitte me duobus mensibus ut circumeam 
montes et plangam virginitalem meam cum sodalibus meis. 
Cui ille respondit: „Vade!** 

...Jephte zog nun gegen die Söhne Ammon, und der 
Herr gab sie in seine Hände (verlieh ihm den Sieg über die- 
selben). Als er hierauf nach Maspha in sein Haus zurück- 
kehrte, da kam ihm seine einzige Tochter entgegen mit Hand 
pauken und Tanz; denn andere Kinder hatte er nicht. Bei 
ihrem Anblicke aber zerriss er seine Kleider und rief : „Wehe! 
wehe! meine Tochter: du bist gegen meine Erwartung, und 
ich gegen die deine! Denn ich habe meinen Mund geöffnet 
vor dem Herrn (ich habe ein Gelübde gemacht), und kann 
nicht Anderes tuen!" 

Sie entgegnete ihm: „Mein Vater!, wenn du deinen Mund 
vor dem Herrn geöffnet hast, so tue mit mir, was immer du 
gelobet, nachdem dir Rache und Sieg über deine Feinde zu 
teil geworden ist." Dann sprach sie zum Vater: „Nur das 
Eine gestatte mir noch, um was ich dich bitte: erlaube mir, 
dass ich zwei Monate im Gebirge umhergehe, und mit meinen 
Genossinnen weine um meine Jungfräulichkeit !^ Er antwortete 
ihr: „Gehe!" 

Hauses kommt zu meiner Begegnung, wenn ich im Frieden von den 
Söhnen Ammon zurückkehre, dem Herrn angehören (zum Eigentum), und 
ich will ihn als Brandopfer darbringen." 

Praelat Kaulen bemerkt hierzu (Kirchen- Lexikon VI., 1289), ^^ss 
der Ausdruck „zum Brandopfer darbringen" durch den vorausgehenden 
„dem Herr zum Eigentum geben (angehören)" erklärt sei. Die Vulgata 
dmckt dies nicht aus; wohl aber die Übersetzung der Septuaginta. 

Jephte habe daher an eine Hingabe zum Dienste Gottes (wie bei 
Erstgeburten, Zehnten, Nathinäern usw.) gedacht, und durch den Zusatz 
„zum Brandopfer bringen" nur die nach dem Gesetze etwa mögliche Lösung 
durch Geld ausschliessen wollen. 



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-. i84 - 

Hören wir nun den Nachklang, welchen dieser Vorgang 
aus der Geschichte Israels durch Ovid in der lateinischen 
Literatur gefunden hat. Derselbe beschreibt nämlich das 
intendierte Opfer des griechischen Heerführers Agamemnon 
vor seiner Abfahrt zu Aulis. (Cf. 1. XII. Metamorphoseon, 
V. 24 sq.): 

Permanet Aeoniis Nereus violenter in undis, 
Bellaque non transfert, et sunt qüi parcere Trojae 
Neptunum credant, quia moenia fecerat urbi. 
At non Testorides (Kalchas). Nee enim nescitque tacetque 
Sanguine virgineo placandam virginis irant 
Esse Deae. Postquam pietatem publica causa 
Rexque patrem vicit, castumque datura cruorem 
Flentibus ante aram stetit Iphigenia ministris: 
Victa Dea est nubemque oculis objecit et inter 
Officium turbamque sacri vocesque precantum 
Supposita fertur mutasse Mycenida cerva: 
Ergo ubi, qua decuit, lenita est caede Diana, 
Et pariter Phoebes, pariter maris ira recessit: 
Accipiunt ventos a tergo mille carinae, 
Multaque perpessae Phrygia potiuntur harena. 
Nereus wütete fort in den äonischen Wassern, 
Brachte die Siegel nicht weiter, und einige glaubten, Neptunus 
Wolle Troja verschonen, weil er die Mauern erbaut hat. 
Aber der Thestoride (Kalchas) nicht: er wusst' es und sagt' es, 
Dass den Zorn der göttlichen Jungfrau Blut nur von einer 
Jungfrau versöhne. Als die Wohlfahrt des Landes die Liebe 
Und den Vater der König besiegte, trat vor den Altar, 
Unter den Tränen der Diener, ihr keusches Blut da zu opfern, 
Iphigenia hin. Die Göttin wurde gerührt, 
Hüllt' in Nebel die Schar, und Iphigenia wurde 
Unter dem Opfer-Tumult und den Gesängen der Priester mit einer 
Für sie gestellte Hirschkuh vertauscht. Da also geziemend 
Durch den Tod Diana versöhnt war, legte mit ihrem 
Zürnen, das Zürnen des Meeres sich. Die 1000 Schiffe bekamen 
Hinter sich Wind, und erreichten das phrygische Ufer nach vieler 
Drangsal. 

Hier sehen wir Vater und Tochter bereit, das Opfer des 
Lebens für das Wohl des Staates zu bringen; dasselbe wird 



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• ^ ,85 - 

aber nicht in buchstäblichem Sinne vollzogen, sondern die 
Tochter des Völker-Hirten Agamemnon bringt das geistige 
Opfer ihres Daseins durch den Dienst im Heiligtum auf Tauris 
(Krim). (Cf. Metamorphoseon 1. XIIT., 183 sq.) 

S. Thomas von Aquin lehrt: „ Religion is Status est quod- 
dam holocaustum, per quod aliquis totaliter se et sua offert 
Deo." S. Thomae Aquinatis 2, 2, qu. 186, a. 7. Das gott- 
geweihte Leben (der Ordensstand) ist in gewissem Sinne ein 
Brandopfer, durch welches man sich und das Seinige Gott, 
dem Herrn, vollkommen darbringt. Es liegt die grösste Wahr- 
scheinlichkeit vor, dass auch die Tochter des Jephte nicht 
leiblich geopfert wurde; dies war ja von Jehovah verboten, 
und kein Priester hätte hierbei mitwirken können; sondern 
dass sie im geistigen Sinne durch den Dienst bei der Stifts- 
htitte sich Gott weihte. (Cf. l. Exodi c. 38, 8; l. I. Regum c. 
2, 22; l. II. Machabaeorum c. 3, 19 sq.) Mit dieser Hingabe war 
zugleich die grösste Enthaltsamkeit und das Nasiräat verbunden. 
(Cf. 1. Numeri c. 6, 2—21.) Da es nun von Jephte heisst, dass 
der Geist Gottes über ihn kam^ und bei der allgemeinen 
Fassung des Gelübdes auch das Entgegenkommen von Menschen 
nicht ausgeschlossen war, dasselbe aber zur Unterstützung 
der Bitte um Sieg gemacht wurde; so scheint in diesem Falle 
die leibliche Opferung von selbst als verboten, und konnte nur 
die geistige Form des Opfers beabsichtigt sein. (Cf. l. Exodi 
c. 13, 1, 13; 1. Levitici c. 27; l. I. Regum c. 1, 22, 28.) Sonst 
wäre das Gelübde ein frevelhaftes gewesen, und hätte Gott 
daraufhin den Sieg nicht verleihen können. Würde Jephte in 
falchem Eifer einen solchen Greuel vor Gott habe begehen 
wollen; so wäre er sicher wie Abraham vom Herrn selbst 
daran gehindert worden. (Cf. l. Genesis c. 22, 12.) Da nun 
die heilige Schrift kein Wort des Tadels über das Verhalten 
des Jephte ausspricht, so können wir daraus schliessen, dass 
nur die geistige Hingabe vollzogen wurde. Denn ein wirkliches 
Menschenopfer wäre nicht ohne die schärfste Verurteilung ge- 
blieben, wie es 1. Deuteronomii c. 12, 30 sq. heisst: y^Hiite dich, 
dass du die Heiden etwa nachahmest: denn sie opfern ihre 
Söhne und Töchter den Göttern und verbrennen sie im Feuer !^ 
Sage nicht: „Wie diese Völker ihren Göttern dienen, so will 
auch ich dienen!" }Vas ich dir befehle, nur dieses tue dem 



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— i86 — 

Herrn; weder füge etwas hinsu^ noch lasse hinweg!"' Das 
Referat des Buches der Richter: „Sie aber sprach zu 
ihrem Vater: „Das Eine gestatte mir, um was ich bitte: er- 
laube mir, dass ich zwei Monate im Gebirge umhergehe, und 
mit meinen Gefährtinnen weine um meine fungfräulichMV^ 
Er antwortete ihr: „Gehe!" — lassen den Sinn der geistigen 
Hingebung unschwer erkennen. (Cf. 1. Judicum c. 11,37—41; 
Evgl. S. Lucae c. 1, 34.) Wie bei dem intendierten Opfer des 
Abraham für Isaak ein Widder dargebracht wurde, so lässt 
der römische Dichter Ovid (vgl. oben Seite 184) für die nach 
Tauris entrückte Iphigenia eine Hirschkuh geopfert werden. 

Alle diese Momente aus dem Leben der Iphigenia waren 
schon früher durch Euripidis in Griechenland gewürdigt und 
tragisch ausgestaltet worden. 

a) Agamemnon vernimmt einen Orakelspruch: 
"H|Li€(y0', dTrXoiqi xpi^juevoi Kar' AuXiba, 
K(iXxa(; V ö judvTK; dnopia KexpTi|Lievoi<; 
dveiXev, 1(piT^V€iav, f^v faireip' dtiw, 
'ApT^ILubi Oöaai, Tri xöb* oiKOiicyij ir^bov, 
Ktti ttXoOv t' faaeaOai Kai KaxacTKacpa^ Opu^^v 
eOcJam, jun OuaacJi b' ouk elvai xdbe. (Iphigeniae in 
Aulide V. 88—93.) 

Untätig sassen wir vor Aulis, ohne Ziel und Fahrt. 
Da gab der Seher Kalchas Ratsbedürftigen 
Den Spruch: Iphigeneia, mein geliebtes Kind, 
Der Artemis zu opfern, die das Land beherrscht. 
Dann komme Fahrwind und Zerstörung Phrygiens 
Den Opfernden, doch nichts werde dess» Nichopfernden. 
b) Iphigenia beklagt ihr Schicksal und beweint ihre fung- 

fräulichkeit . 

Ol|LlOl bVJ(TVU|Ll<pOV 

Tuj tag Nnp€uj^ Koupag, 

di dl, vOv b' dHeivou ttöviou Heiva, 

bu(TxöpTOU(; öiKOug vaiiu: 

äTa|Lio<;, äT€KVO<;, ättoXk;, äcpiXoi;. (Iphigeniae 
in Tauride v. 206—210.) 

„Weh' mir, als Unglücksbraut 

Des Sohnes der Tochter des Nereus ach! 

Nun, ein Gast des ungastlichen Meeres, 



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- i87 - 

Wohn* ich in unwirtlicher Gegend: 
Ehelos, kinderlos^ heimatlos ^ freundlos f^ 
c) Sie ist aber bereit y mit Heldenmut in den Tod bu gehen: 
Ei V dßouXr|0Ti TÖ (TuijLia tou)liöv "ApiejUK; XaßeTv, 
d)aTro5ujv T€vr|(TOjLi' dTuj GvriTÖ^ oijaa Trj Geuj; 
dXV djüirixavov (Iphigeniae in Aulide v. 1395-1397.) 
„Wenn es gefiel hinwegzunehmen meinen Leib der Artemis: 
Soll ich in den Weg der Göttin treten — eine Sterbliche — ? 
Nein, unmöglich ist's! ich gebe meinen Leib für Griechenland!" 
Tou)aöv \k (Ta))aa '\x\c, i\kx\c, uirep irdTpac; 
Kai Tfi^ dirdcTri^ "EXXdboc; Taia<5 uTrep, 
Böaai MbiwjLi' ^KOÖcTa TTpö<; ßiwjLiöv 8€ä<; 
fiTOVTac;, eiirep dcTTi 8€(T9aT0v xöbe. (L. c. 1553 sq.) 
Sie aber, als dem Vater sie zur Seite stand, 
Sprach dieses: ^Lieber Vater! schau, da bin ich schon, 
Und meinen Leib zum Heile meines Vaterlands, 
Und willig für des ganzen Griechenreiches Wohl 
Steir vor der Göttin Altar ich, zum Opfer dar 
Den Führern, wenn's der Götter Ausspruch so gebeut !** 

d) Iphigenia ersählt ihre Rettung: 
'H TTaT<; (Ta9uiq (Toi irpöc; 8eou<; dq)iTTTaT0' (L. c. 1608.) 
j^Dein Kind entfloh dir wahrlich zu den Himmlischen! 

Durch Odysseus Ränkekunst 
Entriss man mich der Mutter als Achilleus Braut. 
In Aulis angekommen, ward schon über mir 
Hoch auf dem Stoss des Opferheerds das Schwert gezückt; 
Da nahm, dagegen gebend eine Hindin, mich^ 
Den Kriegern Artemis: durch lichten Himmelsraum 
Trug sie und Hess mich nieder hier in Taurien, 
Wo über Barbarn herrschet ein Barbaren -Fürst .... 
Der hat mich hier als Tempel- Feiest er in bestellt, 
Woselbst die Göttin Artemis an Bräuchen sich 
Ergötzt von Festen, deren Name schön allein. 
Mir liegt die Weihung, Andern liegt das Opfer ob, 
Das wilde, in der Göttin Heiligtum!" 
(Iphigeniae in Tauride v. 24—41.) 

Aus dem Ganzen ergeben sich folgende Vergieichungs- 
punkte : 



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— i88 — 

1. Setla und Iphigenia sind beide Jungfrauen und Töchter 
von obersten Heeresführern. 

2. Beide sollen Gott geopfert werden, damit ein bevor 
stehender Krieg zum glücklichen Ende komme. 

3. Beide sind ein Opfer der Unbesonnenheit ihrer Väter 
Jephte und Agamemnon; jener machte ein vieldeutiges 
Gelübde; dieser hatte die »Artemis beleidigt. 

4. Beide beweinen ihre Jungfräulichkeit, 

5. Hierauf sind beide freudigen Mutes, das Opfer ihres 
Daseins zu bringen, entschlossen. 

6. Durch die Vorsicht und Erbarmung der Himmlischen 
jedoch wird die leibliche Opferung vermieden, und beide 
dienen als Gott geweihte Jungfrauen im Heiligtum der 
Stiftshütte und zu Tauris. 

Von dem hohen Werte dieser vollkommenen Hingabe an 
Gott spricht Dante ^^il Paradiso"" V, Gesang v, 14 sq,: 

„Talia dixit 
Hujus principium cantus initura Beatrix; 
Atque, ut qui coeptum haud sermonem obtruncat, ita illa 
Propositum tenuit sanctum. Quae maxima dos est, 
Largius indulgente Deo, qui cuncta creavit, 
Inventa, apta magis bonitatem ostendere patris, 
Quamque is plurimi habet, fuit haec vis libera vestri 
Arbitrii in terris^ qua cuncta et sola creata, 
Queis lumen rationis inest, ditata fuerunt, 
Et sunt. Nunc, si conjicias, voti alta patebit 
Virtus, si quis fit reus, ac Dens annuat ipsi 
Ultro paciscenti. Nam inter hominemque Deumque 
Facta fides ubi sit, thesauri victima tanti. 
Quem dico, evadit, proprioque obstringitur actu. 
Quid tanti est, quaeso, pretii, quo tu ista rependas? 
Nam tibi si oblatis uti bene posse videris, 
Ex male sublatis igitur vis crescere belle.'' 
So fing ihr heil'ges Wort Beatrix an; 
Und setzte dann, die Rede zu vollenden, 
Ununterbrochen fort, was sie begann : 
^,Die grösste Gab' aus Gottes Vaterhänden 
Und seiner reichen Güte klarste Spur, 
Von ihm geschätzt als höchste seiner Spenden 



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- i89 - 

Ist Willensfreiheit^ so die Kreatur. 

Der er Vernunft verlieh, von ihm bekommen, 

Von diesem jede, doch auch diese nur. 

Hieraus ersieh den hohen Wert des frommen 

Gelübdes, wenn es so beschaffen ist, 

Dass Gott, was du geboten, angenommen. 

Denn, wer mit Gott Vertrag schliesst, der vermisst 

Sich diesen Schals sunt Opfer darzubringen. 

Mit dessen Werte sich kein anderer misst. 

Wie kann drum je hier ein Ersats gelingen? 

Brauchst du auch wohl, was du geopfert hast, 

So ist's nur Wohltat mit entlehnten Dingen. 

Du hast das Wichtigste nun aufgefasst!''^) 
Die ethischen Momente, welche bei dieser Erzählung von 
Setla und Iphigenia vorkommen, deuten unschwer auf den 
Wert eines reinen Opfers hin, welches im Gehorsame gegen 
die elterliche Autorität intendiert, von den Himmlischen aber 
nicht mit der Blutvergiessung, sondern durch die freiwillige 
Hingabe von Leib und Seele im Dienste des Heiligtums an- 
genommen wird, III. Kategorie: Beeinflussung durch religiöse 
Ideen. (Nach Dante.) 

8. Samson und Herkules. 

Die germanische Heldensage wurde in grundlegender 
Weise von Professor Wilhelm Grimm (Göttingen 1829) bear- 
beitet. Die dritte Auflage seines Buches erschien zu Güters- 
loh 1889 und ist noch immer das Hauptwerk für diesen Forschungs- 
zweig. Durch Grimms Arbeiten wurden viele neue Unter- 
suchungen über das Wesen und den Ursprung der Heldensage 
veranlasst. So hat unter anderen B. Symons einen Wegweiser 
durch diese weitverzweigte Literatur geschaffen: „Germanische 
Heldensage*^ (Strassburg bei Trübner 1898), welcher auf durch- 
aus selbständiger, wissenschaftlicher Grundlage beruht. Er 
verwirft für die sagengeschichtliche Forschung die Einseitig- 



^) Philo Judaeus vel Alexandrinus nennt die Tochter des Jephte: 
Seila. (Cf. Grand Dictionaire historique von Movery; Amsterdam 1702; 
Tom. III,, Pag. 231.) 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altcrlums zu den hl. Schriften. 14 



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— - I90 — 

keit, mit welcher man aus einem Erklärungsprinzip die bunte 
vielgestaltige Reihe der Heldensage auszudeuten versucht. 
Die historische, die mythische und die rein-poetische Erklärungs 
weise haben unzweifelhaft ihre volle Berechtigung, nur nicht 
in ihrer Vereinzelung, sondern mit- und nebeneinander. 

Ausgangs-Punkt für eine methodische Erforschung der 
Heldensage muss allerdings die Geschichte sein. Die Figuren 
der Geschichte wachsen durch die Phantasie des Volkes und 
die Kunst des Dichters zu idealen Gestalten empor, bei welchen 
zwar mitunter noch der Name und die Grundzüge ihres poe- 
tischen Charakters an das historische Urbild gemahnen. Ihre 
geschichtlichen Taten aber, nicht mehr vorhanden in ihren 
Beweggründen und Veranlassungen, werden mitunter durch 
neue Motivierungen und neue Verbindungen vielfach bis zur 
Unkenntlichkeit entstellt, ja geradezu in ihr Gegenteil ver- 
wandelt. 

In den so gebildeten Kreis der historischen Heldensage 
treten mythische Vorstellungen und Überlieferungen von älterer 
Zeit, und der Rohstoff, welcher auf diese Weise aus der 
Geschichte und dem Heroenmythus entlehnt ist, dient der 
Poesie als Gegenstand der Bearbeitung und Ausgestaltung der 
Heldensage. 

Unter Zugrundelegung dieses, auch für die griechische 
Heldensage anwendbaren, klaren und folgerichtigen Systems 
wollen wir die Beziehungen des Hercules zum biblischen Samson 
erörtern. 

Samson ist eine geschichtliche Person, ca. 1 130 vor Christus, 
der vorletzte unter den Richtern Israels. Obwohl manches 
Ausserordentliche in seinen Taten vorkommt, so trägt doch 
keine derselben den Stempel des Unglaublichen an sich, Die 
Erzählung seiner Werke ist so einfach, nüchtern und unparteiisch, 
wie nur eine getreue, geschichtliche Darstellung sein kann, 
und wie auch die übrigen historischen Teile der hl. Schrift 
gehalten sind. Sofern aber seine Stärke bei weitem grösser 
war, als die der gewöhnlichen Menschen, so ist dieselbe als 
eine vorzügliche Gnadengabe des Allerhöchsten dargestellt. 
Denn Samson ist eine Mensch; aber jenes Grosse und Hervor- 
ragende in ihm ist göttlichen Ursprunges. Er tritt auf mit 
höchster Körperkraft, gepaart mit Vorzügen des Geistes und 



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— 191 — 

Gemütes, welche dem Heldenzeitalter eigentümlich sind. Er 
ist dem Heile der Menschen geweiht und zunächst dem 
Wohle seiner eigenen Nation. Die Kirchenväter Ambrosius 
(Epistolae 19, n. 32sq.), Augustinus (Sermonis ad populum 364, 
n. 2sq.), Gregorius Magnus (Homiliae in Evangelia 21, n. 7), 
sowie Paulinus (Epistola 4 ad Se verum fratrem et sq.), sprechen 
die Vermutung aus, dass die geschichtlichen Züge aus dem 
Leben Samsons von den zum Teile aus palästinensischem Küsten- 
lande (Phönizien usw.; vgl. Seite 177: ireXacTTOi = die über das 
Meer gekommenen „Pelasger") herstammenden Griechen sagen- 
haft verdunkelt, und dann zu ihrem Herkulesmythus umgestaltet 
worden seien. Damit stimmt überein, was im I. Buche der 
Machabäer c. 3, 48 berichtet wird: „Die Juden schlugen die 
Bücher ihres Gesetzes auf, in welchen die Heiden eifrige Durch- 
suchungen anstellten, um Vorbilder für ihre Götsen bu geißinnen.^ 
Mit besonderer Rücksicht auf Samson und Herkules sagt 
Augustinus „De civitate Dei" 1. 18, c. 19: „Samson, Hebraeorum 
judex, quum mirabiliter esset fortis putatus est Hercules.'* 
Samson, ein Richter bei den Hebräern, wurde um seiner ausser- 
ordentlichen Körperkraft willen als ein Vorbild für den Hercules 
gehalten. LeonardusCoquaeusin seinem Kommentar zu Augusti- 
nus „De civitate Dei", Ausgabe zu Paris a 1613, S. 1165, bemerkt 
zu den angeführten Worten: „Ex Samsonis robore et casibus, 
Herculis, qui iis temporibus exstitit, vires et aerumnas poetae 
finxisse videntur, ut ait Genebrar dus noster." Aus der Stärke 
und den Lebensschicksalen des Samson haben die Dichter 
wohl die Körperkraft und die Mühseligkeiten („die 12 Arbeiten") 
des Herkules, welcher um jene Zeit lebte, sich gebildet (ent- 
lehnt); wie unser Genebrardus behauptet. 

Samson ist der Repräsentant Israels in seiner gnaden- 
volien Berufung und in seinen gewaltigen Kämpfen und Siegen 
für sein Volk. Er liess sich jedoch von der Sinnlichkeit ver- 
leiten und verlor die ganze Kraft. Mit seinem freiwilligen Tode 
büsste er für die Schuld, und erschlug sterbend noch mehr 
Feinde Gottes, als in seinem kraftvollen Leben. 

Ähnlich stellt Herkules ein Bild des heroischen Zeitalters 
in Griechenland dar. 

Das Buch der Richter c. 13, 3 folgende, erzählt die Berufung 
Samsons auf folgende Weise: „Apparuit Angelus Domini et 



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— 192 — 

dixit ad matrem Samsonis: concipies et paries filium, cujus 
Caput non tanget novacula; erit enim Nazaraeus Dei abinfantia 
sua ; et ipse incipiet liberare Israel de manu Philistinorum." 
Es erschien ein Engel des Herrn der Mutter des Samson und 
sprach: Du wirst einen Sohn gebären, dessen Haupt kein 
Schermesser berühren soll; denn er wird ein Gottgeweihter 
(I.Numeri c. 6, 2 — 22) von seiner Jugend an sein; und er wird 
beginnen, sein Volk Israel aus der Hand der Philister zu befreien. 

Von Herkules wird gesagt, dass er ein Sohn der Himm- 
lischen sei: 

^Jupiter adloquitur: Nostra est timor iste voluptas, 

O superi, totoque libens mihi pectore grator. 

Quod memoris populi dicor rectorque paterque 

Et mea progenies vestro quoque tuta favore est. 

Nam quamquam ipsius datur hoc immanibus actis 

Obligor ipse tamen . . . ." 
Jupiter sprach (bei dem Tode des Herkules auf Oeta) 
Tröstende Worte zu ihnen: Eure Furcht, o ihr Götter! 
Ist mir Entzücken, und ich wünsche mir gerne von Herzen 
Glück, dass ich eines dankbaren Volkes Regierer und Vater 
Heiss*, und dass mein Erzeugter durch eure Huld ist gesichert. 
Denn ob also gleich für seine übermenschliche Taten 
Ihm gelohnt wird, so werd' ich doch auch dadurch mit geehret. 

Die Erlegung emes Löwen und die Erschlagung von 
1000 Philistern mit einem Eselskinnbacken durch Samson 
erzählt die hl. Schrift (l.Judicum c. 14 u. 15): „Apparuit (autem) 
catulus leonis saevus et rugiens et occurrit ei. Irruit autem 
Spiritus Domini in Samsonem et dilaceravit leonem, nihil omnino 
in manu habens" (1. c. c. 14, 5—7). Es zeigte sich ein junger 
Löwe grimmig und brüllend und lief ihm entgegen. Es kam 
aber der Geist des Herrn über Samson, und er zerriss den 
Löwen, obgleich er nichts (keine Waffe) in der Hand hatte. 

Ferner: 

„Quum Samson venisset ad locum Maxillae et Philistiim 
vociferantes occurrissent ei, irruit Spiritus Domini in eum, 
inventamque maxillam, id est : mandibulam asini, quae jacebat, 
arripiens interfecit in ea mille viros" (1. c. c. 15, 14 sq.). Als 
Samson an den Ort des Kinnbackens gelangte, und die Philister 
mit Qeschrei ihm entgegeneilten, da kam der Geist des Herrn 



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- 193 — 

Über ihn; er fand einen Kinnbacken, das heisst: die Kinnlade 
eines Esels, welcher da lag, ergriff ihn und tötete damit 
1000 Mann. 

Herkules tritt auf mit der Haut des nemeischen Löwen 
und einer Keule: 

„Mox ut erat pharetraque gravis spolioque leonis 
Nam clavam et curvos trans ripam miserat arcus 
'Quando quidem coepi, superentur flumina' dixit" 
(cf. Metamorphoseon 1.9, 113 sq.; 1. 9., 230-240). 
Da sprach Herkules, wie er dastand, beschwert mit dem Köcher 
Und der Beute des Löwen, denn die Keur und den krummen 
Bogen hatt' er an jenes Ufer geworfen: „ich wag* es, 
Da ich nun einmal begonnen, die Fluten zu überwinden." 

Grosse, vollendete Tugend kann nur durch starken, fort- 
dauernden Widerstand sich bewähren; diesen fand Samson in 
seinem ganzen Leben. Daher stammen seine Kämpfe gegen 
die Philister, welche er für sein Volk siegreich bestand. (Cf . 1. Ju- 
dicum c. 15 und c. 16) Ebenso finden wir auch die Kämpfe 
und Siege des Herkules in seinen zwölf berühmten Arbeiten. 
(Cf. Metamorphoseon 1. 9, 183 sq.) 

Bisher sahen wir den Samson nur in seiner geistigen 
Höhe und Grösse. Von dieser aber sank er durch eigene 
Schuld herab, damit der gewöhnliche Mensch einsehe, dass 
auch der Vortrefflichste fehlen kann, wenn er die Gebote 
Gottes vergisst. Samson gab sich sinnlicher Liebe hin und 
schändete seinen hohen und erhabenen Beruf als Erretter seines 
Volkes. Daher klagt S. Ambrosius: „Der kräftige und starke 
Samson erwürgte zwar einen Löwen, aber seine Leidenschaft 
konnte er nicht bezwingen. Er zerriss die Bande seiner Feinde, 
aber die Banden seiner Begierde zerriss er nicht. Fremde 
Ernten zündete er an, aber vom Feuer einer falschen Liebe 
entflammt, verlor er die Ernte seiner Tugenden. ** (S. Ambrosii 
Apologiae Davidis 1. IL, c. 3.) 

Ganz ähnlich erging es dem Herkules: er liess sich in 
sinnliche Reizungen verstricken und warf in einer Art von 
Raserei seine und seines Bruders Kinder in das Feuer; auch 
stürzte er seinen Freund Iphitus von einem Felsen herab. 
(Cf. Metamorphoseon 1. XII, 548 sq.) Er btisste aber für seine 
Schuld, indem er auf Geheiss des delphischen Apollo bei der 



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— 194 — 

Königin Omphale als Sklave diente. (Cf. Terentii „Eunuchi" 
1. V., c. 3, n. 7; Propertii ^Elegiarum** 1. III., c. 11; Hygini 
„Mythollogiae Fragmentorum** 32.) 

Samson musste ebenfalls bei den feindlichen Philistern 
harte Sklavendienste verrichten. Das Unglück aber brachte 
ihn zur Besinnung; er bereute seine Vergehungen und riss 
zwei Säulen um, auf welchen das Haus der Philister ruhte: 

„Moriatur anima mea cum Philistiim!'' 
(Cf. 1. Judicum c. 16, 21 — 31). ^Es gehe zugrunde mein Leben 
zugleich mit den Philistäern!" 

Joseph Schreiner „Hercules redivivus'*, S. 68, Mainz bei 
Kirchheim 1899, nimmt an, dass die bekannten beiden Säulen 
des Herkules =Calpe und Abyla, das heutige Gibraltar und 
Ceutä, unweit von Gades (Cadix) in Spanien, sich auf die 
zwei Säulen des Samson beziehen. Gades nämlich, eine uralte 
Pflanzstätte der Phönizier, besass einen berühmten Tempel 
des Herkules in seiner Nähe, das heutige Cadix auf der Insel 
Leon. Der afrikanische Schriftsteller Apulejus (geboren ca. 124 
nach Christus zu Madaura) bezeichnete in seinem Buche „De 
Mundo" (TTepi köcTjliou) n. 6. extr., die Säulen des Herkules als 
columnae Gaditanae = die Säulen von Gades. Von Samson 
nämlich (cf. 1. Judicum c. 16, 3) heisst es, dass er die Tor-Flügel 
von Gaza (vgl. Gades) samt ihren Pfosten (Säulen) und Riegeln 
aushob und auf seinen Schultern zur Spitze des Berges hin- 
trug, welcher gegen Hebron (östlich gelegen) schaut. 

Da nun Samson als Vorbild für den Hercules *) diente, 
so lag es nahe, dass die Phönizier, als sie zum Andenken an 
das heimatliche Gaza im fernen Westen eine Stadt unter dem 
Namen von (Gaza) Gades gründeten, auch in dunkeler, sagen- 
hafter Erinnerung an Samson und die Torsäulen, welche der- 
selbe einst von Gaza auf das Gebirge trug, einen Tempel su 
Ehren des Herkules daselbst erhauten, sowie die nahe (südöst- 



^) Vergleiche das Verfahren der Engländer, der Phönizier unserer 
Zeit, welche im Gebiete von Nordamerika während des i6. und 17. Jahr- 
hunderts: Neu-England, New-Jersey, New- York, New-Hampshire (mit 
Portsmouth: Friede zwischen Japan. und Russland am 29. August 1905), 
New-Orleans usw. mit steter Beziehung auf ihr Mutterland gegründet 
haben. 



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— 195 - 

lieh) gelegenen Bergspitzen von Calpe und Abyla als die 
Säulen des Herkules heseichnelen. Auf dieser Überlieferung 
fassend, veröffentlichte ca. 1528 der deutsche Meister Heinrich 
Aldegrever einen berühmt gewordenen Kupferstich mit der 
Inschrift: „Herkules trägt die Torsäulen von Gades." Dasselbe 
Motiv behandelte a. 1545 der Künstler Hans Sebald Beham. 
Wie nämlich bereits S. 173 sq. und besonders S. 175 usw. 
dargetan wurde, haben die Phönizier durch ihre ausgedehnten 
Handelsbeziehungen und die Anlage von Kolonien die Kultur 
von Osten nach Westen hinübertragen und waren auch Ver- 
mittler von religiösen Ideen ^). 

Solange nun Israel dem Glauben seiner Väter getreu 
blieb, so lange ehrte es auch seine eigenen Nationalhelden. 
Als jedoch unter der Regierung des syrischen Königs Antiochus 
Epiphanes(176— 162 vor Christus) der abtrünnige Hohepriester 
Jason eine höchst verderbliche Hinneigung zum Heidentum 
begünstigte^ da verehrte man selbst in Jerusalem statt des 
hebräischen Samsons den phönisisch-griechischen Herkules. 

„Als aber Antiochus, welcher Epiphanes (=Augustus: der 
Erlauchte) genannt wird, die Regierung übernommen hatte, 
strebte Jason, ein Bruder des Onias, nach dem Hohenpriester- 
amte. Er ging zum Könige und versprach ihm 360 Talente 

Silber Als hierauf der König zugesagt hatte und ihm 

die Würde zuteil geworden war, begann er sogleich, seine 



1) Die Ableitung der Worte : Gaza und Gades spricht für die Ansicht 
des hl. Augustinus, dass die Phönizier usw. die Taten des biblischen 
Samson zu ihrem Herkulesmythus sagenhaft umgestaltet haben. 

Gaza, hebräisch: nry, von t^ = fest, stark, munitus (cf. Numeri 
c. 21, 4 und 1. Judicum c. i6, i sq.), vollständig: nTr ^"^^ •=. urbs 
munita, Festung, Die Septuaginta schreibt: PdZa. 

Gades, phönizisch : Gadir; griechisch : fdbcipa, bedeutet ebenfalls soviel 
als: Festung. 

Die Phönizier übertrugen vermutlich den heimatlich bekannten 
Namen der Stadt Gaza, welcher in ihrer Sprache Gadir lautete, mit den 
Erinnerungen an das Tragen der Torsäulen durch Samson, in den fernen 
Westen, wo sie Gadir, von den Römern später Gades genannt, gründeten 
und den berühmten Tempel des Herkules errichteten. Herkules trägt 
daher im phönizischen Sagenkreise die Säulen von Gadir (Gades) in 
Spanien, wie der biblische Samson die Torsäulen von Gaza in Palästina. 



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— 196 — 

Stammesgenossen in die heidnische Lebensweise einzuführen. 
Der Dienst am Altare kam in Vergessenheit, die Jugend wurde 
den Buhlhäusem überwiesen und, die väterlichen Ehren- 
stellen für nichts achtend, hielt man die griechischen Aus- 
zeichnungen für sehr rühmlich. Zu jener Zeit wurde in Tyrus 
(Phönizien) das fünfjährige Kampfspiel (nach Art der olym- 
pischen Wettkämpfe) gefeiert, bei welchen auch der König 
Antiochus Epiphanes zugegen war. Desshalb sandte der gott- 
lose Jason ruchlose Männer von Jerusalem aus (der griechische 
Text fügt hinzu: welche Antiochener waren), die 300 Didrach- 
men Silber (ca. 700 M.) als Opfer für den Herkules über- 
brachten. (Cf. Machabaeorum 1. IL, c. 4, 7 sq.) In Tyrus be- 
fand sich nämlich ein prachtvoller Tempel des Herkules, in 
welchem unter anderen Weihegeschenken auch Bwei Säulen 
aufgestellt waren: die eine von reinem Golde, die andere von 
Smaragdstein 1). (Cf. Herodoti ^Historiarum" 1. IL, c. 44.) 

Samson ist eine historische Persönlichkeit. Die Volkstüm- 
lichkeit des Inhaltes und der Darstellung seines Lebens be- 
rechtigt nicht dazu, die ganze Erzählung als „Volkssage" zu 
betrachten. Mythologische Deutungen, welche häufig versucht 
worden sind (Samson-Sonnen-Heros), laufen auf Willkürlich- 
keiten hinaus. Ein „historischer Kern" muss schliesslich doch 
anerkannt werden. Mit dem Mythus von Herkules hat die 
Geschichte Samsons nur das gemein, dass sie beide eine 
grosse Stärke besassen und einen Löwen erlegten. Die 
übrigen elf Taten des Herkules haben mit den Arbeiten des 
Samson wenig zu schaffen. Möglich ist es, wie nach S. Augu- 
stinus die Väter vermuten, dass geschichtliche Züge aus dem 
Leben Samsons von den zum Teil aus dem palästinensischen 
Ktistenlande stammenden Griechen, sowie durch die Phöni- 
zier sagenhaft verdunkelt und dann zu ihrem Herkulesmythus 
umgestaltet wären. (Vgl. Tübinger Quartalschrift 1886, S. 449 f., 
und S. 621 f. Auch Vigouroux „Die Bibel etc.", IIL Teil, 
S. 306 f.) 

Die neueste Methode, welche den Herkulesmythus mit 



^) Das Werk des Apulejus „De Mundo" ist eine freie Bearbeitung 
des dem Aristoteles (384 — 322 vor Christus) zugeschriebenen Buches: 
irepl Köajiou = Von der Welt. 



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— 197 — 

den orientalischen Mythen von Gilgamesch in Verbindung 
bringt und die Geschichte Samsons nach Motiven des Sonnen- 
mythus durchsucht, um ihren Zusammenhang mit beiden zu 
erweisen, ist nicht glücklicher, als die älteren Versuche. Sie 
ist willkürlich; denn geringe und bloss äusserliche Ähnlich- 
keiten haben keine Beweiskraft und vermögen die Hauptsache 
nicht zu erklären. Gemäss dem bekannten Philologen Prof. 
Philipp Buttmann besteht der Kern der Herkulessage in der 
Darstellung von übermenschlicher Körperkraft verbunden mit 
der Energie des Geistes, um alle Schwierigkeiten des Lebens 
zu tiberwinden. Er ist der Repräsentant eines heroischen 
Zeitalters. Vgl. hierzu Prof. Selbst „Handbuch zur biblischen 
Geschichte", I. Teil, S. 585 f., Freiburg bei Herder 1906. 

Als Kategorie könnte man wohl die Übertragung und 
Aneignung biblischer Tatsachen und Ideen seitens der Heiden 
aufstellen (Kategorie II). 

Für die ganze Auffassung ist aber massgebend das Breve 
Plus' X. vom 27. März 1906: „Quoniam in re biblica", welches 
über das Studium der hl. Schrift handelt. 

9. Der Uriasbrief des Königs David. 

Jerusalem gehört zu denjenigen Städten, welche um den 
Vorrang streiten, die älteste der Welt zu sein. Unter diesen 
besitzt es mit wenigen den Vorzug, dass es heute noch bewohnt 
ist. Während über dem hunderttorigen Theben und Memphis, 
den alten ägyptischen Residenzen, jetzt die Pflugschar her- 
geht, während zwischen dem Schutte von Babylon und Ninive 
die Herden weiden, bedecken in der Gegenwart noch Häuser, 
Paläste, Kirchen, Klöster und Moscheen die vier alten Berge 
von Jerusalem: Sion, Moriah, i\kra und Bezetha. Ebenso um- 
gürten Mauern und Zinnen den hoch über tief einschneidenden 
Felsentälern gelegenen Ort, wie dies im Altertum schon der 
Fall war. 

Das erstemal, wo wir etwas von Jerusalem (Salem) ver- 
nehmen, geschieht bei der Begegnung des Hirtenfürsten 
Abraham mit dem Priesterkönige Melchisedech (etwa 2000 
v.Chr.; cf. Genesis c. 14, v. 18 — 20), nach des ersteren sieg- 
reichem Feldzuge gegen Chordorlahomor. Melchisedech kam 



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— 198 — 

von Salem herab und brachte Gott ein Opfer dar von Brot 
und Wein; zugleich sprach er den Segen aus. (Cf. Psalm. 
Davidis 75 resp. 76, v. 3 und Psalm. 109, v. 5.) Abraham hin- 
gegen gab den Zehnten und erkannte ihn somit, obgleich er 
selbst des unmittelbaren Verkehres mit Gott gewürdigt war, 
dennoch als einen über sich Stehenden an. (Cf. Ep. ad Hebraeos 
c. 5, V. 10; c. 7, V. 1—28.) Nach dem Hebräischen lautet der 
3. Vers des 75. rep. 76. Psalmes also : „Geworden ist sein Gezelt 
in Salem und seine Wohnung in Sion!" Die Begegnung dieser 
zwei wunderbar von Gott begnadigten Männer — im Hinter- 
grunde den Berg Sion — das ist ein Bild, welches aus dem 
grauen Nebel des fernsten Altertums vor unseren Augen sich 
erhebt, um uns zum ersten Male mit Salem (Jerusalem) bekannt 
zu machen. Es verschwindet aber wieder in das Dunkel, aus 
welchem es aufgetaucht ist. Fast 500 Jahre lang hören wir 
nichts mehr von der hl. Stadt und ihrem Schicksale, bis uns 
durch die bei Tell-el-Amarna (zwischen Memphis und Theben 
in Aegypten) im Jahre 1888 aufgefundenen Briefe eine neue 
Kunde aus uralter Zeit vermittelt wurdet). 

In diesem Schreiben (Tafeln aus gebranntem Ton, sieben 
an der Zahl, welche in den Museen zu Berlin, Kairo und London 
jetzt aufbewahrt sind,) wendet sich Abdichiba, ein tributpflich- 
tiger Gau- und Stadtfürst, an seinen Oberherrn, den König von 
Ägypten, von Urusalim (Jerusalem) aus: „An den König (Ame- 
nophis III. rep. IV.), meinen Herrn, dein Knecht Abdichiba. 
Zu den Füssen meines Herrn falle ich siebenmal und abermals 
siebenmal nieder usw." Die babylonisch-assyrische Sprache, 
deren sich jener Briefsteller an den ägyptischen Hof bediente, 
w^ar in jenen Zeiten die diplomatische Sprache des internatio- 
nalen Verkehres. Ihre Abfassung fällt noch geraume Zeit 
vor den Einzug der Israeliten in das gelobte Land (1450 a. Chr.) 
Vgl. Prof. Dr. Carl Bezold in Heidelberg ^Ninive und Babylon", 
S. 20 und 32. Kolonne 1 f. Bielefeld und Leipzig bei Velhagen 
und Klasing 1903. 



1) Dass mit Salem (Genesis c. 14, v. 18) Jerusalem, und nicht ein 
anderer Ort in Palästina gemeint ist, hat neuerdings Moniert („Salem, die 
Königsstadt des Melchisedech", Leipzig 1902) in überzeugender Weise 
dargetan. 



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— 199 — 

Inzwischen kam Jerusalem in die Gewalt der Jebusäer, 
deren König Adoni-Sedech durch Josua gefangen genommen 
und hingerichtet wurde. (L. Josues c. 10, v. 1—26) Bei der 
Verteilung des Landes an die zwölf Stämme Israel fiel Jerusalem 
Benjamin zu, nur der Berg Moriah kam zu Juda. Dieser Stamm 
bewohnte mit Benjamin und den noch nicht besiegten Jebusiten 
zusammen die eigentliche Stadt. (L. Josues c. 15, v. 8 und 63.) 
Erst unter der Regierung des Königs David (a. 1047 a. Chr.) 
wurden die Jebusäer vollständig besiegt und verdrängt. (L. II. 
Regum c. 5, v. 6 sq.) Vgl. Graf von Wartensleben „Jerusalem", 
3. Auflage, S. 61; Berlin bei Paul Scheller 1875. Aus Jebus 
und Salem scheint der Name: Jebu-Salem = Jerusalem ent-* 
standen zu sein. So nach P. Franz Joseph Costa-Major „Das hl. 
Land", I. Teil, S. 106. Mainz bei Kirchheim 1887. 

David nun erhob Jerusalem zu seiner Haupt- und Residenz- 
stadt, nachdem er vorhin sieben Jahre zu Hebron regiert hatte. 
In seinem Leben findet sich eine dunkle Tat, welche einen 
Schatten auf alle nachfolgenden Tage des grossen Königs 
brachte. Es zeigte sich auch an ihm, dass jeder Mensch nur 
durch Gottes Hilfe in der Tugend standhaft sein kann. David 
vertraute zu viel auf sich selbst und versäumte es, die nötige 
Wachsamkeit anzuwenden. Um die Gemahlin des tapferen und 
treuen Urias zu gewinnen, liess er diesen absichtlich in die 
Hände seiner Feinde geraten, und gab demselben, arglos wie 
er war, noch sein eigenes Todesurteil, damit er dasselbe 
dem Feldherrn Joab zur Vollziehung überbringe: Uriasbrief! 
„Prima igitur luce scripsit David epistolam ad Joab misitque per 
manum Uriae, scibens in epistola: Ponite Uriam ex adverso 
belli, ubi fortissimum est proelium et derelinquite eum, ut per- 
cussus intereat!" Und so geschah es denn auch. (L. Regum 
c. 11, V. 14 sq.) Als es nun Morgen geworden war, schrieb 
David einen Brief an Joab, und schickte denselben durch 
die Hand des Urias. In dem Briefe schrieb er: „Setzet 
den Urias einem Kampfe aus, wo das Treffen am heftigsten 
ist; dann verlasset ihn, damit er erschlagen werde und um- 
komme!'* 

Diese höchst treulose Tat verfehlte nicht, allgemeinen 
Unwillen hervorzurufen. Selbst die Heiden erfuhren dieselbe 
und lästerten den geheiligten Namen des Gottes Israel: David 



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will ein Verehrer des wahren Gottes in Jerusalem sein und 
handelt so, dass wir Heiden es verabscheuen müssen! 

David bereute seinen Frevel (vgl. 50. Psalm) : „Peccavi 
Domino!" „Ich habe gesündiget wider den Herrn!" Darum 
sprach der Prophet Nathan zum ihm: „Dominus transtulit 
peccatum tuum. Verumtamen, quoniam blasphemare fecisti 
inimicos Domini propter verbum hoc (hoc ßagititim apud gentes 
innotuit) filius ttius morte morietur!^ Hieraus ersehen wir, 
dass jene Meintat weithin bekannt geworden war. 

„Der Herr hat deine Sünde von mir genommen! Weil 
du aber durch diese Schandtat den Feinden des Herrn (den 
'Heiden) Anlass gäbest zum Lästern, so wird dein Sohn des 
Todes sterben." S. Paulus sagt im Briefe, an die Römer c. IL, 
V. 24 : Tö T^P övojLia toO 0€Oö h\ ujuäq ßXaa9ri)aeiTai ev ToTq iGveöi, 
Kaed)^ T^TpaTTTar Nomen enim Dei propter vos blasphematur inter 
Gentes, sicuti scriptum est. Der Name Gottes wird durch 
euch (um eurer Sünde willen) bei den Heiden gelästert, so wie 
geschrieben steht. (Cf. 1. II. Regum c. 12, v. 14; Psalmi 78, v. 9; 
(113 B, 2), 1. Ezechielis c. 36, 20; 1. Isaiae c. 52, 5.) 

Die Gesänge des Homer, welche im 8. und 9. Jahrhunderte 
vor Christus ausgestaltet sowie unter Peisistratos (600 — 527) ge- 
sammelt, aufgeschrieben und in einer attischen Rezension 
herausgegeben wurden (vgl. Drerup „Homer", S. 49 f., München 
1903), bezeugen, dass der Uriasbrief des David in den Sagen 
der vorderasiatischen Völker fortlebte. 

In dem 6. Buche der Ilias (v. 168) gibtProetos, der König, dem 
tapferen und tugendhaften Helden Bellerophontes sein eigenes 
Todesurteil mit auf den Weg: 

TTejLiTre hi jluv AuKirivbe, iropev b' Sife (Sy\\xaTa Xufpd,! 
Ypdv|ia^ dv TTivaKi tttuktiu 0u|aop06pa TToXXd, 
beiHai b' i^vuüTei iL iT€v0eptu, 89p' dTTÖXoiTO- (ut intereat!) 
Aber gen Lykia sandt' er ihn hin, und traurige Zeichen 
Gab er ihm, viel Mordwinke, geritzt auf gefaltenem Täflein : 
Dass, wenn er solches dem Schwäher gezeigt, er das Leben 

verlöre. 

Zu Vers 1 68 ist exegetisch zu bemerken : ö t€ hebt die 
Identität des Subjektes ausdrücklich hervor: wir, aber zugleich 
gab er ihm mit cTrijuaTa XuTpd, verderbliche Zeichen = Runen: 
ein zwischen dem Absender und dem Empfänger verabredetes 



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Wahrzeichen, eine Art tessera hospitalis, Marke der Gast- 
freundschaft. (Cf. Plauti „Poenuli" 1. V., 2, 38.) Vgl. auch 
V. 176, 178. V. 169: ypoivpoK;, nachdem er eingeritzt hatte. — iv 
TTivaKi TTTUKTUJ ift elfter gefalteten Schreibtafel : zwei mit Wachs 
überzogene Holzbrettchen, welche zusammengefaltet oder ge- 
schlossen wurden, damit der Inhalt dem Überbringer nicht 
bekannt werde; — 8ujLio986pa TToXXd = Lebenzerstörendes, Tot- 
bringendes in Menge; eine Art Geheimschrift, welche ^als 
Uriasbrief^ den Tod des Überbringers herbeiführen sollte. (Nach 
Prof. Dr. Ameis.) V. 170: nvuiTci ist die dritte Person. (Cf. Kr. 
Di. 31, 1,2.) 

Im Zusammenhange mit der Sendung dieses Todes- 
briefeß werden zweimal die Männer von Solyma („Jerusalem") 
genannt. (L. c. v. 184 und 204.) Die neuere Philologie, z. B. 
Preller „Griechische Mythologie" II 2, 84, nennt den Brief, 
welchen der König Proetos dem Bellerophontes mitgibt, gerade- 
zu einen ^Uriasbrief^ . Ebenso auch Professor Ameis, dessen 
Ansicht wir oben mitgeteilt haben. — Vgl. überdies Fischer 
„Bellerophon" S. 25. Schon im Altertum war es bekannt, dass 
Homer die Stadt Jerusalem unter dem Namen Solyma be- 
sungen habe. So berichtet Flavius Josephus „Antiquitatum 
Judaicarum" 1. 7, c. 3, n. 2: David hat aus Jerusalem die Jebu- 
siter vertrieben und die Stadt zuerst nach seinem Namen 
benannt : denn zur Zeit unseres Vaters Abraham (2000 v. Chr.) 
hiess sie Solyma. Einige sind der Ansicht, es habe auch Homer 
diese Stadt Solyma genannt; denn er nennt den Tempel Solyma 
(wohl Odysseos 1. V., v. 283), welches Wort in der hebräischen 
Sprache soviel als „Ruhe" und „Friede" bedeutet." (Cf. Iliados 
1. VI., V. 184 und 204.) 

Desgleichen schreibt Cornelius Tacitus „Historiarum" 
1. V., c. 2: „Sunt, qui tradant, Assyrios convenas esse Hebraeos, 
indigum agrorum populum, parte Aegypti potitos, mox pro- 
prias urbes, Hebraeasque terras et propriora Syriae coluisse. 

Clara alii Judaeorum initia, Solymos, carminibus Homeri 
celehratam gentem, conditae urbi Hierosolyma nomen e suo 
Tecisse." (Cf. Ciceronis illud: Romulus urbem constituit, quam 
c stio nomine Romam jussit nominari.) 

Der römische Geschichtschreiber Cornelius Tacitus gibt 
im fünften Buche, Kapitel 2 seq. seiner Historien eine 



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— loa — 

kurze Übersicht über die Geschichte der Juden: ihre Herkunft, 
ihre ersten Schicksale, sowie über den Ursprung und Namen 
ihrer Stadt Jerusalem, auf welche wir im zweiten Bande 
dieses Buches noch genauer zurückkommen werden: 

„Einige nehmen an, die Juden seien Fremdlinge aus 
Assyrien (Abraham kam aus Ur in Chaldäa), welche auf der 
Suche nach ertragfähigem Boden einen Teil Ägyptens (die Pro- 
vinz Gosen) sich angeeignet und hierauf (nach 430 Jahren) sich 
eigene Städte und die hebräischen Gebiete (das Land Chanaan 
nach dem Auszuge aus Ägypten), näherzu an Syrien gelegen, 
in Besitz genommen hätten. 

Andere Gewährsmänner sind der Ansicht, dass die Solymer, 
ein in den Liedern des Homer schon besungenes Volk (üiados 
1. VI., V. 184 u. 204, sowie Odysseos 1. V., v. 283). die hoch- 
berühmten Urahnen der Juden seien; und diese hätten nach 
ihrem eigenen Namen Solymi ihrer neu gegründeten Stadt 
den Namen: Solyma, Hierosolyma (Jerusalem) gegeben. 
(Sprachlich ist das Wort von Cicero zu vergleichen; 
^^Romulus baute eine Stadt, welche er nach seinem Namen 
^^Rom^^ nennen liess.") Hiermit stimmt auch der Bericht des Fia- 
viusjosephus, welchen wir oben anführten, vollständig überein ^). 

Der bekannte Philologe Prof. Dr. Ameis (Mülhausen in 
Thüringen) behandelt in einer Anmerkung zu Homers Odyssee 
1. 4, V. 84 den Namen 'Hp€^ßoi (Erember), welchen er als eine 
Gesamtbezeichnung für die Hebräer ('Eßpatoi) mit dem Volke der 
Aramäer und Araber ansieht: „Es kann an dieser Stelle ein 
dunkles Gerücht von dem Reichtume Davids und Salomons 
enthalten sein. Vgl, auch Solymi, ZöXujioi V., 283, ein Name, 
welcher Anklang hat an Salem, Solyma, Hierosolyma Jeru- 
lem." Die Stelle bei Homer (Odysseos 1. IV., v. 80 sq.) lautet: 



1) Die Solymi des Tacitus sind zwar nicht die Urahnen des jüdischen 
Volkes; wohl aber sind unter diesem Namen (von Salem abgeleitet) die 
(ältesten) Bewohner von Jerusalem den Griechen und Römern zuerst 
bekannt geworden, welche in der Folgezeit nach dem regierenden Stamme 
Juda den Namen: Juden erhielten; das Land selbst wurde sodann: Judaea 
von den Römern u. s. f. geheissen. Vgl. 1. Michaeae Prophetae c. V., v. 2 ; 
Suetonii „Divi Vespasiani'* c. 4, n. ßisq.; Taciti „Historiarum" 1. V., c. 13. 
Nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft (a. 536 a. Chr.) 
wurde jene Bezeichnung allgemein. 



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^ Ä03 — 

'Avbpaiv b' f^ k^v ti^ |noi dpicrcyeiai f{l Kai ouk\ 
KTr\}xaa\v f\ TOip ttoXXci iraOuiv Kai ttöW 'dTraX^Oeiq 
r\yay6}xr]v dv vT]uai Kai ÖYbodTUJ frei fjXOov, 
KuTipov, 0oiviKr|V T€ Kai AiTVTTiouq d7TaXT]9eiq, 
AiGioTid^ 9' lKÖ^T]v Kai Ziboviou^ Kai 'EpeMßoü^ 
Kai AißuTiv, iva t' äpveq aq)ap Kcpaoi tcX^Goucti. KtX'* 
Doch ein Sterblicher mag mit mir wetteifern an Reichtum, 
Oder auch nicht. Denn traun nach unendlichem Leiden und 

Irren 
Bracht' ich ihn heim in Schiffen, und kam im achten der Jahr' erst 
Weit nach Kypros zuvor, nach Phoenike und Aegyptos; 
Äthiopen auch sah ich, Sidonier und Erember, 
Libya auch, wo die Lämmer sogleich aufwachsen mit Hörnern. 
Menelaos, heimgekehrt nach Lacedaemon, erzählt dem 
Telemach und Peisistratos, dem Sohne des Nestor, seine 
Schicksale bei der Rückkehr aus dem trojanischen Kriege. 
Von dem zerstörten Ilium wegfahrend, wurde er an die 
syrische Küste verschlagen. Die nun weiterhin gleichsam 
kreusweise aufgezählten Länder- und Völkernamen, um das 
TTÖXX' eiraXTiOei?: v. 81, zu erläuteren {y;viel umherirrend^^)^ um- 
fassen die östlichen und südwestlichen Gestade des Mittel- 
meeres und die reichsten Völker Asiens und Afrikas: die 
Insel Cypern, Phönizien, Ägypten, Äthiopien, Sidon; von 
dem eigentlichen Phönizien hier unterschieden: die nördlichen 
Phöniker; Erember = Hebräer (Juden); Libyen, das an Ägypten 
grenzende Küstenland, als wunderbar gesegnet dargestellt. 

Palästina, einschliesslich Judäa, war daher für Homer 
kein unbekanntes Land. 

Chörilos aus Samos, der wissenschaftliche Begleiter des 
persischen Königs Xerxes auf dessen Kriegszuge gegen 
Griechenland (480 — 479), bringt in seiner „Persöis" einen über- 
zeugenden Beweis dafür, dass unter den Solymi (IöXu^ol) des 
Homer die Bewohner von Judäa (Jerusalem) zu verstehen sind. 
Flavius Josephus nämlich in seiner Verteidigungsschrift 
gegen den alexandrinischen Gelehrten Apion (^Contra Api- 
onem" 1. I, c. 22) führt eine Stelle aus Chörilus an, welche 
lautet : 

Tui 5' ÖTTiGev bi^ßaive t^vo^ Gaujuaaröv Ib^crOai, 
rXujcTcyav \ikv Ooiviacrav (xttö (JTOiidTUiv dcpievreq, 



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^ Ä04 — 

'Qk^€t' ^v ZoXuMOiq öpecTiv trXaT^ij ^vi Xi^V1J. 
AuxjLiaXeoi Kopuqxi^* xpoxoKOupibe^' auxdp ötrepOev 
"Ittttujv bapia TTpöcTiuTr' dq>6pouv ^cyK\T]KÖTa KatTVoi' 
Exin miranda specie gens castra secuta est, 
Phoenicum ignoto quae voces ederet ore. 
Haec Solymos habitans montes stagnum prope vastum, 
lircumtonsa comis, squallenti vertice equini 
Exurias capitis duratas fumo gerebat. 
Aber nun kam ein Volk, ganz wunderbar für den Anblick; 
Die phönizische Sprache floss ihnen vom Munde herab; 
In den Solymer Bergen sie wohnten gans nahe beim Salsmeer; 
Starrenden Nackens sie waren, geschoren am Haupte, von oben 
Trugen sie Pferdekopfshaut, gehärtet im Dampfe. 

(Vgl. Choerili Samii quae supersunt collegit Naeke. Lip- 
siae 1817, p. 130 sq.; ferner Gesamtausgabe der Werke des 
Flavius Josephus von Franz Oberthür, Leipzig 1785, Tomus III. 
p. 1182 sq.) 

Choerilus zählt alle Völker auf, welche dem Könige 
Xerxes auf seinem Kriegszuge folgten (vgl. den Schiffskatalog 
bei Homer Uiados 1. II., v. 484—785) und beschreibt last not 
least die Hülfstruppen aus Judäa, die Juden nämlich. Er sagt 
von ihnen: „Sie bewohnen die Solymer Berge, ganz nahe bei 
dem Salzmeer (lacus Asphaltites), womit unstreitig das „Tote 
Meer** die südöstliche Grenze von Judäa, bezeichnet wird, 
„Die Solymer Berge" sind eben das Gebirge von Juda, von 
ihrer Hauptstadt Solyma (Jerusalem) benannt. Daher kann es 
keinem Zweifel mehr unterliegen, dass auch die (Odysseos 1. 
V., V. 283) von Homer erwähnten öpea ZoXujlhjüv die Berge von 
Judäa (von Jerusalem) sind: 

Töv b' il AiGiÖTTUiv dviujv Kpeiuiv evedxOiuv 
TTiXöGev Iy. ZoXujiUJV öp^uiv ibev 
Aber Poseidon, zurück von den Äthiopern sich wendend, 
Schaut den Odysseus fern von den Solymer Bergen. — 

Wenn nun von den „Bewohnern der Solymer Berge ganz 
nahe am Salzmeer" noch gesagt wird: ^,Die phönisische 
Sprache floss ihnen vom Munde her ab^', so ist dies mit Movers 
(„Untersuchungen über die Religion und Gottheiten der 
Phönizier", II. Band, III. Teil, Seite 78 u. f., Bonn 1841) aus 
dem Umstände zu erklären, dass von den älteren griechischen 



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— 205 — 

Schriftstellern die Hebräer, Phönizier und Syrier nicht von- 
einander unterschieden wurden. Auch bildet die phönizische 
Sprache, wie die hebräische, einen Zweig des grossen semi- 
tischen Sprachstammes und ist mit der hebräischen im wesent- 
lichen gleich. Zudem bedienten sich die Juden auch der phö- 
nizischen Schriftzeichen bis auf die Zeit der babylonischen Ge- 
fangenschaft (ca. 536 n. Chr.), nach welcher die jetzt übliche 
chaldäische Quadratschrift sich allmählich einbürgerte. 

Dass die Juden auch sonst bei anderen Völkern Kriegs- 
dienste tibernahmen, beweist die Rede ihres Anführers Judas 
(Machabaeorum 1. IL, c. 8, v. 20 f.), in welcher er seine Soldaten 
daran erinnert, dass sie in Babylonien gemeinschaftlich mit 
den Griechen (Mazedoniern) gegen die Galater siegreich 
gekämpft hätten (vermutlich in der Zeit von 224—187 n. Chr.). 
Auch berichtet Flavius Josephus „Antiquitatum Judaicarum" 1. 
XI., c. 8 u. 5, dass viele Juden in das Heer Alexanders des 
Grossen eingetreten seien (a. 332 a. Chr,). 

Fassen wir nun die angeführten Zeugnisse aus Choerilos 
Homer, Flavius Josephus und Tacitus sowie die An- 
sichten der neueren Philologen: Ameis, Fischer, Mommert, 
Naeke und Freller zusammen, so ergibt sich folgendes Resultat: 

1. „Salem" (Dbu?) ist die älteste Bezeichnung für Jerusalem. 
(Mommert.) 

2. Die Form „Salem" dehnt sich bei den Griechen in 
I6Xu)Lia („Solyma"): Flavius Josephus. In dem Corpus Inscrip- 
tionum 4336 ^^ wird ein Zeu^ loXujieu^ angeführt. Cicero Orat. 
pro Flacco c. 28 nennt die Stadt : Hierosolyma. 

3. Die Bewohner von Solyma heissen bei den Griechen 
IöXu|Lioi, Solymer. (Homer.) 

4. Das Gebiet und die Umgebung von Solyma wird: 
öp€a ZoXujiuiv, die Berge der Solymer, genannt. (Choerilos, 
Homer, Flavius Josephus. i) 

5. Diese Gebirgslandschaft wird durch den Zusatz: 



1) Flavius Josephus („Contra Apionem" 1. I, c. 22) sagt nach An- 
fühiung der Stelle aus Choerilos, wörtlich: „Es ist allen offenkundig, wie 
ich glaube, dass Choerilos mit diesen Worten unserer (der Juden) gedacht 
hat; weil sowohl „die Solymer Berge" eben die Berge in unserem Lande 
(Judäa) sind, auf welchen wir wohnen, als auch der See, welcher Salz- 
mcer (Ximvti (i(jq)aXTtTi<; = lacus Asphaltites), heisst, der ausgedehnteste und 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 1$ 



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— 206 — 

„ganß nahe bei dem Salsmeer^^, unzweifelhaft als das Gebirge 
von Juda charakterisiert, welches sich von Jerusalem bis un- 
mittelbar an das Salzmeer (lacus Aphaltites=das Tote Meer) 
erstreckt. (Choerilos und Flavius Josephus.) 

6. Die Erzählung von dem Helden Bellerophontes enthält 
als geschichtliche Unterlage vermutlich den biblischen Bericht 
über den Uriasbrief des Königs David in griechischer Um- 
arbeitung und Darstellung. (Nach Ameis, Fischer und Preller.) 

Zur Beurteilung des Briefes von David und dem König 
Proeios ist zu vergleichen : Nicolö Marini „La Biblia e Llliade" 
S. 21 f., Roma 1900. Als Kategorie wäre an dieser Stelle die 
Einwirkung biblischer Vorgänge auf die griechische Literatur 
anzunehmen (vgl. S. 207 u. 208), Kategorie II. 

Schuld und Sühne stellen uns zwei grosse Wechsel- 
beziehungen im menschliihen Leben dar: — David hat ge- 
sündigt, David hat gebüsst. — Die ganze Angelegenheit 
wurde nach dem Zeugnisse der heiligen Schrift auch den 
Heiden bekannt. Aber sein 50. Psalm: „Miserere mei Deus!" 
wurde das Reueformular für die ganze Menschheit. Als der 
Kaiser Theodosius (379—392 p. Chr.) in schwerer Übereilung 
einen Massenmord zu Thessalonice veranlasst hatte, trat ihm 
beim Kirchenbesuche der Erzbischof S. Ambrosius zu Mailand 
entgegen und hielt ihn zurück, indem er ihm die grosse Blut- 
schuld vor Augen stellte. Theodosius erwiderte: „Auch der 
König David hat durch Mord an Urias schwer gesündigt." 
S. Ambrosius aber sagte: „Hast du den König David in 
seiner Schuld nachgeahmt, so folge ihm auch in der Sühne!" 
Und wirklich nahm der grosse Alleinherrscher des Morgen- 
und Abendlandes eine achtmonatige öffentliche Kirchenbusse 
bereitwillig an. So sehr wirkte das Beispiel des Königs David. 



grösste in ganz Syrien ist." t\\\xvx\ 7rXaT€ia (Choerilos) heisst sowohl: der 
ausgedehnte, grosse, als auch: der salzige See. So sagt Herodot: iröna 
TrXüTi» = salziger Trank; und Aristoteles: öba»p ttXqtO = salziges Wasser. 
Die Stelle bei Herodot („Historiarum" 1. II, c. io8) lautet: AItOtttioi . . . 
<jiravi2[ovT€(; öbdrcjv, irXaTUT^poiöi ^xP^ovto rote; iröinaai ^k cppccÄTUJV xp€ÖM€voi 
sc. Toic; iröiLiaai. Die Ägyptier, welche (da sie nicht am Flusse wohnten), 
Mangel an Wasser litten, benützten zum Tranke ein ziemlich salziges 
Wasser, das sie aus Brunnen schöpften. Ähnlich bei Aristoteles: tiXotu 
öbtup, salziges Wasser = sal. (Vgl. Griechisches W()rterbuch von Pape, 
unter TrXaTO(;, wo noch andere Belegstellen verzeichnet sind.) 



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— 207 



10. Die Reise des Erzengels Raphael mit Tobias. 

(L. Tobiae c. 5—12.) 

K. Sittl „Geschichte der griechischen Literatur", I. Teil, 
S. 117 (München 1884) stellt die Behauptung auf: in der Home- 
rischen Frage wird es nie gelingen, eine allgemeine, oder auch 
nur die meisten befriedigende Lösung zu finden; eben weil 
der Geschmack, welcher qualitativ und quantitativ sehr verschie- 
den ist, zu sehr mitspricht. Hierzu kommt noch, wie A. Baum- 
gartner, S. J. „Die griechische und lateinische Literatur des klassi- 
schen Altertums", S. 23 f. (III. und IV. Aufl. Freiburg, Breisgau, 
1902) bemerkt, dass die Persönlichkeit, die Zeit und Heimat des 
Homer, trotz so vieler und verdienstlicher Forschungen, nach 
wie vor in ein sagenhaftes Dunkel gehüllt bleiben. Auch ist 
die Entstehung der unter seinem Namen bekannten epischen 
Gedichte keineswegs noch genügend aufgehellt. 

Von tüchtigen Gelehrten der Neuzeit, wie Viktor Terret 
(„Homere", Paris 1899), und Engelbert Drerup („Homer", 
München 1903) wird nun angenommen, das die Heldengesänge: 
Ilias und Odyssee in dem Jahrhundert nach dem Falle Trojas 
als Einzellieder sich nach und nach unter dem griechischen 
Volke ausbildeten , hierauf aber, etwa vom 9. bis zum 8. Jahr- 
hundert V. Chr, zu einheitlichen Epen zusammengefasst, ver- 
arbeitet und schriftlich aufgezeichnet worden seien. Die Re- 
daktion derselben unter Peisistratos (600 — 527) bedeute wohl die 
offizielle Feststellung und Rezeption einer attischen Homer-Aus- 
gabe, um den Text der Heldengesänge vor weiteren Zudich- 
tungen und Interpolationen sicher zu stellen. Eine genauere 
Zeitbestimmung ist nach dem Stande der heutigen Forschungen 
noch nicht möglich. Herodot nämlich („Historiarum" 1. IL, 
c. 53) setzt Homer um das Jahr 854 v. Chr. an. Der Geschicht- 
schreiber Theopompus aus Chios und der Grammatiker Eupho- 
rien aus Chalcis rechnen dagegen für das Leben des Homer 
die Jahre von 724 — 686. Vergleiche im vorhergehenden S. 72. 
Da nun Einschiebungen und Interpolationen zur Ilias und 
Odysee bis auf die Zeit des Peisistratus (ca. 540 v. Chr.) zu- 
gegeben werden (vgl. Drerup „Homer" S. 49 f.), so verstösst 
es nicht gegen die Chronologie, wenn wir nachstehendes 
aufstellen : 



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— 20S — 

Im Buche Tobias (c. 722—652 v. Chr.) wird eine Reise 
des Erzengels Raphael mit dem jüngeren Tobias auf folgende 
Weise erzählt: 

Tobias, der Vater, aus dem Stamme Nephthali in dem 
Reiche Israel, wurde a. 722 durch Salmanassar, König von 
Assyrien, mit seinem Volke in die Gefangenschaft nach Ninive 
geführt. Weil der König ihm aber gewogen war, so erhielt 
er das Amt eines Hofschaffners (dTOpaaTri^, LXX.). Derselbe 
schenkte ihm sogar zehn Talente Silber (= 78000 Mark, oder 
wenn babylonische Talente: 46800 Mark). Diese verlieh er gegen 
einfache Handschrift an seinen Stammesverwandten Gabelus 
zu Rages in Medien. Nach vielen Jahren nun gedachte der alte 
Tobias, die längst verschriebene Geldsumme wieder einzufordern. 
Weil aber die Stadt Rages von Ninive ca. 1000 Kilometer ent- 
fernt lag, so suchte er für seinen Sohn, welcher die weite 
Reise dahin ausführen sollte, einen kundigen Führer. Als 
solcher erschien bald der Erzengel Raphael ; und mit den ver- 
hüllenden Worten : „Ich bin Azarias, des grossen Ananias 
Sohn!" führte derselbe sich bei Tobias ein. Nach dem grie- 
chischen Texte war die Familie des grossen Ananias dem Tobias 
auf seinen früheren Festesreisen zum Tempel in Jerusalem 
höchst vorteilhaft bekannt geworden, so dass derselbe kein 
Bedenken trug, dem geheimnisvollen Begleiter, welcher die 
teuren Züge seines Gastfreundes trug, den einzigen Sohn 
anzuvertrauen. (Cf. LXX „Tobit'' c. 5, 13 sq.) Unter Führung 
des Himmelsboten nun ging die ganze Hin- und Herreise 
sehr glücklich von statten. Zum Schlüsse jedoch gab derselbe 
sich zu erkennen: „Ego sum Raphael, Angelus, unus, ex 
Septem (Seraphinis), qui adstamus ante Deum!" (Cf. 1. Tobiae 
c. 12, 15). „Ich bin Raphael, der Engel einer von den sieben 
(Seraphinen), die wir vor Gott stehen!" 

Dass nun in dem Zentrum der grossen assyrischen Welt- 
Monarchie zu Ninive, der Hauptstadt des Reiches, diese ganz 
ausserordentliche Tatsache nicht verborgen bleiben konnte, ist 
schon bei der gesellschaftlichen Stellung des Tobias als Rent- 
meister am Hofe des Königs leicht einzusehen. Zu Ninive 
hatte schon ein Jahrhundert früher (ca. 828 v. Chr.) der Prophet 
Jonas mit grossem Erfolge gepredigt, so dass der König und 
die ganze Stadt öffentlich Busse taten. (Cf. 1. Jonae c. 3 und 



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— 209 — 

Evgl. S. Lucae c. 11, 32). Sodann war es ja, ausser der 
Züchtigung des Reiches Israel während seiner Gefangenschaft 
zu Assyrien, im Plane der Weltregierung Gottes gelegen, eben 
durch die Israeliten dem heidnischen Volke am Tigris ein 
Licht aufgehen zu lassen. Diesen Zweck spricht der ältere 
Tobias mit folgenden Worten aus: „Darum hat Gott euch 
(mit den hl. Büchern) unter die Heiden zerstreut, welche Ihn 
nicht kennen, damit ihr seine Wunder erzählet und ihnen zu 
wissen kund tut, dass kein anderer der allmächtige Gott isty 
als Er!'^ (L. Tobiae c. 13, 4.) Auch hatte der Engel Raphael 
der Familie des Tobias scheidend den Auftrag gegeben : „Vos 
autem benedicite Deum et ndrrate omnia mirabilia ejusl^^ 
(Ibidem v. 20.) „Ihr aber preiset den Herrn und verkündet 
alle seine Wundertaten!'^ Dies wurde sofort ausgeführt : „Hier- 
auf priesen sie Gott . . , und machten alle seine Wunder kund." 
(Vers 22.) Cf. Machabaeorum 1. II., c. 3, 34. 

Da, wie oben gesagt wurde, Tobias wegen seines Amtes 
bei dem königlichen Palaste zu Ninivje stadtbekannt war, 
(dTopa(TTr|^ — Schaffner), so konnte er die Mitteilung von den 
wunderbaren Vorgängen in seiner Familie sehr leicht weithin 
verbreiten. 

Stellen wir uns nun aber die Frage, ob die Nachricht 
von diesem Himmelsbesuche auch bis nach Griechenland habe 
gelangen können, so dürfen wir dieselbe bejahen. Denn Ninive 
war eine Bandeisstadt ersten Ranges! Der Prophet Nahum 
(ca. 726 v. Chr.) sagt von derselben, dass ihrer Kaufleute mehr 
gewesen seien, als der Sterne am Himmel. Der Schwärm der 
Handelsbeflissenen und Krämer zog — wie ein Insekten- 
Schw^arm, ja unermesslich an Zahl, wie die Heerscharen des 
Firmamentes — in Ninive ab und zu. Hier trafen nämlich 
die Heerstrassen landeinwärts von Phönisien nach Kleinasien 
(vgl. 1. Ezechielis prophetae c. 37, 23 sq.) mit jenen von Ägypten 
her nach Persien^ Medien und Hochasien zusammen. Eine 
Brücke über den Tigris erhöhte noch die Bedeutung von 
Ninive für den damaligen grossartigen Weltverkehr. Indem 
der Prophet Ezechiel (c. 27) die ausgedehnten Handels- 
beziehungen der phönizischen Stadt Tyrus beschreibt, sagt er, 
dass unter ihren Kaufleuten, nebst vielen anderen, auch Männer 
von Juda, Israel, Assyrien (ibidem v. 17 u. 23), sowie von 



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— 210 — 



Griechenland sich befunden hätten (Vers 13). Die Phönizier 
betrieben einen schwunghaften Landhandel von Tyrus, Sidon, 
Joppe und von dem Hafen Ezeon- Gaber am roten Meere aus 
über Jerusalem, Samaria, Damaskus, Palmyra (Tadmor) und 
Tapsacus nach Babylon und Ninive. Desgleichen führten 
sie einen ausgedehnten Seehandel nach den Inseln des Mittel- 
meeres, besonders nach Griechenland (cf. Odysseos 1. 15, 414 f.), 
sogar bis nach Ithaka in die Heimat und das Vaterhaus des 
grossen Dulders Odysseus (1. c. v. 481: der Hirt Eumaios). 
Selbst nach Kleinasien kamen sie in das Lager der Griechen 
vor Troja. (Cf . Iliados 1. 23, 733 flf. : ein kunstreich gearbeiteter 
silberner Becher.) 

Wenn wir nun erwägen, dass Tobias die Markteinkäufe 
für den königlichen Hof (dTopacTTri?) zu besorgen hatte, so war 
er schon durch seine Stellung in die Mitte des grossartigen 
Handelsverkehrs der Riesenstadt Ninive versetzt und hatte 
somit die günstige Gelegenheit, den Auftrag des Erzengels 
Raphael allseitig zu erfüllen. (Cf. 1. Tobiae c. 12, 30—22.) Vgl. 
S. 200. 

Zudem liebten es die griechischen Dichter ohnehin sehr, 
die Himmlischen als Verkündiger des göttlichen Willens auf 
Erden erscheinen zu lassen. Z. B.: Hermes (Odysseos 1. 1., 38, 
84; I.V., 28 sq.); auch Pallas Athene (1. c. 1. I., 96 sq.; usf.). 
Es kann daher nicht als allzu kühn erscheinen, wenn wir in 
der Erzählung des 3. Buches der Odyssee, Vers 366 und fol- 
gende, den Widerhall jenes biblischen Ereignisses bei Tobias 
aus Assyrien im klassischen Hellas vernehmen. Denn unsere 
Auffassung widerspricht weder der Zeitenfolge, noch schliesst 
sie die Möglichkeit einer Übertragung nach Griechenland aus. 
Überdies stimmen sogar die beiden Referate inhaltlich voll- 
kommen überein. 

Homer lässt (1. c. 1. III., 366 sq.) den jungen Telemach, 
den Sohn des Odysseus, in Begleitung der Pallas Athene eine 
Reise machen. Dieselbe erschien in der Gestalt des weisen 
Mentors, welcher als treuer Verwalter im Hause des Odysseus 
bekannt war. (Cf. Odysseos 1. IL, 225.) Die Reise ging zu 
den Kaukonen, um eine grosse und alte Schuld einsuf ordern: 
ganz wie bei Tobias. Die Kaukonen, ein altes pelasgisches 
(phönizisch-semitisches) Volk, bewohnten zuerst das ganze west- 



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liehe Küstenland, vom Rande Arkadiens an. Sie werden aber 
in geschichtlicher Zeit nur noch in Triphylia, dem südlichen 
Teile von Elis, nachgewiesen. 

NOv dtctp TioiGev [xeiä KauKUiva^ ^eTa9u^ou? 
€T|n', fvOa XP€iö^ Moi öcpeWeiai, oute veov ye 
o\)h' öXiTOV. ax) b^ toOtov, dtrei t^ov ikcto boi^a 

7T€|il|iOV CTUV biq)pUJ T€ Kttl uiei' ktX. 

„Nun aber morgen früh zu den grossgesinnten Kaukonen 
Zt'ehn will ich, um die Schuld, die weder neu noch gering ist, 
Einsumehn, Doch diesen, den Gastfreund deines Palastes, 
Send' im Wagen, vom Sohne begleitet usf." 

Hieran lässt sich das Wort des Telemach (1. Odysseos 
1. II., 372) anschliessend. Gdpaei |Liai' • inA oötoi fiveu Geoö fibe T€ 
ßouXri* yyHabe Mut, denn nicht ohne Gott ist dieser Rat!'* 

Stellen wir nun zum Schlüsse die Vergleichungspunkte 
zusammen, so ergibt sich folgende Übersicht: 

1. Tobias und Telemach reisen in Begleitung von himm- 
lischen Führern. (L. Tobiae c. 5, 5; Odysseos l. II., 286 sq.; 
III., 366 sq.) 

2. Dieselben stellen sich in der Person von bekannten 
Hausfreunden vor, welchen man unbedingtes Vertrauen schenken 
kann. („Tobit" c. 5, 13 sq. LXX.; Odysseos 1. II., 267 sq.) 

3. Die Reise hat den Zweck, eine alte und grosse Schuld 
einzufordern. (L. Tobiae c. 5, 2 sq.; Odysseos 1. III., 367.) . 

4. Dieses Geschäft wird von den Himmelsboten persönlich 
erledigt. (L. Tobiae c. 9, 6 sq.; Odysseos 1. III., 366 sq.) 

5. Die himmlischen Führer geben sich zu erkennen; ihr 
Verschwinden wird mit tiefer Ehrfurcht und Staunen wahr- 
genommen. Danksagung und Lobpreis bilden den Schluss. 
(Cf. 1. Tobiae c. 12, 6—22; Odysseos 1. III., 371—385.) 

Der Erzengel Raphael sprach zu Tobias und seiner 
Familie: „Durch den Willen Gottes war ich bei euch, jetzt 
aber ist es Zeit, dass ich zurückkehre zu dem, welcher mich 
gesandt hat . . ." Nachdem er dieses gesagt hatte, ward er 
vor ihren Blicken entrückt . . . Hierauf priesen sie Gott drei 
Stunden lang, hingestreckt auf ihr Angesicht. 

Also redete Zeus glutäugige Tochter, und schwebte 
Plötzlich ein Adler empor : da erstaunte die ganze Versammlung. 
Wundernd stand auch der Greis, da seine Augen es sahen, 



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— 212 — 

Fasste Telemachos' Hand und sprach die freundlichen Worte : 
„Lieber! Ich hoffe, du wirst nicht mutlos werden, noch kraftlos, 
Denn es begleiten dich schon als Jüngling waltende Götter. 
Siehe, kein anderer war's der himmelbewohnenden Götter, 
Als des allmächtigen Zeus siegprangende Tochter Athene, 
Die auch deinen Vater vor allen Achäern geehrt hat! 
Herrscherin, sei uns gnädig und krön' uns mit glänzendem 

Ruhme: 
Mich und meine Kinder und meine teure Genossin!'* 
Also sprach er flehend: es hörte ihn Pallas Athene. 

Da gemäss dem ganzen Zusammenhange unserer voraus- 
gehenden Darstellung (vgl. hierzu Seite 209) jenes wunder- 
bare Ereignis in der Familie des Tobias den Zweck hatte, 
weithin unter den Menschen bekannt zu werden ; so können wir 
in den fast gleichlautenden Erzählungen bei Homer und der Bibel 
eine stoff'liche Verwandtschaft, also Kategorie I., annehmen. 

11. Achior, das Haupt der Ammoniter. 

Die heilige Schrift bezeugt an vielen Stellen i) die Tat- 
sache, dass die heidnischen Bewohner Asiens den Schick- 
salen des Volkes Israel : seinem Blühen , Gedeihen und 
Sinken, eine grosse Aufmerksamkeit geschenkt haben. Das 
Buch Josua c. 9, 3 f., berichtet folgendes: Die Bewohner von 
Gabaon, einer Stadt der Heväer, nur wenige Stunden von Jeru- 
salem entfernt und späterdem Stamme Benjamin zugeteilt, kamen 
zu Josua in das Lager zu Galgal und sprachen zu ihm und 
zugleich zu ganz Israel: „Wir kommen von fernem Lande, mit 
dem Wunsche, Frieden mit euch zu schliessen. Denn uns, 
deinen Dienern^ ist bekannt geworden, dass der Herr, dein Gott, 
dem Moses, seinem Diener, verheissen hat, euch das ganze 
Land zu geben, und alle seine Bewohner zu vertilgen. (Cf. 1. 
Deuteronomii c. 31, 3 f.) Darum fürchteten wir uns sehr und 
waren besorgt für unser Leben; gedrängt durch die Furcht 
vor euch, fassten wir jenen Entschluss." — Ein Denkmal an 
die Siege Josuas im Lande Chanaan wurde noch im 6, Jahr- 
hundert unserer christlichen Zeitrechnung auf dem Kriegszuge 
des byzantinischen Feldherrn Belisar gegen die Vandalen in 

^) Vgl. besonders 1. I. Esdrae, c. 4 — c. 7. 

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— 213 — 

Nordafrika vorgefunden. Der wissenschaftliche Begleiter des- 
selben, Procopius nämlich, berichtet in seinem Werke „De Bello 
Vandalico" (über den Krieg gegen die Vandalen) 1. II., c. 10: 
„In der numidischen Stadt Tigisis befinden sich noch (a. 534) 
zwei steinerne Säulen, auf welchen mit phönizischen Buch- 
staben folgende Inschrift eingegraben ist: „Wir sind diejenigen, 
welche vor Josua, dem Sohne des Nun, dem Eroberer, fliehen 
mussten!" 

Als unter dem Hohenpriester Heli die Arche des Bundes 
in das Lager der Israeliten gebracht w^urde, riefen die feind- 
liehen Philister: ^Venit Dens in castral^ „Vae nobis! quis 
nos salvabit de manu Deorum istorum sublimium? Hi sunt Dii, 
qui Aegyptum percusserunt omni plaga in deserto!" (Cf. 1. I. 
Regum c. 4, 7 sq.) — ^^Gott ist in das Lager gekommen! 
Wehe uns! Wer wird uns retten aus der Hand jener er- 
habenen Götter? Das sind die Götter, welche einst Ägypten 
schlugen mit jeglicher Plage in der Wüste!" (Die 10 Strafen 
über Ägypten und der Untergang Pharaos im Roten Meere: 
1500 vor Christi Geburt.) Als aber zur Züchtigung Israels 
sein Heiligtum in die Hände der Philister gefallen war, Hessen 
dieselben die Bundeslade im ganzen Lande herumführen 
(eine Art Fronleichnamsprozession im Alten Testamente, nach 
S. Thomas von Aquino). Der Herr aber strafte die Heiden 
mit grosser Bedrängnis, so dass die Akkaroniter schrien: 
„Adduxerunt ad nos Arcam Dei Israel, ut interficiat nos et 
populum nostrum!" (1. c. c. 5, 9 sq.). „Sie haben die Bundes- 
lade des Gottes Israels zu uns gebracht, damit er uns zugrunde 
richte und unser Volk I*^ — Daher kamen sie auf den Rat ihrer 
Priester überein, die Arche des Bundes wieder an Israel zurück- 
zusenden (a. 1130 a. Chr.). Sie sagten nämlich: ^Dabitis Dco 
Israel gloriam! Si forte relevet manum suam a vobis et a 
diis vestris et a terra vestra, Quare aggravatis corda vestra 
sicut aggravavit Aegyptus et Pharao cor suum? Nonne post- 
quam percussus est (decem illis plagis) tunc remisit eos et 
abierunt!" (1. c. c. 6, 5 sq.). ^Gehet doch dem Gotte Israels 
die Ehre! Dass er etwa seine Hand wieder aufhebe von euch, 
von eueren Göttern und von euerem Lande ! Warum verhärtet 
ihr euere Herzen, so wie einst Pharao und Ägypten sich ver- 
härtet haben?! Hat nicht Pharao, als er (von Gott durch jene 



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— 214 — 

10 Plagen) geschlagen war, das Volk Israel entlassen, und sie 
zogen weg!" 

Wir sehen hieraus, dass die Kunde von dem besonderen 
Schutze Gottes über die Israeliten und dem grossen Strafgerichte 
über ihre Dränger nach ca. 400 Jahren (1500—1130 a. Chr.) 
im Morgenlande noch nicht erloschen war. 

Diese Tatsache wird durch die nachfolgende Geschichte 
bestätigt, welche 500 Jahre später sich ereignet hat. Als näm- 
lich ca. 654 a. Chr. Manasses, der König von Juda, als Gefange- 
ner in Babylon weilte, unternahm im Auftrage des Königs 
Nabuchodonosor der Feldherr Holofernes einen Kriegszug gegen 
die westlichen und südlichen Grenzländer, von Ninive ausgehend. 
Auch Judäa war bedroht, denn sein Gebiet war ohne Herrscher. 
Alle V^ölker Palästinas beeilten sich nun, dem siegreichen 
Holofernes freiwillig Tribut zu geben. Die Juden allein weiger- 
ten sich. Hierüber erzürnt, fragte der Befehlshaber die Fürsten 
von Moab und Ammon, welcher Art denn jenes Volk sei, wel- 
ches sich ihm zu widersetzen wage. Achtor, das Haupt der 
Ammoniter, erwiderte ihm mit einer ausführlichen Darlegung 
der ganBcn Geschichte Israels, Wir wollen dieselbe hier unver- 
kürzt mitteilen, um darzutun, welche grosse Bedeutung das 
jüdische Volk bereits unter „allen Söhnen des Ostens" (1. lob. 
c. 1, 3) gewonnen hatte, so dass auch die Heiden sich ein- 
gehend mit den Geschicken desselben beschäftigten. 

„Achior dux omnium filiorum Ammon respondit: Populus 
iste ex progenie Chaldaeorum est (ex civitate Ur Chaldaeorum 
oriundus est). Hie primum in Mesopotamia habitavit, quoniam 
noluerunt sequi deos patrum suorum, qui erant in terra Chaldaeo- 
rum. Deserentes igitur caeremonias patrum suorum, quae in 
multidine deorum erant, unum Deum Coeli coluerunt, qui etiam 
praecepit eis, ut exirent inde et habitarent in Charan (Chanaan). 
Quumque operuisset omnem terram fames, descenderunt in 
Aegyptum, ibique per quadringentos annos sie multiplicati sunt, 
ut exercitus eorum non posset dinumerari. Quumque gravaret 
eos rex Aegypti atque in aedificationibus urbium suarum in luto 
et latere subiugasset eos, ad Dominum suum clamaverunt, qui 
totam terram Aegypti plagis variis percussit (1500 a. Chr. n.) 
Quumque Aegyptii eos a se eiecissent, et plaga ab eis cessasset, 
et iterum eos capere vellent et ad serviti'um suum revocare, 



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- 215 - 

fugientibus iis Deus Coeli mare aperuit, ita ut hinc inde aquae 
quasi tnurus solidarentur, et isti pedc sicco fundum maris peram- 
bulando transirent. In quo loco quum innumerabilis Aegyptio- 
rum exercitus eos persequeretur, ita aquis coopertus est, ut non 
remaneret vel unus, qui factum posteris nuntiaret. Egressi vero 
mare rubrum, deserta Sinai montis occupaverunt, in quibus nun- 
quam homo habitare potuit vel filius hominis requievit. lUic 
fontes amari obdulcati sunt eis ad bibendum et per annos qua- 
draginta annonam de coelo consecuti sunt (manna). Ubicunque 
ingressi sunt sine arcu et sagitta, et absque scuto et gladio, 
Deus eorum pugnavit pro eis et vicit. Et non fuit qui insul- 
taret populo isto nisi quando recessit a cultu Domini Dei sui. 
Quotiescumque autem praeter ipsum Deum suum, alterum colue- 
runt, dati sunt in praedam et in gladium et in opprobrium. 
Quotiescunque autem poenituerunt, se recessisse a cultura Dei 
sui, dedit eis Deus Coeli virtutem restistendi. Denique Chana- 
naeum regem et Jebusaeum et Pherezaeum et Hethaeum et 
Hevaeum et Amorrhaeum et omnes potentes in Hesebon prostra- 
verunt, et terras eorum et civitates eorum ipsi possederunt. Et 
usque dum non peccarent in conspectu Dei sui, erant cum illis 
bona. Deus enim illorum odit iniquitatem. Nam etiam ante 
hos amnos quum recessissent a via, quam dederat illis Deus, ut 
ambularent in ea, exterminati sunt proeliis a multis nationibus 
et plurimi eorum captivi abducti sunt in terram non suam (A. 722 
in Assyriam a Salamanassare rege, qui etiam Manassen regem 
captivum abduxit). Nuper autem reversi ad Dominum Deum 
suum, ex dispersione qua dispersi fuerant, adunati sunt, et ascen- 
derunt in montana haec omnia, et iterum possident Jerusalem^ 
tibi sunt Sancta eorum.^ L.Judith e.V., 1 — 24. 

Achior^ der Führer aller Söhne Ammons, erwiderte: 
Dieses Volk ist aus dem Stamme der Chaldäer (insofern als 
Abraham zu Ur in Chaldäa geboren wurde und von da nach 
Chanaan übersiedelte: Genesis c. 11, 28 bis c. 12, 6). Es nahm 
zuerst Wohnung in Mesapotamien, weil sie nicht folgen w^oUten 
den Göttern ihrer Väter, welche im Lande der Chaldäer waren. 
Sie verliessen daher die Religionsgebräuche ihrer Väter, welche 
in der Vielheit der Götter bestanden. Sie dienten dem Einen 
Gotte des Himmels, w^elcher ihnen auch gebot, von da weg- 
zuziehen und Wohnung zu nehmen in Charan (Chanaan). Und 



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— 2l6 — 

als Hunger das ganze Land bedrückte, zogen sie (unter Jakob 
und Joseph) hinab nach Ägypten und vermehrten sich daselbst 
innerhalb 400 Jahren dergestalt, dass ihre Heerschar nicht mehr 
gezählt werden konnte. (Cf. Genesis c. 42, 2; c. 46, 6; Exodi c. 1, 7; 
c. 12, 40.) Als nun der König von Ägypten sie hart hielt, und 
sie bei den Bauten seiner Städte mit Lehm und Ziegelsteinen 
belastete, da riefen sie zu ihrem Herrn, und dieser schlug das 
ganze Land Ägypten mit verschiedenen Plagen. (L. Exodi 
5—13.) Nachdem hierauf die Ägypter sie von sich ausgestossen 
hatten und die Plage von ihnen abliess, sie aber dieselben 
wieder in ihre Dienstbarkeit zurückführen wollten, da eröffnete 
für sie, welche flohen, der Gott des Himmels das Meer, so 
dass hüben und drüben die Gewässer wie eine Mauer sich 
festigten und sie, auf dem trockenen Boden des Meeres schreitend, 
hinüberzogen. 

Als nun dahin ein unzähliges Heer der Ägyptier sie ver- 
folgte, wurde dieses so von den Wassern bedeckt, dass nicht 
ein einziger übrig blieb, welcher die Begebenheit den Nach- 
kommen berichten konnte. (Cf. 1. Exodi c. 14 — 16.) Heraus- 
gegangen aber aus dem Roten Meere, lagerten sie in der Wüste 
des Berges Sinai, in welcher nie ein Mensch wohnen konnte, 
noch ein Menschenkind sich aufhielt. Daselbst wurden bittere 
Quellen für sie süss zum Trinken; 40 Jahre hindurch erhielten 
sie Speise vom Himmel (das Manna; cf. 1. Exodi c. 16, 15). 

Überall zogen sie ein ohne Pfeil und Bogen, ohne Schild 
und Schwert; denn ihr Gott kämpfte für sie und siegte! Und 
nie war jemand, welcher dieses Volk bedrücken konnte, ausser 
wenn es den Dienst seines Herrn und Gottes verliess. Sooft 
sie nämlich ausser diesem ihrem Gotte einen anderen verehrten, 
wurden sie der Plünderung, dem Schwerte und dem Gespötte 
preisgegeben. Sooft sie jedoch bereuten y den Dienst ihres 
Gottes verlassen su haben, verlieh ihnen der Herr des Himmels 
Kraft 3um Wiederstande. (Cf. 1. Judicum.) Hierauf haben 
sie den König der Chananäer, Jebusäer, Pherezäer, Hethäer, 
Heväer, Amorrhäer und alle Machthaber in Hesebon geschlagen 
und deren Länder und Städte in Besitz genommen. (Cf. 1. Jo- 
sues c. 9 — 12.) Und solange sie nicht sündigten vor dem 
Angesichte ihres Gottes, war das Glück mit ihnen, weil ihr 
Gott das Unrecht hasst. Denn selbst vor diesen Jahren, als 



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sie von dem Wege abgewichen waren, welche ihnen Gott an- 
gewiesen hatte, dass sie darauf wandeln sollten, wurden sie 
durch viele Völker im Kriege geschlagen, und die meisten 
von ihnen wurden als Gefangene in ein Land geführt, das nicht 
das ihrige war. (Cf. 1.4. regum c. 17, 6 sq.: Salamanassar, 
König von Assyrien erstürmte Samaria und versetzte die 
Bewohner des Reiches Israel in die Provinzen Hala und Habor, 
an die Flüsse von Gozan und in die Städte der Meder a. 723 
a. Chr. Bald darauf liess derselbe durch seinen Feldherrn Thartan 
den Manasses, König in Jerusalem, mit vielen Angehörigen 
des Reiches Juda nach Babylon deportieren. (Cf. 1. II. Parali- 
pomenon c. 33, 11 sq.) 

Neuerdings aber wandten sie sich wieder zu dem Herrn, 
ihrem Gotte („Das Gebet des Manasses": 1. IL Paralip. c. 33, 
12—14 und 18), und sie wurden aus ihrer Zerstreuung ver- 
einigt und zogen hin auf dieses ganze Gebirge und öesüsen 
wieder Jerusalem, wo auch ihre Heiligtümer sind. Manchen 
Gefangenen wurde nämlich A'^or dem Könige Manasses die 
Rückkehr nach Palästina gestattet. (Cf. 1. c. c. 33, 13 sq.) 

Die kurz hierauf erfolgte Heldentat der Judith rettete 
sofort das Land aus der Gewalt seiner Feinde und bestätigte 
das Vertrauen des weisen Achior. Dieser schloss sich nun 
dem Judentume vollkommen an: er verliess die Gebräuche des 
Heidentums und glaubte an den wahren Gott. Nach Über- 
nahme der Beschneidung wurde er und seine Nachkommen- 
schaft in die Gemeinde Israel aufgenommen. (Cf. 1. Judith 
c. 14,6.) Zu Judith aber sprach er: ^Gesegnet seist Du von 
Deinem Gott im ganzen Wohnsitze Jakobs; weil bei jedem 
Volke y welches Deinen Namen hört^ wird Israels Gott um 
Deinetwillen gepriesen werden!^ 

Die hier erzählte Begebenheit sowie die nachfolgenden 
Ereignisse im Alten Testamente hatten den Zw^eck, Jehova 
und sein auserwähltes Volk überallhin bekannt werden zu 
lassen und so die Wege für den kommenden Erlöser der Welt 
vorzubereiten. „Parate viam Domini!" „Bereitet den Weg des 
Herrn!" (Cf. Evgl. S. Marci c. 1, 2 sq.) So lautet der Mahn- 
ruf S. Johannes des Täufers an seine Zeitgenossen. 

Im vorstehenden Abschnitte haben wir ein positives Zeug- 
nis aus dem Heidentume selbst dafür, dass die Geschichte 



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- 2l8 - 

Israels ein Gegenstand sorgfältiger Beobachtung seitens der 
heidnischen Völker war. Nichts entging denselben: weder 
das Glück noch das Unglück, weder die Tugenden noch die 
Laster des auserwählten Volkes blieben ihnen verborgen. 
Selbst die Sünden dieses Volkes konnten sie nicht irre machen; 
denn sie wussten aus Erfahrung, dass auf einen Abfall von 
Jehova jedesmal die verdiente Züchtigung nachfolgte, und dass 
dieselben dann immer wieder auf den guten Weg zurückkehrten. 

Zwar hat man in der neueren Zeit einige chronologische 
Schwierigkeiten gegen das Buch Judith erhoben, doch lösen 
sich dieselben allmählich auf. Die Zustände, welche das Buch 
voraussetzt, treffen für die Zeit des Königs Manasse tatsäch- 
lich zu. Was das Buch von assyrischen Sitten und Gebräuchen 
erzählt, wird durch assyrische Inschriften bestätigt; so z. B., dass 
der König von Assyrien sich Herr des Erdkreises nennt; dass 
er die Götter der ganzen Erde auszurotten (und ihre Tempel 
zu zerstören) sucht, und für sich göttliche Verehrung in An- 
spruch nimmt ; ferner, was über die Kriegsführung der Assyrier, 
ihre Grausamkeit und Ausschweifungen gesagt wird. Ins- 
besondere sind die politischen Verhältnisse so weit aufgeklärt, 
dass die im Buche Judith erzählten Ereignisse als möglich, ja 
mit Wahrscheinlichkeit in die Profangeschichte eingereiht werden 
können. Assyrien befindet sich auf dem Höhepunkt seiner 
Macht, aber die Vasallenstaaten tragen nur unwillig sein Joch, 
und es bedarf wiederholter Kriegszüge, um die abtrünnigen 
Völker wieder zum Gehorsam zurückzuführen. Solche Heeres- 
züge haben unter Assurbanipal (griechisch: Sardanapal), 668 
bis 626, gegen Syrien, Kleinasien, Palästina und Ägypten statt- 
gefunden. Somit ist hier unter „Nabuchodonosor" Assurbani- 
pal, der letzte grosse König von Assyrien^ zu verstehen. Auch 
wird statt „Arphaxad" Arbaces, statt „Mambre" Abrona, statt 
„Saphet" Japhet zu lesen sein. (Versehen der Abschreiber.) 
Andere Schwierigkeiten werden durch die eifrig betriebene 
Textkritik und die Ergebnisse der profangeschichtlichen Quellen 
wohl noch erledigt werden. 

So viel ist sicher: die Geschichtlichkeit des Buches Judith 
kann mit guten Gründen wissenschaftlich verteidigt werden. 

Vergleiche Prof. Selbst „Handbuch zur biblischen Ge- 
schichte«, I. Teil, S. 873 f. Freiburg im Breisgau, bei Herder 1906. 



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12. Der Prophet Daniel in Babylon. 

Professor Dr. Carl Budde aus Marburg sagte in einem 
Vortrage, welchen er im Jahre 1903 zu Giessen über „das alte 
Testament und die Ausgrabungen" gehalten hat: „So unab- 
sehbar auch das babylonische Schrifttum anschwillt, der fest- 
geschlossenen Reihe unserer Propheten und selbst der Geschichts- 
erMhlung unserer ältesten Quellen hat es nichts Ebenbürtiges 
an die Seite zu stellen" (Rede S. 39). Ausser den Israeliten 
besass kein Volk der alten Welt die Institution der Propheten. 
Diese waren Zeugen Jehovas und die Organe zur Verkündi- 
gung seines hl. Willens an die Menschen. Ihrem Berufe ge- 
mäss standen sie nicht bloss dem auserwählten Volke belehrend, 
ermahnend, tröstend und strafend bei, sondern sie verkündigten 
auch den mächtigen Weltreichen der Heiden in Babylonien, 
Assyrien, Ägypten und Phönizien, also gerade den einfluss- 
reichsten Nationen des Morgenlandes, die drohenden Straf- 
gerichte Gottes, und bewiesen durch das Eintreff'en derselben 
die Wahrheit ihrer Sendung. Damit griffen sie unmittelbar in 
den Gang der Weltgeschichte ein und überzeugten die Heiden, 
dass ihre Götter nichtig, Jehova aber allein der wahre Gott 
des Himmels und der Erde sein müsse. So ward (vgl. oben 
S. 208) der Prophet Jonas, selbst gegen seinen Willen, in die 
heidnische Riesenstadt Ninive (ca. 828 v. Christus) gesandt, 
um schon im hohen Altertume von dem allumfassenden Er- 
lösungswillen Gottes daselbst Zeugnis abzulegen (1. Jonae c. 3, 
Evgl. S. Lucae c. 11,32). Auch das Verweilen des Tobias in 
Mnive (Assyrien), v. 722—650, diente zu einem ähnlichen 
Zwecke. ^Dic Völker werden ihre Götzen verlassen und nach 
Jerusalem kommen und Wohnung nehmen daselbst. Und alle 
Könige werden sich dort erfreuen und anbeten den König 
Israels!'' (L.Tobiaec. 14,8—10; cf.Evgl. S. Matthaeic.2, 1—12). 
Die Kreuzesinschrift lautet: ^Jesus, König der Juden^. (Evgl. 
S. Matthaei c. 27, 37; cf. 1. Jeremiae c. 1, 4 — 7). Am deutlichsten 
aber zeigt sich diese Bestimmung bei dem Propheten Daniel, 
welcher, aus königlicher Familie entsprossen und mit hervor- 
ragenden Geistesgaben ausgerüstet, während der höchsten 
Blüte Babylons am Hofe des Königs Nabuchodonosor (a. 606) 
erzogen wurde und teils unter diesem Könige teils unter Cyrus 



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— 2±0 — 



und Darius Hystaspes die ersten Staatsämter bekleidete (1. Da- 
nielis c. 2, 48 und c. 6, 1 — 4). Er hat also während der grössten 
Veränderungen in Asien fast drei Menschenalter hindurch in 
steter Verbindung mit den Machthabem jener Zeit gelebt und 
kann ebenso ein Prophet der Heiden wie der Juden genannt 
werden. Den Bewohnern Babylons lieferte er den Beweis von 
der Nichtigkeit ihrer Götzen durch Zerstörung des Beltempels 
und Tötung des göttlich verehrten Drachens (1. c. c. 14). Und 
die Allmacht Jehovas zeigte sich an ihm vor allem Volke, 
als er zweimal aus Todesgefahr in der Löwengrube wunder- 
bar errettet wurde (1. c. c. 6 und c. 14). Auch seine Genossen: 
Ananias, Azarias und Misael (Michael) standen ihm beiden 
mutig bei, indem sie die Anbetung der goldenen Bildsäule in 
der Ebene von Dura standhaft verweigerten und den Namen 
Gottes priesen in den Flammen des himmelhoch auflodernden 
Glutofens i). 

Der Herr aber sandte seinen Engel, welcher die Flammen 
auseinanderschlug und die mutigen Jünglinge unverletzt bewahrte. 
Dies bewog den staunenden König zu folgendem Ausspruche: 
„Gepriesen sei ihr Gott, welcher seinen Engel gesandt und 
seine Diener gerettet hat. Diese haben an ihn geglaubt und 
das Gebot des Königs beiseite gesetzt, und ihren Leib (den 
Flammen) preisgegeben, um nicht zu dienen und anzubeten 
vor irgend einem anderen, als vor ihrem Gott! Und von mir 
wird daher dieser Befehl erteilt (1. c. c. 3, 95 sq.), dass jedes 
Volk, Stamm oder Zunge, welche eine Lästerung aussprechen 
würde gegen den Gott des Sidrach, Misag und Abdenago, 
(chaldäische Namen der drei Jünglinge) zugrunde gehen soll; 
und das Haus eines solchen werde zerstört ; denn nicht ist ein 
anderer Gott, welcher so zu retten vermag!'^ 



1) S. Hieronymus spricht die Vermutung aus, der König Nebukad- 
nezar (von dessen Stolze der Prophet Isaias c. 14, 4 — 14 geweissagt hat) 
sei im Übermute so weit gegangen, dass er zur Verherrlichung seiner 
Grosstaten das eigene Bild als Denkmal habe aufstellen lassen und göttliche 
Ehren für sich verlangte, wofür er sieben Zeiten lang bis zur Lebensweise 
der Tiere erniedrigt wurde (1. c. c. 4, 20 sq.). Nach der Septuaginta und 
The(^doretus von Cyrus fand die Errichtung der Bildsäule im t8. Regie- 
rungsjahre des Kcmigs statt. 



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Ähnlich sprachen sich auch Cyrus und Darius Hystaspes 
aus, als Daniel in der Löwengrube unverletzt blieb. (L. c. c. 
8,25—28 und c. 14, 42 sq.) Hierauf wurde Daniel mit seinen 
Genossen von den Königen Babylons hoch geehrt und gefeiert.. 
(L. c. c. 2, 48—50 und c. 3, 97.) Die Folgen dieser Ereignisse 
hatten jedenfalls eine weittragende Bedeutung ; denn wir können 
mit Sicherheit annehmen, * dass das Gesetz und die Religions- 
gebräuche der Juden durch jene wunderbaren Tatsachen in 
dem 120 Provinzen zählenden babylonischen Reiche eine erhöhte 
Beachtung fanden und dazu noch staatlichen Schutz erhielten. 
Es ist daher wie eine Krönung seiner ganzen Wirksamkeit zu 
bezeichnen, als Daniel, der Staatsmann und Prophet, von Jehovah 
zum Träger einer über die heidnischen Völker erweiterten 
Offenbarung berufen wurde. Durch sie schaute er im Geiste 
das Aufblühen des Reiches Gottes mit seiner Beziehung zu der 
Entwicklung der vier grossen Weltreiche: der assyrisch-baby- 
lonischen, persischen, mazedonisch-griechischen und römischen 
Weltmonarchie voraus. Dahin gehört das Gesicht des Nabucho- 
dönosor von der Statue aus Gold, Silber, Erz und Ton (ibidem 
c. 2), sowie die Erklärung desselben durch Daniel; ebenso die 
Vision von dem Charakter dieser vier Weltreiche im Bilde. einer 
Löwin mit Adlersflügeln, eines grimmigen Bären, eines geflügelten 
Parders und eines Tieres (Wölfin) mit eisjernen Zähnen. (Ibid. 
c. 7, 1, sq.) „Noch ist die Zeit der vierten Weltherrschaft (der 
römischen Wölfin mit eisernem Gebiss) nicht vorüber: da tritt 
im prophetischen Schauen Einer auf in den Wolken des Himmels ; 
er ist wie eines Menschen Sohn („Sohn der Jungfrau unter dem' 
Bilde jenes Steines, welcher sich vom Berge loslöste ohne 
Menschenhand, 1. c. c. 2, 34—36), und es ward ihm von Gott 
gegeben: Gewalt, Ehre und Reich, dass alle Völker, Menschen 
und Zungen ihm dienen werden. Seine Macht ist ewig, und 
sein Königreich hat kein Ende,^ (L. c. c. 7, 13 — 15 und Evgl. 
S. Lucae c. 1,33.) Zur Ergänzung dieser erhabenen Mitteilung 
dient noch das Geheimnis der siebenzig Jahrwochen, welches der 
Erzengel Gabriel dem hochbegnadigten Propheten als Zeitr 
bestimmung für die Ankunft des Messias enthüllte (1. c. c. 8, 16 sq:). 
In diesen welthistorischen Kundgebungen sehen wir die Propbetie 
des alten Bundes auf ihrem Höhepunkt angelangt. Daniel, fast' ein 
zweiter Moses, wird im entzückenden Schauen gleichsam auf den 

Kröll, Die Be/iehunjfen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. l6 



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— iä2 — . 

Berg Nebo versetzt: die Ereignisse der kommenden Jahrhun- 
derte bis zur Ankunft des Herrn und Heilandes ziehen wie 
flüchtige Wolkengebilde an seinem Geistesauge vorüber, und 
auf seinen Lippen schwebt der Ausspruch: „Ich bitte, Herr, 
sende, den Du senden wirst!" (L. Exodi c. 4,31.) 

Aber noch eine eminent praktische Tätigkeit war dem 
Staatsmanne unter den Propheten beschieden. Als das „goldene 
Reich" des Nabuchodonosor mit der „silbernen Herrschaft" 
unter Cyrus (a. 538) sich vertauschte, da, so berichtet Flavius 
Josephus (Antiquitatum 1. XI, c. 1, n. 1 und 2), legte Daniel 
dem Sieger über Babylon die Weissagung vor, welche der 
Prophet Isaias schon 210 Jahre vorher verkündigt hatte: „So 
spricht der Herr zu meinem Gesalbten Cyrus, dessen Rechte 
ich erfasst halte, dass ich niederwerfe vor seinem Angesichte 
Völker, und ihm zuwende den Rücken der Könige und vor 
ihm offene Türen und Tore, dass sie sich nicht verschliessen. 
Ich werde vor dir einhergehen und die Hohen der Erde demü- 
tigen; ich werde eherne Pforten sprengen und eiserne Riegel 
zerbrechen. Um Jakob, meines Knechtes willen, und um Israel, 
meines Erwählten, da rief ich dich bei deinem Namen und du 
kanntest mich (noch) nicht!" (L. Isaiae prophetae c. 45, 1 — 5.) 
Nachdem Cyrus die auf seinen Namen lautende Äusserung des 
göttlichen Willens gelesen hatte, wurde er hocherfreut und 
gab den Befehl, die gefangenen Juden in ihr Heimatland zu- 
rückreisen und ihren Tempel in Jerusalem wieder aufbauen 
zu lassen. So beginnt nämhch das I. Buch Esdras: „Im ersten 
Jahre des Cyrus, des Königs der Perser, erweckte Gott, der 
Herr, dessen Geist, und dieser liess ergehen den Ausruf, auch 
durch Ausschreiben im gansen Reiche, und sagen : Das spricht 
Cyrus, der König der Perser: alle Reiche der Erde hat mir 
der Herr, der Gott des Himmels^ gegeben; und dieser hat mir 
befohlen, dass ich ihm ein Haus baue zu Jerusalem, welches 
in Judäa liegt. Wer nun ist unter euch von seinem ganzen 
Volke? — Sein Gott sei mit ihm, und er ziehe hin nach Jeru- 
salem, und baue das Haus des Herrn, des Gottes Israel!" 
(L. I. Esdrae c. 1, 1—4.) 

Cyrus hatte durch die Eroberung Babylons (538) die Vor- 
macht in Asien errungen, und seine Herrschaft erstreckte sich 
vom Mittelländischen Meere bis zum fernen Indien : Kleinasien, 



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Babylonien, Assyrien, Medien und Persien waren ihm untertänig. 
Die 12 Stämme der Israeliten wohnten nun in jenen Länder- 
massen als Gefangene zerstreut umher. Das Reich Israel 
(10 Stämme) war schon im Jahre 722 unter dem Könige Sal- 
manassar aufgelöst und seine Bewohner nach Assyrien und 
Medien: in die Provinzen Hala und Habor, an die Flüsse von 
Gozan, sowie in die Städte Ninive, Rages und Ekbatana weg- 
geführt worden (cf. 4. Regum c. 17, 6 sq.). Sie hatten sich 
also mit ihren hl. Büchern seit ungefähr 200 Jahren (722—536) 
in diesen Gegenden niedergelassen, als Cyrus auch für sie die 
Erlaubnis bekannt geben Hess, nach Jerusalem zu reisen und 
Judäa in Besitz zu nehmen. Das Reich Juda (2 Stämme) hatte 
im Jahre 606 bezw. 588 sera Ende gefunden, und die Juden 
trauerten an den Flüssen Babylons in dem 70jährigen Exile. 
Als nun das Edikt des Cyrus ihnen die Freiheit verschaffte, 
rüsteten sie sich zur Heimkehr in das Land ihrer Väter. 
Dem ersten Zuge jedoch von Babylon nach Jerusalem schlössen 
sich verhältnismässig nur wenige aus Assyrien und Medien 
an, weil dieselben schon so lange Zeit in jenen Ländern an- 
sässig waren. Viele sind sogar für immer dort zurückgeblieben. 
Vgl. Buch Esther c. 2, 5 und c. 3, 8. Ihre Anzahl und ihr 
Besitz muss gross gewesen sein, denn Aman versprach aus 
dem Eigentum derselben der königlichen Schatzkammer an 
10 000 Talente = zirka 52 Millionen Mark liefern zu können. 
Ibid. V. 9. — Ernst von Lasaulx (1805—1861) stellt in seiner 
Abhandlung „über die Bücher des Königs Numa Pompilius** 
die Behauptung auf, dass die Mosaischen Satzungen, welche 
sich so zahlreich in der Gesetzgebung des Numa vorfinden, 
mit einer Auswanderung israelitischer Familien nach Westen 
(Italien) im Zusammenhange stehen. So viel ist jedenfalls 
gewiss, dass durch den langjährigen Aufenthalt der Bewohner 
des Reiches Israel und Juda in Babylon, Ekbatana, Ninive, 
Susa, Persepolis u. a., besonders aber durch die grossartige 
Wirksamkeit des Propheten Daniel die Kunde von den hl. Schriften 
des auserwählten Volkes wie in den Kreisen der morgenländischen 
Fürsten und Regenten, so auch in den zahlreichen und aus- 
gedehnten Provinzen ihrer Königreiche und zinspflichtigen 
Länder sich unzweifelhaft verbreitete. (Cf. 1, Tobiae c. 13, 4; 
c. 14, 8—10; 1. Esther c. 2. 17; c. 8, 9—17.) Besondere Erwäh- 



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nung verdient der Königliche Schutzbrief für die Juden an die 
Völker und Nationen in den 127 Provinzen des grossen per- 
sischen Reiches, welches von Indien bis nach Äthiopien sich 
erstreckte. (L. c. c. 8, 8 — 15.) Der Erfolg desselben wird 
mit folgenden Worten geschildert: „Bei allen Völkern nun in 
Städten und Ländern, wohin immer die Befehle des Königs 
gelangten, war erstaunlicher Jubel, Gelage, Nachtmahle und 
ein festlicher Tag, so zwar, dass viele von den anderen Völkern 
und Sekten sich der Religion und den Gebräuchen der Juden 
anschlössen (als Proselyten: II. L Esdrae c. 10^ 28)^), Denn 
alle hatte eine grosse Furcht vor dem Namen der Juden befallen." 
(Cf. 1. Exodi c. 15, 16; 1. Deuteronomii c. 11, 25; Psalmi 104, 38.) 
Als nun 200 Jahre später Alexander der Grosse auf seinem 
Siegeszuge in Palästina (332) auch nach Jerusalem kam, ging 
ihm der Hohepriester Jaddus mit seinen dienenden Leviten 
im feierlichen Aufzuge entgegen und seigte ihm die Weis- 
sagungen des Propheten Daniel, dass ein Hellene das grosse 
Reich der Perser zerstören werde. (L. Danielis c. 8, 3—8; 
besonders Vers 21; ebenso c. 11, 3 f.) „Der Ziegenbock, den 
du geschaut, und welcher den Widder (das persische Reich) 
niederstossen wird, das ist der König der Griechen^ und das 
grosse Horny welches sich zwischen seinen Augen befindet^ dies 
bedeutet den ersten König,^ Als Alexander diesen Spruch 
Daniels vernommen hatte, erkannte er in sich selbst den Vor- 
herverkündigten und erwies dem Hohenpriester und seiner 
Umgebung die grösste Auszeichnung. Er gestattete den Juden 
zu Jerusalem, Babylon und Medien, nach ihrem Gesetze zu 
leben; auch lud er ihre junge Mannschaft ein, in seine Armee 
(Heer) einzutreten, in welcher sie ebenfalls freie Religionsübung 
haben sollten. Nicht wenige folgten seiner Aufforderung. Hier- 
auf begab sich Alexander mit seinem Heere nach Ägypten 
zu dem Tempel des Jupiter Ammon, welcher mit einem Widder- 
kopfe und gewundenen Hörnern dargestellt wird. (Cf. Ovidii 
Metam. 1. V, 327 sq.) Seit jener Zeit Hess er sich stets gehörnt 
abbilden. (L. Danielis c. 8, 21; Flavii Josephi „Antiquitatum" 



^) Ol irpoaTrop€uö|bi€voi dirö Xauiv Tfjq th^ irpö^ v6|uiov toO Geou: alle, 
welche sich abgesondert hatten von den Völkern der Länder zum Gesetze 
Gottes = „Proselyten". IL Esdrae 10,28. 



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— 2^5 — 

1. 11, c. 8, n. 5. und Curtii Rufi „De rebus gestis Alexandri 
Magni" 1. 4, c. 7, n. 5.) 

Alexander vollsog in Judäa eine unblutige Eroberung: 
nach seiner Anwesenheit hielt griechische Sprache und Bildung 
daselbst ihren Einzug und gewann immer grössere Bedeutung 
im Lande. Für das Volk Gottes bedeutete dies einen neuen 
Abschnitt in der Geschichte der Offenbarung. Der Gesichts- 
kreis wurde auf einmal um vieles erweitert: die Berührung 
mit fremden Völkern mehrte sich und, was die Hauptsache 
war, die leiste Phase des antiken Heidentums stand der Mosaischen 
Religion gegenüber, — Fünfzig Jahre später wurde die hl. Schrift 
in der zu Ehren des grossen Alexander (332) erbauten Hafen- 
stadt am Nile unter dem Könige Ptolemaeus Philadelphus 
(284—246) in die griechische Sprache übersetzt und hierdurch 
der ganzen gebildeten Heidenwelt zugänglich gemacht. In der 
Zeit von 166 — 160 v. Chr. schlössen die Israeliten auf den Rat 
ihres Führers Judas Machabäus sogar Bündnisse mit den Römern 
und Griechen. (Cf. 1. I. Machabaeorum c. 8; c. 12, 1 f.; c. 14, 
16 und 24; 1. II. Machab. c. 11, 34 f.: Bündnisse zu Rom. L.I. 
Machab. c. 12, 2 und 5—24; c. 14, 16 und 19-24: Bündnisse 
zu Sparta. — Vgl. Seite 131—136.) 

Unter dem Hohenpriester Simon, 140 a. Chr., erhielten 
die Juden den wichtigen Hafen zu Joppe y^und damit einen 
Zugang SU den Inseln des Meeres^ (1. 1. Machab. c. 14, 5), In 
dem Herbste desselben Jahres erteilten ihnen die Römer durch 
den Konsul Lucius (Calpurnius Piso) einen Schutsbrief an die 
Könige und Fürsten von Griechenland, den Inseln und von 
Kleinasien (1. I. Machab. c. 15, 16—24). Im Jahre 63 a. Chr. 
wurde Judäa unter dem Konsul Cnejus Pompejus zu einer 
römischen Provinz. (Ciceronis orationis pro Flacco c. 28; 
Flavii Josephi „Antiquitatum" 1. 14, c. 4, n 1 sq.) Julius Cäsar, 
dictator perpetüus, gab ihnen 45 a. Chr. die Erlaubnis, sich im 
ganzen römischen Reiche eigene Synagogen zu bauen und 
nach ihrem Gesetze ungehindert zu leben. (Flavii Josephi 
„Antiquitatum" 1. 14, c. 10, n. 7 und 8.) Darum konnte Philo 
Alexandrinus bereits vom Jahre 40 a. Chr. berichten, dass es 
kein Land auf der weiten Erde gebe, in welchem nicht eine 
zahlreiche Judenkolonie (mit ihren hl. BücberU; Sabbatvorlesun- 
gen und Religionsgebräuchen) zu finden sei. -^ (Philonis „Lega- 



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— i26 — 

tionis ad Cajum" § 36.) — Während der Regierung des Kaisers 
Augustus: am 25. Dezember 752 nach Erbauung der Stadt 
Rom, wurde Christus, unser Herr, zu Bethlehem geboren i). 
Die 70 Jahrwochen des Propheten Daniel gingen su Ende. 
Der Heiland begann seine erlösende Tätigkeit mit den 
Worten: „Erfüllt ist die Zeit! Genaht ist das Reich Gottes! 
Tuet Busse und glaubet an das Evangelium!" (Cf. Evgl. S. Marci 
c. I, 15.) 

Erfüllt war die Erwartung aller Völker: Genesis c. 49, 10. 
Die bisherigen Führungen Gottes in Israels Erziehung, Geschichte, 
Vorbild und Weissagung standen unmittelbar an der Grenze 
ihrer Vollendung und ihres Abschlusses: Anfang der christ- 
lichen Epoche, — (Cf. 1. Danielis c. 9, 24; Ep. ad Hebraeos 
c. 1, 2.) 

Flavius Josephus „Contra Apionem" 1. II, c. 39 sagt von 
seiner Zeit (37—101 nach Christus): „Es gibt keine hellenische 
oder barbarische Stadt, und kein Volk (auf der ganzen Erde), 
wo nicht die bei uns übliche Sabbatfeier sich Bahn gebrochen 
hätte, wo nicht das Fasten, Lichterbrennen und viele unserer 
Speisegesetze beobachtet würden." Cf. „Actus Apostolorum" 
c. II., 5—13; c. XV., V. 21. 

Von dem ersten christlichen Pßngstfeste su Jerusalem (am 
15. oder 24. Mai a. 33 nach Christus) berichtet die Apostel- 
geschichte: „Es waren aber in Jerusalem Juden wohnhaft, 
gottesfürchtige Männer aus jeglichem Volke, das unter dem 
Himmel ist." L. c. c. II, v. 5. In den folgenden Versen 7—13 
werden die einzelnen Länder angeführt, aus welchen die Juden 
und Proselyten derselben stammten, die in der Fremde 
geboren und erzogen, für ihre spätere Lebenszeit aber Jerusalem 
sich zum Aufenthalte erwählt hatten, oder als Festespilger 
(V. 10) dort verweilten. Vers 9 bezeichnet die Landstriche 
des Ostens: Medien, Parthien und Persien, in welchen seit der 
Wegführung durch Salmanassar (a. 722 vor Christus) zahlreiche 
Judenfamilien ansässig waren. (Vgl. Seite 223, f.) Ihre Mission 
daselbst nahm ein Ende; die Rückkehr stand ihnen frei und 
so kamen sie denn „aus Andacht" nach Jerusalem, um hier in 



1) Nach der gewöhnlichen Annahme. Vgl. Riess „Das Geburtsjahr 
Christi", S. 66 f., sowie „Nochmals das Geburtsjahr Christi", S. 59 f. 



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der Fülle der Zeiten des messianischen Heiles teilhaftig zu 
werden: S. Petrus verkündigte ihnen Christum^ den Herrn! 
Cf. L. Tobiae c. 14, 8—10: „Die Völker werden ihre Götzen 
verlassen und nach Jerusalem kommen und Wohnung nehmen 
daselbst . . . Dort werden sie anbeten den König Israels.'' 

Der Apostel Jacobus erwähnte auf der Kirchenversammlung 
zu Jerusalem (ca. 52 nach Christus): „Moses hat von alten- 
Zeiten her in den einzelnen Städten seine Verkündiger in den 
Synagogen, wo er jeden Sabbat vorgelesen wird." L.c.c.l5.,v.21, 
Zu diesen Vorlesungen gehörte auch die Verheissung: „Einen 
Propheten wie mich, wird der Herr, dein Gott, aus deinem 
Volke und aus deinen Brüdern erwecken : Ihn sollst du hören /^ 
Libri Deuteronomii c. 18, 15. Vgl. Evgl. S. Matthaei c. 17, 5; 
S. Johannis c. 5, 46—48; c. 6, 14; Actus Apostolorum c. 3, 22; 
c. 7, 37. 

Faktisch bildete die Synagoge im römischen Reiche den 
Übergang zur Predigt an die Heiden. Cf. Assemani „Biblio- 
thecae Orientalis" I, Pag. 10, 267, 218. sq., Romae 1719, 1728. 

Zur ganzen Abhandlung ist zu vergleichen das Breve 
Plus X. „Quoniam in re biblica", vom 27. März 1906, welches, 
mit Bezugnahme auf die Encyclica Leo XIII. „Providentissimus 
Deus", d. d. 18. November 1893 „de Studiis Scripturae Sacrae", 
über das Studium der hl. Schriften sich eingehend verbreitet . . : 

„Im alten Testamente sind, unter Berücksichtigung der Er- 
gebnisse der neueren Forschungen, namentlich die Chronologie 
und die Beziehungen des hebräischen Volkes zu den anderen 
orientalischen Völkerschaften zu behandeln." 



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Verzeichnis der Literatur. 



1. Apuleji „De Mundo" (irepi köcJihou). Editio Hildebrand, Leipzig 1874. 

2. Aristotelis „Metaphysica". Edit. Dübner, Paris 1874. 

3. Assemani „Bibliotheca Orientalis". Romae 17 19, 1728. 

4. Augustini „De civitate Dei", Edit. Dombart, II. Auflage Leipzig 1894. 

5. Commentar dazu d. a. 161 3, Paris, Augustiner- Kloster. 

6. Bardenhewer „Patrologie". Freiburg, Br., 1894. 

7. Biblia Hebraica edidit Hahn, Leipzig 1899. 

8. Vetus Testamentum secundum LXX. interpretes edidit V. Loch, 
Regensburg 1899. 

9. Deutsche Übersetzung der hl. Schrift des alten und neuen Testamentes 
von Loch und Reischl. Neue illustrierte Ausgabe. Regensburg 1885. 

10. Petri Bembi, Cardinalis, Opera. Argentorati 1609. 

11. Ciceronis Opera edidit Goethe* Lipsiae 1887. 

12. Caesaris „De Bello Gallico". . Ed. XV. Dittenberger. Berlin 1890. 

13. Demosthenis „Oratio de Corona" edit. Harless. Leipzig 18 14. 

14. Diodori Siculi „Bibliotheca Historica" edit. Eichstaedt, Halis Saxo- 
num 1800. 

15. Drerup „Homer'^. München 1903. 

16. Eüsebii „Historia Ecclesiastica" ed. Laemmer, Schaffhusiae 1862. 

1 7. Eschejaburg „Handbuch der klassischen Liteiratur" Berlin und Stettin 1 787. 

18. Flavii Josephi Opera Omnia ed. Franz Oberthür. Lipsiae 1785. 

19. Gockel „Das Gewitter". Cöln bei Bachern 1905. 

20. Gerhard Voss „De theologia gentili". Amstelodami 1641. 

21. Hagelüken „Die katholische Kirche als Erhalterin und Beförderin von 
Kunst und Wissenschaft". Erfurt 1869. 

22. Hinrichs „Griechische Epigraphik". Berlin 1894. 

23. Herodoti Opera. Ed. Abicht. Leipzig 1876. 

24. Hoberg „Die Genesis nach dem Literal-Sinne erklärt". Freiburg, 
Breisgau, 1899. 

25. Hoberg „Moses und der Pentateuch" 1 905. „Die Pentateuch-Frage" 1 907. 

26. Homeri Opera. Ed. Ameis. Leipzig 1900. 
2']. Horatii Opera. Edit. Müller. Lipsiae 1873. 

28. Hülsen, Ch., „Die Ausgrabungen auf dem Forum Romanum" (1002 bis 
1904). Rom, Verlag von Loescher & Co., 1905. 

29. „Jerusalem" von Graf Wartensleben. Berlin 1875. 



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— 229 — 

30. Koenig „Die babylonische Gefangenschaft der Bibel". Stuttgart 1905. 

31. Livii Opera edidit Müller. Leipzig 1888. 

32. Leonhardi Coquaei, Ord. S. Augustini, „De civitate Dei" Parisiis 161 3. 
Folio. 

33. Lucani „Pharsalia". London 1900. 

34. Mureti Opera cum brevi annotatione Davidis Ruhnkenii. Lipsiae 1834. 

35. Nepotis Comelii Opera edidit Lupus. Berlin 1879. 

36. Nikel „Die Genesis und die Keilschrift- Forschung". Freiburg, Breis- 
gau, 1903. 

37. Opera von Alexander Baumgartner S. J., „Die klassische Literatur 
des Altertums". Freiburg, Br., 1902. 

38. Ovidii Opera edidit Polle. Leipzig 1892. 

39. Pastor, Ludwig, „Leo X." (151 3 — 1521). Geschichte der Päpste seit 
dem Ausgange des Mittelalters. Freiburg, Br., bei Herder 1906. 

40. Piazza, Dalla, Abbate „Latina Dantis Aligherii Operum Versio" edidit 
Carolus Witte. Lipsiae 1848. 

41. Piatonis Opera Editio Societatis Bipontianae 1784. 

42. Plutarchi Opera edidit Bemardakis. Lipsiae 1902. 

43. Quintiliani Opera edidit Friege. New- York 1889. 

44. Reinhard „Emmanuel" und „Odysseus im Lichte christlicher Anschau- 
ung". Heiligenstadt 1899, 1892. 

45. Sadoleti, Cardinalis, Opera edidit Constantius. Romae 1749. 

46. Seitz, Anton, „Christuszeugnisse aus dem klassischen Altertum". 
Cöln a. Rh. bei Bachem 1906. 

47. Sittl „Geschichte der griechischen Literatur". Leipzig 1884. 

48. Stiefelhagen „Spuren der Uroffenbarung". Eupen 1857. 

49. Symons „Germanische Heldensage". Strassburg 1898. 

50. Taciti Opera edidit Wolff. Beriin 1886. 

51. Terret „Plomere". Paris 1899. 

52. Thiele, Richard, „Das Forum Romanum" mit besonderer Berücksich- 
tigung der neuesten Ausgrabungen (1889 — 1903). Erfurt 1904. 

53. Tranquilli Suetonii Opera edidit Roth. Lipsiae 1893. 

54. Virgilii Opera edidit Ladewig. Berlin 1884. 

55. Wilamowitz-Moellendorf „Philologische Untersuchungen". Berlin 1884. 

56. Weiss, Hugo, „Moses und seine Zeit". Freiburg, Br., bei Herder 1885. 

57. Xenophontis Opera, edidit Sorof. Leipzig 1897, bei Teubner. 

58. York (New-) Klassiker- Ausgaben 1889. 

59. Zamagna, Bemardo, „Hesiodi Opera Omnia". Parma 1785. 

60. Zapletal, P. Ordinis Praedicatorum „Der Schöpfungsbericht". Freiburg 
Schweiz, 1902. 

Andere benützte Quellen sind im Buche selbst noch angegeben. 



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Corrigenda. 



Zur Ergänzung von Seite 119, 122 und 125 dienen nachstehende 
Verse aus Hesiod, welche eine Beschreibung des Tartarus als Kerker der 
Giganten enthalten: 

Heic terra et pontus coelumque et Tartarus ipse 
Accipiunt fontes extremaque littora signant 
Squallida, dis invisa; ingens patet intus hiatus, 
Nee quisquam subiens toto contingeret anno 
Suppositi pedibus sola fundi huc actus et illuc 
Vertici praecipiti ac violento turbinis aestu: 
Monstrum horrendum, ipsis visu admirabile divis 
Scilicet est: noctis sedes obscura soporae 
Caligatque umbris nimbisque furentibus horret. 
Dort hat die Erde und auch des Tartarus nächtliche Tiefe, 
Das unfreundliche Meer und der stemenbekleidete Himmel — 
Alles hat da nach der Reihe Beginnen zugleich und Vollendung: 
Widrig mit Moder bedeckt, selbst ewigen Göttern ein Abscheu! 
Tief ist der Schlund; ja selbst nicht in einem vollendeten Jahre 
Könnte, wer hier eindringt, mit Füssen den Boden gewinnen. 
Wohl aber hierhin und dorthin verschlüge die tosende Windsbraut 
Ihn mit Gewalt; denn furchtbar ist selbst unsterblichen Göttern 
Solch ein Schauder: der einsamen Nacht abschreckende Wohnung 
Steht allda, umzogen von dunkelblauem Gewölke. 



Sei 



ite IX, Zeile 7 von unten lies: H. Grimme. 

17, „ 12 von oben, lies: coelum für coleum. 

20, „ 9 von oben, lies: Editio, besser als Edito, sc. libro. 

87, „ 20 von oben, lies: \'va |laiv, statt Vva n€v. 

89, „ 8 von unten, lies: Anaximenes. 

93, „ 8 von oben, lies: ligavit, besser als ligarit. 

118, „ 10 von oben, fehlt der Akzent: ^k(4öti|). 

121, „ 19 von oben, lies: virtutem. 

126, „ 4 von unten: elvoaCqpuXXov = ein Wort. 

162, „ 9 von unten, lies: Thermometer. 

168, „ 22 von oben, lies: consilium. 



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— 231 — 



Seite 170, Zeile 2 von oben, lies: juvent statt jurent. 
„ 178, „ 10 von unten, lies: Den Griechen usw. 
„ 193, „ 10 von unten, lies: die Bande seiner Begierden. 
„ 198, „ 15 von unten, lies: In diesen Schreiben. 
„ 205, „ 7 von oben, lies: (ca. 536 a. Chr.). 
„ 205, „ 14 von oben, lies: (224 — 187 a. Chr.). 
„ 206, „ 2 von unten (Text), lies: achtmonatUche Busse. 
„ 206, „ 10 von oben: Bibbia, besser als: Biblia. 

Das Wort: Jehovah wird teils mit h, teils ohne h am Schlüsse 
geschrieben. Beide Schreibweisen sind üblich. 

Andere kleinere Versehen wolle der gütige Leser selbst verbessern. 
Ratschläge imd sachliche Bemerkungen werden erbeten und mit 
Dank angenommen. 



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Inhalts- Verzeichnis, 



Seite : 

Vorwort zur I. Auflage V — VII 

Vorwort zur IL Auflage VIII— XX 

Erster, grundlegender oder allgemeiner Teil. 

Die Uroffenbarung i — 6 

Die Entstehung des Heidentums 7 — 23 

Die Beschäftigung der Theologie mit der klassischen Literatur 

der Vorzeit ist uralt 24 — 54 

Die hl. Schrift, zunächst die 5 Bücher Moses (Pentateuch), 

gehört zu den vorzüglichsten und ältesten Büchern 

der Welt 55—02 

Zweiter, oder spezieller Teil. 

1. Die Schöpfung 83 — 114 

2. Der Engel Sturz 114 — 131 

3. Die Sündflut 131 — 148 

4. Der Himmelsbesuch bei Abraham und Sara 148 — 158 

5. Josuas langer Tag 158 — 166 

6. Der Raub der Sabinerinnen verglichen mit einem Vorgange 

aus der Zeit der Richter 167 — 173 

7. Seila, die Tochter des Jephte und Iphigenia, die Tochter 

des Agamemnon 173 — 189 

8. Samson und Herkules 189 — 197 

9. Der Uriasbrief des Königs David 197 — 206 

IG. Die Reise des Erzengels Raphael mit Tobias .... 207 — 212 

11. Achior das Haupt der Ammoniter 212 — 218 

12. Der Prophet Daniel in Babylon 219 — 22^ 

Verzeichnis der Literatur 228 — 229 

Corrigenda (Verbesserungen) . 230 — 231 



Alle Rechte vorbehalten. 



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Die Beziehungen des klassischen 
Altertums zu den hl. Schriften 

des Alten und Neuen Testamentes. 



Für die Freunde der antiken Literatur 
aus den Quellen dargestellt 



Michael KröU, 

Pfarrer a. D. zu HOnningen a. Rh. 



Zweiter Band. 



Zweite, vollständig umgearbeitete und vermehrte Auflage. 



BonO; 

Carl Georgi, Universitäts-Buchdruckerei und Verlag 

1910. 



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J.-Nr. 3254. 

Imprimi permittitur. 
Cöln, am 6. Juli 1909. 

Das Erzbischöfliche General- Vikariat : 
(L. t S.) Dr. Kreutzwald. 



Alle Rechte vorbehalten. 



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Dem Andenken 

der verstorbenen Hoch würdigen Herren Dechanten: 

Pfarrer Jacob Gomm 

(Waldbreitbach-Cunostein-Engers) 
und 

Pfarrer Heinrich Kroll 

(Kyllburg- Wittlich) 

in treuer Verehrung gewidmet. 



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Vorwort zum IL Bande. 



„De Sion exibit lex et verbum Domini de Jerusalem!" 
„Von Sion aus wird das Gesetz ergehen, und des Herrn Wort 
von Jerusalem!** Isaiae Pr. 3, 2. „Non erit alia lex Romae, 
alia Athenis, alia nunc, alia posthac, sed et omnes gentes et 
omni tempore una lex sempitema et immutabilis contineblt, 
unusque erit communis quasi magister et imperator omnium: 
Dens!'' Ciceronis „de re publica" 1. III, 22. Und nicht mehr 
wird ein anderes Gesetz in Rom herrschen, ein anderes zu 
Athen, ein anderes für die Gegenwart, ein anderes für die 
Zukunft, sondern alle Völker zu allen Zeiten wird ein Gesetz 
ewig und unwandelbar umfangen, und es wird über alle gleich- 
sam nur ein Lehrer und Herrscher walten: Gott! (Cfr. Evangelii 
S. Matthaei c. 28, 19 und 20.) 

Das Volk Israel war von Gott berufen, Träger seiner 
Offenbarung zu sein, dieselbe rein zu bewahren, das Reich der 
Gnade anzubahnen und später alle Völker mit dem messia- 
nischen Segen zu beglücken. (Genesis 12, 18; Actus Aposto- 
lorum 3, 25.) Für diese welthistorische Aufgabe hatte Jehovah 
seinem Volke auch einen vorzüglich geeigneten Wohnplatz 
verliehen: das Land Kanaan oder Palästina. Sowohl dessen 
geographische Lage als auch seine physische Beschaffenheit 
(1. Exodi 3, 8) lassen die höhere Bestimmung sehr leicht er- 
kennen. Eine gewisse Abgeschlossenheit neben der Möglichkeit 
eines leichten Verkehres mit dem Auslande war im gelobten 
Lande auf eine wunderbare Weise vorhanden. Die Abge- 
schlossenheit Kanaans liegt in seiner geographischen Läge, in 
der Begrenzung durch dsis Mittelländische Meer, die Sand wüsten 
und hohe Gebirge. Ein leichter Verkehr aber ist durch die 
nahe Verbindung mit Ägypten und Phöniziea sowie durch 
beide auch mit Griechenland und Italien an die Hand gegeben. 



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VI 

Solange nun das Volk Israel eine gewisse Anhänglichkeit 
an den Götzendienst zeigte und flir seine höheren Zwecke 
nicht genügend eingeschult war, kam ihm seine strenge Ab 
sonderung und Abgeschlossenheit von den übrigen Völkern 
sehr zugute. Wohl waren noch Kanaaniter im Lande ansässig, 
drohten oftmals im Osten die Ammoniter und Moabiter, im 
Süden die Edomiter upd Amalekiter, im Südwesten die Philister 
und im Nordosten die Syrer; jedoch waren dieselben alle zu- 
sammen nicht stark genug, das Volk Gottes zu überwältigen. 
Sie dienten vielinehr in der Hand Gottes nur als Zuchtrute, 
um den Ungehorsam der Juden und ihren Abfall von Jehovah 
zu bestrafen. Wäre ab^r Israel schon in früheren Zeiten seinem 
Bestandes in das Völkergewoge hineingedrängt worden, wiej 
später nach der babylonischen Gefangenschaft (606—535 
a. Chr.), so hätte es wahrscheinlich seinen Glauben an den 
einen und wahren Gott verloren. So aber schirmten es natür- 
liche Grenzen vor dem gefährlichen Einfluss aus Ägypten und 
Babylon her. Im Norden war es durch den Libanon abge- 
schlossen, im Osten und Süden durch die syrisch arabische 
Wüste und im Westen durch das hafenlose Meer. — Jedoch 
andererseits forderte der Beruf des auserwählten Volkes eine 
Welistellung inmitten der Kulturvölker des Altertums. Es 
hatte nämlich die Verheissung erhalten, dass es ausbrechen 
werde zur Rechten und zur Linken, seine Name Israel solle 
die Heiden beerben, und die Reiche, welche ihm nicht dienen 
würden, müssten zugrunde gehen und vernichtet werden. 
(L. Deuteronomii c. 26, 17—19.) Gott, der Herr, sagt (Ezechielis 
Prephi., c. 5, 5; c. 38, 12): „Ich habe Jerusalem mitten unter die 
Völker gesetzt und Länder rings um sie her/' und „Israel 
wohnt auf dem Nabel (d. i. auf der Mitte) der Erde/' (Cfr. 
Odysseos 1. I, 50.) So nach dem hebräischen Texte. — 
Palaestina bildete eine natürliche Brücke zwischen den drei 
Weltteilen: Asien, Afrika und Europa. Gottes Vorsehung 
leitete die Geschichte derart, dass die Israeliten der Reihe 
nach mit allen Kulturvölkern der antiken Welt in Berührung 
kamen : mit den Ägyptern, Phöniziern, Assyriern, Babyloniern, 
Medem, Persern, Griechen und Römern. Unweit Kanaans war 
die Landenge gelegen, welche damals Asien mit Afrika ver- 
band (jetzt: Kanal von Suez), und von da ist Ägypten nicht 



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mehr fem. Durch das Mittelmeer hin konnte man nach drei 
Weltteilen zur See reisen. Nordwestlich wohnten die see- 
kundigen und handelstüchtigen Phönizier. Das Rote Meer 
öffnete im Süden den Weg nach dem glücklichen Arabien, 
nach Indien, nach Afrika (Ophir, das heutige Sofala) und rund 
um Afrika hin nach Spanien (Tartessus = Tharsis). Nach dem 
Nordosten gingen die Karawanen in die Euphrat- und Tigris- 
länder, und nach dem Osten in den Persischen Meerbusen. 
So war allen Mächten der damals bekannten Welt ein Zugartg 
zu dem wahren Lichte und der wahren Religion geöffnet. 
Auch konnten die Juden, besonders nach ihrer Auswanderung 
nach Assyrien und Babylon sowie später unter Alexander dem 
Grossen nach Griechenland und Italien, den Namen Jehosrahs 
und die messianischen Weissagungen weithin bekannt machen, 
und so dem Evangelium die Wege bereiten. (1. Tobiae c. 13, 4.) 
Vgl. „Die Altertümer der Bibel« von Prof. B. Schaefer §3. 

Zudem waren die Erlebnisse derselben und ihre Helden- 
taten so ausserordentliche, dass sie die Aufmerksamkeit der 
Nachbarländer in hohem Grade erregen mussten. Der phäno- 
menalen Gesetzgebung auf Sinai folgte die Errichtung des 
nationalen Heiligtums, die Konstituierung des Gottesdienstes, 
die Begründung des Priestertums und die Einrichtung des 
Königstums von Gottes Gnaden. Unter dem Segensstrahle 
dieses wunderbaren Fünfgestirns, aufgegangen an dem sonnen- 
losenHimmel einer gottes- undgnadenarmenHeidenwelt,erkämpf te 
sich Israel seine Landesmacht in langjährigem Ringen mit den 
streitbaren Söhnen Kanaans und krönte sein Siegeswerk mit 
den stolzen Zinnen Sions. Und eine solche Menschenherrlich- 
keit sollte nicht die Grenznachbarn und die Inseln des Meeres 
in ihren Kreis gebannt, nicht den Gigantenschatten auf ganz 
Hellas und selbst Italien geworfen haben? Alles dies vollzog 
sich zu einer Zeit, in welcher anderwärts die Grosstat völlig 
ruhte. Wo kreuzten denn die Völkerpfade im grauen Alter- 
tume, wenn nicht in Kanaan? 

Von Sidon und Tyrus bis zu den Säulen des Herkules 
(Gibraltar und Ceutä) und den Silbergruben von Tartessus 
(Tharsis in Spanien) diente Insel für Insel zum Stapelplatze 
der ältesten Schützlinge Mercurs, welche für ihre Handels- 
fahrten durch Signale und Leuchtfeuer selbst den Nächtkurs 



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vm 

sich gesichert hatten. Nicht eine Urstätte findet sich in 
Griechenland, welche keine Spuren zeigte von Phöniziern. 
Wozu bedarf es noch der Namen : Orchomenos und Theben, 
.Tiryns, Argos und Mykene? Hatte doch das umsichtige 
Handelsvolk gerade an den böotischen, argolischen und lako- 
nischen Gestaden die Purpurschnecke vorgefunden, als die 
Ausbeute an den heimischen Gewässern der ausgedehnten 
Fabrikation nicht mehr gentigte. Andererseits stiess der 
israelitische Verkehrsweg unter dem Könige Salomo vom 
Roten Meere (Ezeon-Geber) über Jerusalem und Damaskus bis 
an den Euphrat (Tapsacus) direkt an die grosse ostasiatische 
Handelsstrasse 1). Die von David nämlich eingeleitete Blüten- 
periode des hebräischen Volkes erreichte unter Salomo ihren 
Höhepunkt. Eine bis zur Gegenwart erhaltene Überlieferung 
ist in gutem JRechte, wenn sie dem Könige Salomo das Prä- 
dikat „des Weisen" beilegte und seine Gestalt in Sage und 
Spruchdeutung häufig als Vorbild der Weisheit anwendete. 
Salomo stand zweifellos auf der Höhe der semitischen Kultur, 
Auch wenn wir von dem göttlich inspirierten Charakter seiner 
Schriften absehen, so dürfen wir doch die Behauptung auf- 
stellen, dass er die geistigen Errungenschaften der semitischen 
Kultur von den Grenzen Äthiopiens bis zu den Ostmarken 
Chaldaeas sein eigen nennen konnte. Der König, welcher 
jenen berühmten Tempel in Jerusalem baute, welcher am 
Rande der Wüste, an der Karawanenstrasse vom Roten Meere 
über Sion und Damaskus die Palmenstadt Palmyra schuf, 
dessen Schiflfe von dem Hafen Ezeon-Geber aus nach Tharsis 
und Ophir gingen, beherrschte das Wissen und künstlerische 
Können seiner Zeit in vollem Masse. 

Von ihm sagt die hl. Schrift: „Salomo ward erhaben über 
alle Könige an Reichtum und Herrlichkeit. Und alle Könige 
der Erde suchten das Antlits Salomos su sehen, und die Weis^ 
heit SU vernehmen, welche Gott in sein Hers gelegt hatte. Er 
besass auch die Herrschaft über alle Könige vom Strome 
Euphrat bis zum Lande der Philister und bis an die Grenzen 
von Ägypten. Und sie brachten ihm Geschenke: silberne und 
goldene Gefässe, Kleider und Waffen, Gewürze, Pferde und 



^) Vgl. ,,Hefcules redivivus" von Prof. Joseph Schreiner, Seite 24. 

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IX 

Maultiere, alle Jahre hindurch." (II. Paralipomenon c. 9, 21— 27 
sowie lU. Regum c. 4, 41.) 

Ausführlich wird daher beschrieben, wie Balkis, eine Königin 
im ferien Saba (Arabien), mit feierlichem Gepränge nach 
Jerusalem reiste, um die Weisheit Salomos zu hören: „Selbst 
die Königin von Saba, als sie Salomos Ruf hörte wegen des 
Namens des Herrn^ kam, um ihn auf die Probe zu stellen 
durcfti Rätsel. Und einziehend in Jerusulem nebst grossem 
Gefolge und Reichtum und Kamelen, welche Gewürze und un- 
zähliges Gold sowie kostbare Edelsteine trugen, kam sie zum 
Könige Salomon und sprach zu ihm alles, was sie in ihrem 
Herzen hatte. Und Salomon erklärte ihr alle Worte, welche 
sie vorlegte, und es war keine Frage, die dem Könige un- 
bekai^nt war, und welche er 'derselben nicht beantworten 
konnte. Als aber die Königin von Saba alle die Weisheit 
Salomons gewahrte, und das Haus, welches er gebaut, und 
die Opfer, welche er im Hause des Herrn darbrachte, da war 
sie aussef Fassung und sprach zum Könige: „Wahr ist das 
Gerücht, welches ich in meinem Lande gehört habe; grösser 
aber ist deine Weisheit und deine Werke, als der Ruf, den ich 
vernommen habe." „Gepriesen sei der Herr, dein Gott, welcher 
an Dir {sein) Wohlgefallen hat und dich auf Israels Thron 
setste; weil der Herr Israel allezeit liebt und dich sum Könige 
machte, damit Du übest Recht und Gerechtigkeit^ (III. Regum 
c. 10, 1-11.) 

Aus diesem Berichte geht zur Genüge hervor, dass in 
den Tagen des Königs Salomo (1015—975 a. Chr.) Jerusalem 
das Ziel der Wanderungen vieler Gebildeten jener Zeit war. 
Daselbst erhielten sie Kunde von dem Namen des Herrn, und 
sie lernten die Religion der Juden kennen. Mit Recht verkündigt 
deshalb der Prophet Isaias: „Und es wird der Berg des Hauses 
Gottes (in Sion) sich erheben über alle Hügel, und hinströmen 
werden zu ihm die Nationen. Und viele Völker werden zu 
ihm hingehen und sagen: Kommet und lasset uns hinangehen 
zum Berge des Herrn und zu dem Hause des Gottes Jacobs. Er 
wird uns lehren seine Wege, und wir wollen wandeln auf seinen 
Pfaden: denn von Sion aus geht das Gesets und des Herrn 
Wort von Jerusalem!'' (Isaiae prophetae II, 2 — 4.) 

Als nun in späterer Zeit die Herrlichkeit der Salomonischen 



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Regierung verschwunden und das ungeteilte Königreich in 
zwei sich bekämpfende Staaten geschieden war, da diente 
selbst eine schliessliche Wegftihrung derselben in die assyrische 
(a. 722) und babylonische (a. 606 a. Chr.) Gefangenschaft noch 
als Mittel der Vorsehung Gottes, das israelitische Volk seinem 
welthistorischen Berufe entgegenzuftihren. Es wurde Träger 
der Offenbarungen Gottes bis in das fernste Asien, selbt bis 
nach China hin. In dem Werke des chinesischen Plato : Laot- 
seu, welches den Titel „Tao-te-King" (liber de ratione et vir- 
tute: über Vernunft und Tugend) hat, findet sich folgende 
merkwürdige Stelle: „Wie eine welkende Pflanze nach dem 
Tau und Regen des Himmels sich sehnt, so verlangen die 
Völker nach einem Heiland und Erlöser." Hierin liegt ein 
Anklang an den Spruch des Propheten Isaias: „Rorate coeU 
desuper et nubes pluant justum: aperiatur terra et germinel 
Salvatorem!" (C. 45,8.) „Tauet, Himmel! aus der Höhe, und 
Wolken! regnet den Gerechten; auf tue sich die Erde und 
lasse erblühen den Heiland!" — Mit der Wegführung nach 
Assyrien und Babylon hing auch eine Auswanderung der 
Juden nach Ägypten zusammen, wo sie eine starke Kolonie 
bildeten. Als nun im sechsten Jahrhundert vor Christus 
Pythagoras, in den folgenden Plato, Aristoteles, Heka- 
taeus von Milet, Herodot, Archytas, ApoUonius von Rhodus, 
Diodorus von Sizilien, Strabo und noch andere nach dem 
Orient und besonders nach Ägypten sich begaben, um 
den Kreis ihres Wissens zu erweitern, da konnten die lange 
zuvor daselbst eingewanderten Juden mittelbar oder unmittel- 
bar auf jene wissensbegierigen Männer einwirken. Die 
Schriften derselben tragen auch unverkennbare Spuren davon 
an sich. Von Plato z. B. sagt S. Justinus („Cohortationis ad 
Graecos" n. 25), er habe in Ägypten vieles aus den Schriften 
des Moses und der Propheten gelernt. Er beweist dies sodann 
an mehreren Parallelstellen und bemerkt zu Piatons „Timaeus" 
c. 37, d.: hier werde Gott als tö öv „Der da ist" bezeichnet. 
Dies ist eine wörtliche Übersetzung von dem hebräischen 
Worte: r.'yr (1. Exodi III, 14). Solche bündige Ausdrucksweise 
habe Plato von Moses entlehnt ; aber scheuend den Giftbecher 
seines Meisters Socrates, habe er den Namen des Moses nicht 
genannt, sondern nur angedeutet. Dieser Ansicht sind auch 



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XI 

Theodoret, Clemens und Cyrillus von Alexandrien sowie andere. 
Clemens Alexandrinus stellt im ersten Buche seiner Stromata 
die Behauptung auf, in Ägypten sei lange Zeit vor der Ab- 
fassung der Septuaginta schon der Pentateuch (^die fünf Bücher 
Mosis") in die griechische Sprache übersetzt gewesen, so dass 
Plato sich die Kenntnis desselben habe verschaffen können. — 
Josephus Flavius erzählt in seinem ersten Buche contra Apionem 
c. 22, dass Aristoteles, ein Schüler des Plato, einst mit einem 
jüdischen Gelehrten zusammengekommen sei und mehr Weis- 
heit von diesem gelernt habe, als er demselben habe mitteilen 
können. Die Stelle lautet nach dem Berichte des Klearchus, 
welcher ein Schüler des Aristoteles war, wie folgt: „Ich kam 
einmal mit einem morgenländischen Philosophen zusammen 
(Aristoteles wird redend eingeführt), welcher seiner Abstam- 
mung nach ein Jude aus Coelesyrien war. Diese Männer 
leiten ihren Ursprung von den Indiern (Chaldaeern) ab und 
werden bei den Indiern „Kalanen", bei den Syriern aber 
„Juden" genannt, indem sie ihren Namen von der Heimat 
führen. Deis Land nämlich, welches sie bewohtien, heisst Judäa. 
Ihre Hauptstadt aber hat den schwer auszusprechenden Namen: 
Jerusalem. Dieser Gelehrte war aus den oberen Gegenden 
zur Meeresküste gekommen und sprach nicht nur griechisch 
sondern besass auch griechische Bildung. Zufällig verweilte 
ich damals in Asien und traf ihn in einer Hafenstadt mit noch 
anderen, welche Schüler der Philosophie waren, und suchte 
sie auf die Probe zu stellen. Aber da zeigte sich, dass 
jener, — sehr gewandt in der Unterredung mit gelehrten 
Männern, — uns bedeutend mehr bieten konnte, als wir dem- 
selben an Weisheit mitzuteilen vermochten." (De Somno 1. 1.) 
Der berühmte Geschichtschreiber Hekataeus von Milet 
(ca. 549—477 a. Chr.) hat uns eine wissenschaftliche Unter- 
haltung, welche er mit dem Hohenpriester Ezechias von Jeru- 
salem führte, in seinem Buche „Über die Juden" hinterlassen. 
„Dieser Hohepriester", sagt er, „war ein Mann von 66 Jahren 
und besass grosses Ansehen bei seinem Volke. Ihn zierte ein 
nicht gewöhnlicher Grad von Weisheit und Redekunst sowie 
eine umfassende Bildung. Obgleich er ein so hohes Amt be- 
kleidete, erwies er sich uns (Griechen) dennoch sehr gütig und 
erklärte uns in Gegenwart der Seinigen den ganzen Unter- 



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schied der Religionsanschauung zwischen Juden und Griechen, 
die Heimat der Juden, ihr Land und die bürgerliche Verfassung 
derselben, welche er aufgezeichnet hatte." Hekataeus rühmt 
femer den Gesetzeseifer der Juden, und dass sie bereit seien, 
lieber alles zu erdulden, als die väterlichen Satzungen zu 
übertreten. (Flavii Josephi „Contra Apionem" 1. I, c. 22.) 

Ein wie grosses Interesse man aber hatte, die Gesetze 
der Juden sich zu verschaffen und die Kenntnis derselben zu 
gewinnen, beweist die Gesandtschaft des Königs Ptolemaeus 
Philadelphus aus Ägypten an den Hohenpriester Eleazar (ca. 
280 a. Chr.), um die Übertragung der jüdischen Thora in die 
griechische Weltsprache zu veranlassen. (Flavii Josephi „ Antiqui- 
tatum" 1. XII, c. 2.) Nachdem diese vollzogen war, erhielt sie 
einen Ehrenplatz in der königlichen Bibliothek zu Alexandrien; 
auch wurden unzählige Abschriften davon verbreitet, welche das 
Verlangen aller Wissbegierigen erregten. — Im römischen 
Reiche sah sich die Obrigkeit durch die Klagen der Juden 
veranlasst, die hl. Bücher derselben durch ein Staatsgesetz 
in öffentlichen Schutz zu nehmen und dieselben vor Ent- 
wendung aus den Synagogen sicherzustellen. Der Wissens- 
durst der römischen und griechischen Schriftsteller ging näm- 
lich so weit, dass sie sich nicht scheuten, selbst auf unredliche 
Weise sich die Gesetze der Juden zu verschaffen. Ähnliche 
Vorfälle ereignen sich noch in der Gegenwart. Mitunter hört 
man davon, dass wertvolle Handschriften und seltene Bücher 
aus den öffentlichen Bibliotheken verschwinden, um in den 
Privatbesitz von Unberechtigten überzugehen. — Der Erlass 
des Imperators zu Rom hat folgenden Wortlaut: „Der Kaiser 
Augustus, Pontifex Maximus, mit Tribunengemalt , tut hiermit 
kund und su wissen: In Erwägung, dass das jüdische Volk 
nicht bloss in der gegenwärtigen Zeit, sondern auch schon 
früher, besonders zur Zeit meines dahingeschiedenen ( Adoptiv-) 
Vaters, des Imperator Caesar, dem römischen Volke stets seine 
Ergebenheit bewiesen hat^ so hat es mir und meinen ver- 
eideten Räten nach eingeholtem Gutachten des römischen 
Volkes gefallen, zu bestimmen, dass die Juden bei ihrem eigenen 
Gesetze und herkömmlichen Einrichtungen zu belassen sind, 
so wie es auch zur Zeit des Hohenpriesters Hyrkanus gehalten 
worden ist; dass ferner ihre Tempelgelder nicht angerührt 



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werden dürfen, sondern, dass dieselben ungeliindert • nach 
Jerusalem gesandt und an die dortige Ksisse abgeliefert werden 
können, und endlich, dass sie am Sabbat oder dem vorher- 
gehenden Rtisttage von der neunten Stunde an (nachmittags 
3 Uhr) nicht mehr zu gesetzlichen Verhandlungen herangezogen 
werden sollen. Wird jemand bei Entwendung ihrer heiligen 
Bücher oder Gelder aus dem Sabbathause oder Männersaale 
betroffen, so soll er als Tempelräuber behandelt und seine 
Güter als Eigentum des römischen Volkes erklärt, werden. 
Der mir abschriftlich eingehändigte Beschluss, welchen sie 
wegen meiner Milde gegen das ganze menschliche Geschlecht 
und in Anbetracht der Verdienste des C. Marcius Censorinus 
gefasst haben, soll zugleich mit dieser Verfügung in dem viel- 
besuchten Heiligtume, das sämtliche asiatische Gemeinden mir 
in Ancyra (Galatien; jetzt: Angora) geweiht haben, angeschlagen 
werden. Zuwiderhandlungen gegen diese Verfügung sind mit 
schweren Strafen su büssen/' (Flavii Josephi „Antiquitatum** 
1. 16, 6.) Zwar verletzte die Abgeschlossenheit der Juden den 
Stolz der wissenskundigen Griechen und der weltbeherrschen- 
den Römer; das hinderte dieselben jedoch nicht, den heiligen 
Schriften und Gebräuchen der Israeliten ihre Aufmerksamkeit 
zu schenken. So sagt z. B. Juvenal in seiner 14. Satire, 
Vers 96 fr.: 

^Quidams ortiti metuentem sabbata patrem, 
Nil praeter nubes et coeli numen adorant, 
Nee distare putant humana carne suillam, 
Qua pater abstinuit, mox et praeputia ponunt. 
Romanas autem soliti contemnere leges 
Judaicum ediscunt et servant et metuunt jus, 
Tradidit arcano quodcunque volumine Moyses." 
Manche haben zum Vater den Sabbathüter erhalten: 
Nichts als Wolken und Gottheit des Himmels beten sie an. 
Schweinefleisch ist gleich Menschenfleisch ihnen zuwider. 
Weil ihr Vater solches nicht isst ; bald nehmen sie auch die 

Beschneidung. 
Römische Satzungen zwar zu verachten sind sie gewöhnt; 
Jüdisches aber Gesets sie lernen, sie halten, sie fürchten, 
Das in uraltem Buche einst Moses hat überliefert. 

Nachdem wir dieses alles vorausgeschickt haben, wollen 



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XIV 

wir dlizu übergehen, eiiiige merkwürdige Sentenzen der 
griechischen und römischen Klassiker mit den Aussprüchen 
der lieiligen Schrift zu vergleichen und hierauf näher zu be- 
sprechen mit Rücksicht auf das Alter ihrer Entstehung, sowie 
ihrer inneren und äusseren Verwandtschaft. Bei dem Wissens- 
eifer nämlich der klassischen Schriftsteller des Altertums kann 
es nicht wundernehmen, dass sie auch die Weisheitssprüche 
der Bibel sich zu eigen mächten, welche ihnen durch die Neu- 
heit und Merkwürdigkeit des Inhaltes hierzu passend erschienen. 
Gelegenheit, dieselben kennen zu lernen war seit dem fünften 
Jahrhundert vor Christus schon verbanden. (Vgl. S. X fF,) 

Hönniugen (Rhein), am hl. Pfingstfeste, den 30. Mai 1909. 

Der Verfasser. 



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Aussprüche der hl. Schrift 
und der alten Klassiker. 

Vgl. I. Band Seite 83 flgd. 



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II. Aussprüche der hl. Schrift und der alten Klassiker. 



Willst Gutes du und Schönes schaffen, 
Das lebensvoll das Leben mehre, 
Musst du dich ernst zusammenraffen, 
Und darfst nicht scheun* der Arbeit Schwere. 
Da hilft kein Schwärmen bloss und Hoffen, 
Kein Traum von künftiger Entfaltung; 
Nein, ringen musst du mit den Stoffen 
Und stark sie zwingen zur Gestaltung! 

Julius Hammer. 

1. Arbeit und Mühe ist aUen Menschen beschieden. 

Nachfolgende Stellen stimmen fast wörtlich überein: L. 
Genesis III., 19: „In sudore vultus tui vesceris pane tuo!" 
'Ev \bpuiTi ToO irpocTiüTTOu (Tou cpaTfi töv äprov (Tou* Im Schweisse 
deines Angesichtes sollst du dein Brot geniessen! 

Hesiodi ''EpTUüv Kai 'Hiiiepiliv v. 289: Tfi^ dpcTfi^ IbpwTa Geoi 
TTpoTxdpoiGev fOriKav Virtutem anteire Dii voluere sudorem. Zur 
Gewinnung der Tugend setzten die Himmlischen Schweiss an. 

Horatii 1. I. Satirarum 9, 59—61: „Nil sine magno vita 
labore dedit mortalibus". Nichts gibt das Leben ohne grosse 
Mühe den Sterblichen. 

Xenophontis „Memorabilium" 1. II, c. 1, 28: Tuiv övtuj^ 
dTaGuJV Kai KaXuiv oubtv fiveu ttövwv Kai dmineXela^ öeoi biböacTiv 
dvOpunroi^' Eorum quae vere bona sunt et pulthra nihil Dii 
sine labore et cura dant hominibus. Von dem, was wahrhaft 
gut und schön ist, geben die Himmlichen den Menschen nichts 
ohne Mühe und Sorge. 

Ciceronis 1. de oratore II, c. 35: „Diligentia omnibus in 
rebus plurimum valet. Haec praecipue colenda est nobis, haec 
semper adhibenda, haec nihil est quod non assequatur". Fleiss 

Kr 011, Die Bezieliungen des. klass. Altertums zu den Jil. Schriften. i 



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— 2 — 



vermag sehr viel in allen Dingen. Diesen müssen wir besonders 
pflegen und immer anwenden: durch ihn werden wir alles 
erreichen. 

2. Die Sinne des Menschen sind zum Bösen geneigt. 

Von der allgemeinen Gesinnung des Menschen sagt die 
hl. Schrift (1. Genesis c. VIII, 21): ^Sensus et cogitatio cordis 
humani in malum prona sunt a juventute sua". 'H bidvoia tou 
dv6pu)7TOu dTTi|LieXiö^ im rd Trovripd dK veÖTTiTO^ auTOÖ' Das Sinnen 
und Trachten des Menschen ist zum Bösen geneigt von seiner 
Jugend an. 

Ovidius Naso (Amores 1. III, c. 4, 17) drückt dieses fast 
mit denselben Worten aus: „Nitimur in vetitum semper cupi- 
musque negata". Wir streben nach dem Verbotenen immer, 
und begehren, was uns versagt ist. 

Propertius (Cartninum 1. II, c. 22, 17): „Uni cuique dedit 
Vitium natura creato". Einem jeden Menschen gab die Natur 
eine Neigung zu dem Bösen. 

Stobaeus (Sermonum 1. II, c. 31): TTuj^ ttcvtipöv ecrriv dv- 
6pu)7TOu (pü(Ti^ TÖ (TüvoXov O quam corrupta est omnis hominum 
natural Wie ist die Natur des Menschen im ganzen so ver- 
dorben! . 

3. Die Hinfälligkeit des irdischen Lebens. 

Über die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des mensch- 
lichen Lebens schreibt Jesus Sirach (Ecclesiastici c. 14, 18 sq.): 
*Q^ cpuXXov GdXXov im bevbpou baaioq, m )uifev KaTraßdXXei, dXXd 
bk (pu€i, oÖTU)^ T€V€d (TapKÖ^ Kai a'i|LiaTO^, f) )uifev TcXeurqi, ^repa be 
Tewäxai' Omnis caro sicut foenum veterascet et sicut folium 
fructificans in arbore viridi. Alia (folia) generantur et alia de- 
jiciuntur: sie generatio carnis et sanguinis, alia finitur et alia 
nascitur. Alles Fleisch verdorrt wie das Gras und wie ein 
sprossendes Blatt am grünen Baume : einige (Blätter) fallen ab, 
und andere sprossen wieder. So ergeht es dem menschlichen 
Geschlechte : eine Generation sinkt zu Grabe, und eine andere 
ersteht dafür. (Cfr. Isaiae prophetae 40, 6 sq.; I. Ep. S. Petri 
1, 24 sq.; Ep. S. Jacobi 1, 9 sq.). Hiermit ist zu vergleichen 
Homeri Iliados 1. VI, 143 sq.: Tubeibn )uieTd0u|iie Tin T€V€nv ^€€i- 
vei^; o?Ti 7T€p cpuXXiüv T^veri, TOirjbe Kai dvbpuiv cpüXXa rd jnfev t' 



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— 3 — 

äveiLio^ X«M<i^i? X^ei, äXXd bk 6' uXti TTiXe6öu)(Ta (pu€i, fapo^ b' im- 
TiTverai uipri' (bq dvbpiöv T€V€r|, f| jnfev cpiiei, f) b' dTToXriTer 
Tydide magnime, cur genus percontaris? 
Quäle foliorum genus, tale et hominum: 
Folia quidem alia ventus hurni fundit, alia vero silva 
Pullubans g^gnit, quando venit veris tempus: 
Sic hominum genus, alius quidem nascitur aliud autem moritur. 
Cfr. Iliados 1. XXI, v. 460-464. 
Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der 

Menschen: 
Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann 
Wieder der knospende Wald, wann neu auflebet der Frühling: 
So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes 

verschwindet. 
(Cfr. Simonidis Fragmenta; Musaei Effata bei Clemens 
Alexandrinus Stromatum 1. VI, Pindari Carminum Pythicorum 
oda VIII. in fine; Sophocles in Ajace v. 125; Euripides bei 
Plutarqhus de Consolatione ; Aristophanes in Avibus v. 686; 
Horatii de Arte Poetica v. 60). 

Die Parallele bei Jesus Sirach stimmt mit der Darstellung 
des Homer wörtlich überein; es entsteht nun die Frage: Wie 
ist das zu erklären? 

Man könnte sagen, dass solche allgemeine Naturbetrach- 
tungen der ganzen alten Welt angehörten. Daher findet sich 
jener homerische Vergleich bei so vielen klassischen Dichtern. 
Vergleiche oben. Soll aber bei der wörtlichen Übereinstimmung 
eine Entlehnung in Betracht kommen, so müsste dieselbe von 
Jesus Sirach geschehen sein. Mag nun dessen Ankunft in 
Ägypten gemäss der Vorrede zum „Ecclesiasticus** auf ca. 
132 a. Chr., oder zufolge einer anderen Berechnung für 310—291 
a. Chr. angesetzt werden; auf jeden Fall ist die schriftliche 
Aufzeichnung der Ilias um einige Jahrhunderte früher geschehen. 
Jesus Sirach machte seine Studien zu Alexandrien, wo ein 
reges wissenschaftliches Leben herrschte und Homer fleissig 
gelesen und erklärt wurde. Es widerstrebt daher keineswegs 
dem göttlich inspirierten Charakter seiner Schrift ^Ecclesiasticus", 
wenn er eine allgemeine zutreffende Naturbeobachtung aus 
der Ilias des Homer entlehnt hätte. Denn alle Wahrheit ist 
aus Gott: Evgl. S. Johannis 14, 6. So z. B. hindert die Annahme 



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— 4 — 

und Übung des arabischen Ziffern-Systems keinen Christen 
in seiner religiösen Überzeugung obgleich die Araber noch 
Heiden sind*). 

4. Erlösung aus diesen Beschwerden. 
Der gegenwärtige Zustand einer leidenden und der Hin- 
fälligkeit unterworfenen Menschheit bildete schon frühe den 
Gegenstand des Nachsinnens der alten Denker. Wie eine 
Ahnung dämmerte es bei ihnen auf, es gebe eine Befreiung 
aus demselben durch die stellvertretende Sühne Gottes. Sehr 
schön sagt in dieser Beziehung der griechische Dichter Aeschylus 
in seinem gefesselten Prometheus: 

Ko\ TOioObe |Liöx6ou T^pina ^f\ ti npoaboKo. 

TTpiv &v Geiliv Ti^ bidboxo^ tüüv (Td)v uöviuv 

cpdvij GeXrjCTij t' €i^ dvaütirrov jnoXeTv 

"Aibiiv KV€(p€ia t' d)ui(pi Taprdpou ßdrir 

(Aeschyli Promethei vincti v. 1016—1020). 

Talis molis sperare non licet finem 

Ni quis Dens pro Te paratus sit 

Descendat ut in Tartari domum 

Vicem gerens laboris Tui particeps. 

Von dieser Drangsal hoffe nicht ein Ziel, bevor 

Als Stellvertreter deiner Qual ein Gott erscheint, 

Bereit, für dich in Hades' unbesonntes Reich, 

Zu steigen und zur finsteren Kluft des Tartarus. 
Wir Christen bekennen im Symbolum: „Qui propter nos 
homines et propter nostram salutem descendit de coelis; cruci- 
fixus etiam pro nobis descendit ad inferos". Der wegen uns 
Menschen und um unseres Heiles willen vom Himmel herab- 
stieg; er wurde auch für uns gekreuzigt und stieg zur Unter- 
welt. Cicero („De haruspicum responsis" c. 28, v. 62) sagt: 
^Nolite id putare accidere posse . . , ut Deus aliquis elapsus 
e coelo coetus hominum adeat, versetur in terra?" Haltet ihr 
es nicht für möglich, dass ein Gott vom Himmel steige, die 
Gesellschaft der Menschen besuche und auf Erden verweile? 
Hiermit ist zu vergleichen Baruchi Prophetae c. III, v. 38: 



*) Die arabischen Ziffern sind durch Gerbert von Aurillac, den spä- 
teren Papst Silves ter IL, im Abendlande eingeführt worden. Zeitalter des 
deutschen Kaisers Otto III. (983^1002). 



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— 5 - 

„Deus post haec in terris visus et cum hominibus conversatus 
est". Nach diesem (in der Zeiten Fülle) wurde Gott auf Erden 
geschaut und ist mit den Menschen umgegangen. (Prophe- 
zeihung). Die Erfüllung berichtet Johannes (Evgl. I, 14): „Et 
verbum curo factum est et habitavit in nobis." Das Wort ist 
Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt. 

Der griechische Text bei Baruch lautet: '0 9€Ö^ ineTct TauTa 
^TTi Tfi^ tri^ uJcpÖTi Kai dv ToT^ dvGpiJüTTOi^ (Tuvav€(TTpd(pr|' Bei Johannes: 
Kai 6 AÖTO^ (JapH 4y€V€to Kai daKrjvuxTev iv fjjiiv^) 



1) Wenn nun die angeführten Erwartungen sich zumeist auf die Er- 
lösung beziehen, welche mit der I. Ankunft des Heilandes auf Erden be- 
gonnen hat, so besteht für uns Christen ausserdem noch die Hoffnung 
auf eine Vollendung derselben, die, mittelst Weihungen und Segnungen 
der Kirche angebahnt, bei der IL und glorreichen Erscheinung (Wieder- 
kunft) des Herrn am jüngsten Tage sich offenbaren wird. 

Dieser Sehnsucht leiht S. Paulus im Briefe an die Römer c. 8, v. ig 
bis 23 folgenden Ausdruck: „Das Harren der Schöpfung wartet auf das 
Kundwerden der Kinder Gottes. Denn sie ist der Hinfälligkeit unter- 
worfen (nämlich durch ein Straf- Urteil Gottes: Genesis 3, 17), nicht frei- 
willig, sondern um Dessen willen, welcher sie auf Hoffnung hin unter- 
worfen hat. Die Schöpfung aber wird aus der Knechtschaft der Ver- 
gänglichkeit erlöst werden zur Freiheit in der Herrlichkeit der Kinder 
Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung seufzet und in Wehen 
ist bis jetzt. (Entgegenharrend der Stunde, in welcher „«« neuer Himmel 
und eine neue Erde'^ erscheinen werden. Cfr. H. Petri 3, 13). Aber nicht 
allein sie, auch wir selber, die wir die Erstlinge des Geistes haben, seufzen 
in uns, indem wir die Annahme zur Kindschaft Gottes erwarten : „<Äf Er- 
lösung unseres Leibes^', (Erlösung unseres Leibes aus dem Banne des Tades 
und der Verwesung sowie dessen Verklärung zur Geistigkeit. Cfr. I. ad 
Corinthios c. 15, 51 — 58.) 

Hierzu können wir die Strophe aus dem „Klage-Liede der Mutter 
Gottes" vergleichen, in welchem Friedrich von Schlegel (1772 — 1829), 
Begründer der wissenschaftlichen Literatur-Geschichte, sich also vernehmen 
lässt: 

„Es geht ein allgemeines Weinen, 

Soweit die stillen Sterne scheinen. 

Durch alle Adern der Natur: 

Es seufzt und ringt nach der Verklärung. 

Entgegenharrend der Gewährung 

In Liebesangst die Kreatur." 



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~ 6 — 

5. Gott bedarf der menschlichen Hilfe nicht. 

Gott ist vollkommen und bedarf keiner menschlichen Hilfe. 
In dieser Beziehung sagt Euripides: Aeirai t^P ö 0eö^, eiirep 
iai' öpGuj^ 6€Ö^, oubevö^* Egel namque Deus, si vere est deus, 
Nullius rei. In dem Begriffe des wahren Gottes liegt es ein- 
beschlossen, dass er keiner Sache bedarf. (Herculis furentis 
V. 1345). 

Ganz ähnlich spricht David im 15. Psalme, Vers 2: ETira 
Tiü Kupiip : Küpiö^ jLiou et aO, 8ti tuiv dTaOi&v iiiou ou xP^iciv ^x^K' 
Dixi Domino: Deus meus es tu, quoniam bonorum meorum 
non eges. Ich sprach zum Herrn: Mein Gott bist du; denn 
meiner Güter bedarfst du nicht! 

D^r Mensch dagegen, aus dem Staube der Erde erschaffen, 
erscheint hilflos und beschwert. So sagt Socrates in den 
„Wolken" des Aristophanes v. 232: 'AXX* f) Tn ßW ^^»^^i irpö? 
auTf|v Tf|V iK)uidba rf]^ cppovribo^' 
Terra autem vi 

Ad se trahit mentis acumen. Der Erden Staub drückt 
mit Gewalt des Geistes Flug. Zu vergleichen ist Horaz Sati- 
rarum 1. II, 2, n. 77 : 

„Quia corpus onustum 

Hesternis vitiis animum quoque praegravat una 

Atque affigit humo divinae particulam aurae". 

Denn der beschwerte Leib belastet infolge der Übel- 
taten auch den Geist und drückt zu Boden das Teilchen des 
göttlichen Hauches (unsere Seele). (Cfr. Tusculanarum 1. V, 
c. 13, n. 38 und Cato Major c. 21, 77). 

Damit stimmt der Ausspruch im Buche der Weisheit 
(c. IX, 14—16) fast wörtlich überein: „Corpus enim, quod cor- 
rumpitur, aggrevat animum, et terrena inhabitatio deprimit 
sensum multa cogitantem". Der verwesliche Leib beschwert 
die Seele, und das irdische Gezelt drückt nieder den Geist, 
den vielsinnenden. Der griechische Text lautet: Oeapiöv t^P 
a(i)}ia ßapuvei vpuxi^v, Kai ßpiöei tö T^wbe^ (Tktivo^ voöv TroXucppovTiba' 

6. Der leidende Gerechte ein Vorbild. 

Um die Menschheit aus dem Staube zu erheben, war ein 
Vorbild nötig, das mit allen Tugenden geschmückt, durch 
Leiden vollendet, imstande war, durch unschuldiges Dulden 



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die Schuld aller zu tilgen. Die Idee eines solchen vollkommenen 
Gerechten stellt uns Plato in seinem Werke über den Staat 
vor Augen, wenn er („De re publica** 1. II, Nn 361, b; und 
„Gorgias" Nr. 468, a) sagt: Toioöto^ 6 bkaio^ ein* tv|iivu)T€0^ br\ 

TrdVTlüV, TlXflV blKttlOCTUVTl? , Kai TTOIIIT^O^ biaK€l|Ll€VO^ Ttfl upoT^ptfi 

(aöiKiu)' mbkv TÄP dbiKUJV, böHav dxexu) Tf|V ix€fiavf\v dbiKiav iv' 
fj ßeßa(Tavi(T)ui^V05 el^ biaKaiocruvTiv, tuj |Lifi TCTTecTöai öttö KaxaboHia^, 
Ktti Twv Ott' auTTi^ t^TVOili^vujv dXX' firu) d)ui€TdKa(TTO^ M^XPi öavdTOU' 
boKuiv iLifev etvai dbiKO^ bid ßiou, a)v bfe biKaioq* ^poOai bfe rdbe ötx 
ouTU) biaK€i)ui€V05 6 biKttio^ |LiacrTiTU)<J€Tai, (TT€ßXiJü(TeTai, bebi^aeioi, 
dKKau6i^(T€Tai TU) ö(p6aX|Liiü, TeXeuTiöv, irdvia Kam iraöibv dvacrxivbi- 
X€ueri(T€Tai • 

lustus talis Sit: privandus igitur rebus omnibus, praeter- 
quam iustitia, atque ita ponendus, ut superiori (iniusto) contra- 
rius Sit. Nihil enim iniuste agens, iniustissimus esse credatur; 
ut quasi quodam examine ad iniustitiam sit probatus (iniuste 
condemnatus), ex eo quod nee infamia, nee his rebus, quae 
eam sequuntur, notetur, sed usque ad mortem immobilis perse- 
veret, quum per omnem vitam iniustus existimetur, est tamen. 
iustus. lustus enim ita adfectus caedetur, torquebitur, vincula 
patietur: eruentur illi oculi ac denique omnia mala perpessus 
suspendetur in cruce. 

Der (vollkommene) Gerechte muss so beschaffen sein: Er 
muss von allen Dingen (Ehre, Ruhm, Auszeichnung u. s. f.) 
ganz losgelöst werden, nur nicht von der Gerechtigkeit, und 
so dem Ungerechten gerade entgegengesetzt werden. Wenn 
er auch nichts Ungerechtes begeht, muss er doch gleichwohl 
den grössten Schein der Ungerechtigkeit haben, damit seine 
Gerechtigkeit die Probe aushalte, ohne weder durch den tibelen 
Ruf noch dessen Folgen in ihrer Lauterkeit getrübt zu werden. 
Bis zum Tode muss er standhaft bleiben, und obgleich er in 
seinem ganzen Leben als eia Ungerechter angesehen wird, 
muss er doch (vollkommen) gerecht sein. Der so (ideal) dar- 
gestellte Gerechte muss gegeisselt, auf die Folter gespannt, 
in Fesseln gelegt, geblendet, und zuletzt noch nach allem aus- 
gestandenem Leide gekreuzigt werden. 

Gorgias 1. c. : Töv bfe toigOtgv biKaiov (el ti Kai dTpoiKÖiepov 
eipficrOai) iHaiw dirl KÖp^ii^ TUTTTOvra )xx\ bibövai biKiiv. lamvero 
eiusmodi virum iustum (etsi dictu sit agrestius) licet super 



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- 8 - 

genam impune pulsare. Einen Gerechten von solcher Tugend 
darf man (obgleich 'der Ausdruck etwas gewöhnlich ist) un- 
gestraft auf die Wange schlagen. (Cfr. Eusebii „De praepa- 
ratione evangelica" 1. 12, 10). Hierzu sind zu vergleichen: 1. 
Isaiae prophetae c. 50, v. 6 sq. ; Evgl. S. Matthaei c. 26, 67 sq. ; 
S. Marci c. 14, 65 sq.; S. Lucae c. 22, 64 sq.; S. Johannis c. 18, 
22 sq.). 

Ein ahnungsvoller Blick in die Zukunft ist es, wenn Plato 
(1. c.) ein Bild der höchsten Gerechtigkeit, oder der vollkom- 
mensten Tugend, wie sie durch Leiden geprüft und verklärt 
wird, entwirft und einen Gerechten schildert, welcher mit dem 
grössten Scheine der Ungerechtigkeit belastet, durch nichts in 
seiner Gesinnung wankend gemacht wird, der gefesselt, ge- 
geisselt, gefoltert, geblendet und zuletzt noch an das Kreuz 
geschlagen wird. Selbst der Backenstreich (bei Gorgias 1. c.) 
ist nicht vergessen. Hierbei ist man versucht mit Ventura zu 
sagen: Plato habe Christus am Kreuse gesehen. Als unser 
Heiland am Kreuze hing und starb, rief der römische Haupt- 
mann aus: „Vere hie homo justus erat!" (Evgl. S.Luc. 23,47). 
Wahrhaft dieser Mann war ein Gerechter!, und: „Vere hie 
homo filius Dei erat!" Wahrhaft dieser Mann war Gottes 
Sohn! (Evgl. S. Marci 15, 39). Sankt Paulus verkündigte in 
Griechenland, der Heimat des grossen Plato: 'Hjuet^ hx\ Kiipu0- 
(To|Li€v XpicTTÖv ^(TTaupu)|Li^vov • Nos autem praedicamus Christum 
crucifixum!" (L ad Corinthios c. 1,23). y^Wir aber predigen 
Christum, den Gekreuzigten.^ Diese Botschaft war für die in 
der akademischen Schule Gebildeten nicht fremd, sondern nur 
die Erfüllung der Ahnungen des tiefsten Denkers in Hellas. — 
Merkwürdig ist auch, dass Laot-seu, der chinesische Plato (vgl. 
Abel R^musat), in seinem Buche Tao-te-king (liber de ratione 
et virtute = über Einsicht und Tugend, nach P. Georg Maria 
Stenz) fast dasselbe ausspricht: „Tien-gien erit Deus-Homo; 
ipse inter homines versabitur, quamquam eum non cognoscent. 
Percutite hominem sanctum, flagellis caedite eum, latronem 
vero dimittite!" Tien-gien wird der Gott-Mensch sein; er wird 
unter den Menschen wohnen, obgleich sie ihn nicht erkennen. 
Schlaget den Heiligen, geisselt ihn mit Peitschenhieben und 
setzet dagegen den Räuber in Freiheit! Cfr. Evgl. S. Johannis 
I, 10 sq.: „In mundo erat et mundus per eum factus est, et 



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— 9 — 

niundus eum non cognovit Et verbum caro factum est et habi- 
tavit in nobis." Er (Christus, das Wort Gottes) war in der 
Welt, und die Welt wurde durch ihn erschaffen, und die Welt 
hat ihn nicht erkannt . . . Das Wort ist Fleisch geworden, 
und hat unter uns gewohnt. (Cfr. etiam Evgl. S. Lucae 23, 25). 
Der schwedische Gelehrte A. Kolmodin hat in seinem Werke: 
^Laotze, en profet bland Hedningare med en försök tili kort- 
fattad biblisk grundl&ggning f6r hans System" (Stockholm 1888), 
den Versuch gemacht, das Tao-te-king mit der Bibel in Ein- 
klang zu bringen. Gemäss der Mitteilung des bekannten Mis- 
sionars P. Georg Maria Stenz (aus der Wied-Gegend) herrscht 
unter den Chinesen die Ansicht, durch Handels- Verbindungen 
nach der Insel Ceylon, wohin schon im hohen Altertume Kauf- 
leute aus Ägypten und Phönizien, sowie israelitische Geschäfts- 
leute gekommen seien, hätten ihre Vorväter eine Kenntnis von 
den Schriften des alten Testamentes erhalten. (Vgl. I. Band, 
S. 57, 133, 179 u. 223.) 

7. Erwartung eines Erlösers. 
Der römische Dichter Virgilius (15. Oktober 70 — 21. Sep- 
tember 19 a Chr.) singt in seiner 4. Ekloge ad Asinium Pol- 
lionem consulem: 

„Aggredere, o magnos, aderit iam tempus, honores, 
Cara Deüm soboles: magnum lovis incrementum! 
Aspice convexo nutantem pondere mundum, 
Terrasque tractusque maris, coelumque profundum. 
Aspice venturo laetentur omnia saeclo!'' 
Schicke dich an — schon nahet die Zeit — zum erhabenen Ruhm, 
Teuerer Götter-Spross, du Jupiters herrlicher Anwuchs! 
Schau, wie das Welt-All bebet in schwer umlasteter Wölbung, 
Länder und Räume des Meers ringsum und die Tiefen des 

Himmels 1 
Schau, wie alles sich freut des künftigen Welt- Jahrhunderts! 
Der Prophet Aggaeus (blühte um 520 v. Chr.) sagt: „Nolite 
timere! Haec dicit Dominus exercituum: Adhuc unum modi- 
cum est, et ego commovebo coelum et terram et mare et 
aridam. Et movebo omnes gentes: et veniet Desideratus cunctis 
gentibusi" (Cfr. c. 2,37 seq.) Fürchtet euch nicht! Denn so 
spricht der Herr der Heerscharen : Noch einmal, und zwar nicht 



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— lO — 



in sehr entfernter Zeit, da werde ich den Himmel und die Erde 
erschüttern, das Meer sowie das feste Land; ich werde alle 
Nationen in Aufregung versetzen, und der von allen Völkern 
Ersehnte wird erscheinen. 

Diese beiden Stellen stimmen fast wörtlich tibere^n. — 
In der 4. Ekloge des Virgil befinden sich ausserdem noch 
manche Anklänge an prophetische Aussprüche. Der Inhalt 
dieses Gedichtes kann darum, obgleich er dem äusseren Wort- 
laute gemäss bloss auf einen Sohn des Konsuls Asinius PoUio 
sich bezieht, in seinem tieferen Sinne jedoch nur aus dem 
ganzen Zusammenhange der damaligen allgemeinen Weltlage 
richtig verstanden und erklärt werden. Das Lied hat eine 
höhere Bedeutung! 

Horatius stellt die Frage (Carminum 1. 1, odae 2, v. 25 sq.) : 
„Quem vocet divum populus ruentis 
Imperi rebus? Prece qua fatigent 
Virgines sanctae minus audientem 
Carmina Vestam? 
Cui dabit partes scelus expiandi 
lupiter? Tandem venias, precamur, 
Nube candentes humeros amictus 
Augur Apollo!" 
Welchen Gott soll anrufen das Volk 
Zum Schutze des sinkenden Reiches? Mit welcher Bitte 
Werden keusche Jungfrauen Vesta erweichen, 
Die zu wenig hört auf heilige Lieder? 
Wem wird zuteilen die Rolle als Schuld-Versöhner 
Jupiter? Komm' doch endlich, wir bitten, 
Die glänzenden Schultern mit der Wolke umhüllt 
Du Seher Apollo! 

Horatius deutet an, das römische Reich leide durch furcht- 
bare Blutschuld, welche es sich in den Bürgerkriegen und durch 
den grausamen Mord an dem grossen Cäsar zugezogen habe. 
Darum muss ein Erlöser kommen, der die Sühne vollbringt. 
Apollo wird in diesem Sinne von Pausanias (1. I, c. 3, n. 3), 
Hesiodus und anderen 'AXeHiKaKoq genannt, welches Wort mit 
'Fluchabwender, Entsündiger' richtig übersetzt wird. 

Auch sagt Aeschylus in seinem gefesselten Promotheus 
(1016-1020): 



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„Von dieser Drangsal hoffe nicht ein Ziel, bevor 
Als Stellvertreter deiner Qual ein Gott erscheint, 
Bereit, für dich in Hades unbesonntes Reich 
Zu steigen und zur finsteren Kluft des Tartarus!" 
(Vgl. S. 4 und 5.) Rechnen wir hierzu, was Plato über das 
Leiden des schuldlosen Gerechten schreibt (S. 6 f.), so müssen 
wir sagen, dass die Idee von Schuld und Sühne den Griechen 
und Römern nicht fremd war, sowie auch die Notwendigkeit 
einer Erlösung durch Gott. Zudem wurden diese Vorstellungen, 
aus der Ur- Offenbarung entnommen, wenn auch im Laufe der 
Zeit bei den Heiden vielfach verdunkelt und entstellt, durch 
die Juden, welche mit ihren hl. Büchern in 3 Weltteilen zer- 
streut lebten, im Gedächtnisse der Völker lebendig erhalten. 
Daher berichtet Volney in seinen ,,Ruinen" : „Die heiligen Über- 
lieferungen und mythologischen Sagen der ältesten Zeiten hatten 
in ganz Asien den Glauben verbreitet, dass ein grosser Mittler 
kommen solle, ein Richter am Ende der Tage, ein künftiger 
Retter, ein König, ein Gott als Eroberer und Gesetzgeber, 
welcher der Erde das goldene Zeitalter zurückbringen und die 
Menschen von der Herrschaft des Bösen befreien werde". 

In Rom besonders war zur Zeit des Virgilius (70—19 a. Chr.) 
die Erwartung eines zukünftigen Königs und Erlösers sehr ver- 
breitet, so dass Cicero in seinem Werke „De Divinatione" l. II, 
c. 54 die Frage stellt: „Auf welchen Menschen und auf welche 
Zeit denn jene sibyllinische Weissagung, dass die Ankunft eines 
Königs bevorstehe, den man anerkennen müsse, um gerettet su 
werden^ sich beziehe. Sybillae versus observamus, quos illa 
furens fudisse dicitur. Quorum interpres nuper, falsa quaedam 
hominum fama dicturus in senatu putabatur, eum quem re vera 
habebamus appellandum quoque esse regem, si salvi esse velle- 
mus. Hoc si in in libris est, in quem hominem et in quod 
tempus est?"" Cicero deutet hier auf dasselbe hin, was Sue- 
tonius „Im Leben des Kaisers Augustus" c. 94 berichtet: dass 
aus einem in Rom öffentlich vorgefallenen Wunderzeichen ge- 
weissagt worden sei, die Natur stehe im Begriffe, den König 
Roms hervorzubringen. Prodigium, Romae factum publice, quo 
denunciabatur, regem populi Romani naturam parturire. Diese 
Weissagung, fügt Suetonius hinzu, rief im Senate eine grosse 
Bestürzung hervor: man glaubte, das Ende der Republik sei 



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— 12 — 



gekommen und veranlasste einen Beschluss, dass alle in jenem 
Jahre zu Rom geborenen Knäblein getötet werden sollten. Da aber 
viele Senatoren sich in ihren Familien bedroht sahen, so wurde 
der Beschluss nicht ausgeführt. Anders dagegen verhielt es 
sich in Judäa, wo Herodes auf die Anfrage der Weisen aus 
dem Morgenlande: ^Wo ist der neugeborene König der Juden?^ ^ 
die Kinder zu Bethlehem ermorden Hess. — Diese im Mprgen- 
und Abendlande verbreiteten Weissagungen, welche auch von 
Tacitus und Suetonius noch speziell erwähnt werden (worüber 
später berichtet wird), sowie die ähnlichen sibyllinischen Orakel, 
von welchen Cicero spricht, schwebten dem Virgil vor Augen, 
wie er das selbst ja ausdrückt: „Ultima Cumaei venit iam car- 
minis aetas: Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo!" 
Schon ist die Fülle der Zeiten gekommen des Liedes von 
Cumae: Und von neuem beginnt der Jahrhunderte mächtige 
Reihe. Die Sibylla von Cumae (eine uralte Kolonie der Griechen 
an der Meeresküste von Kampanien) hatte gemäss der Über- 
lieferung in zahlreichen prophetischen Sprüchen auf das Her- 
annahen einer grossen neuen Epoche hingewiesen *). Ohne die- 
selben aber in ihrer inneren Bedeutung genau zu verstehen, 
benützte er sie zur stilistischen und inhaltlichen Ausgestaltung 
eines Lobliedes auf den Sohn des Konsuls Asinius PoUio, seines 
mächtigen Gönners. In ähnlicher Weise bezog Flavius Josephus 
die Vorhersagung des Propheten Michaeas c. V, 2 sq.: 
y^Tu Bethlehem, Ephrata etc." 
„Du Bethlehem, im Stamme Juda usw." 



^) Aus den Tagen der römischen Könige (Tarquinius Priscus) stam- 
mend, waren die alten sibyllinischen Weissagungen bei dem Brande des 
Kapitels im Jahre 84 a. Chr. zu Grunde gegangen. Der Senat schickte 
deshalb a. 73 eine Kommission nach dem Orient (Erythrea), um eine 
neue Sammlung von Oraklen zu bewirken. Bei dieser Gelegenheit sollen 
Juden ihnen messianische Weissagungen mitgeteilt haben. (Vgl. E. Schürer, 
„Geschichte des jüdischen Volkes", HL Band, S. 444flgd., Leipzig 1898.) 
Zu Rom wurden diese Sprüche ohne allen inneren Zusammenhang einer 
Redaktion unterzogen. Zwar Hess der Kaiser Augustus einen Teil derselben 
vernichten (Suetonii „ Vitae Octaviaai" c. 3 1 und Taciti „ Annalium" 1. VI, 
c. 12); jedoch erhielten sich derartige Orakel-Bücher noch bis zum 5. christ- 
lichen Jahrhundert, in welchem Kaiser Honorius dieselben nebst dem 
Apollo-Tempel verbrennen Hess. 



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— 13 — 

auf den nachmaligen Kaiser Vespasian und dessen Sohn Titus. 
(Cfr. Flavii losephi „De hello ludaico" 1. III, c. 8, n. 9; 1. IV, 
c. 10, n. 7; besonders: 1. VI, c. 5, n. 4.) Das lag in der höfischen 
Art jener Zeiten. 

Die Ausdrücke jedoch, mit welchen unser Dichter Virgil 
den erwarteten Sohn des Asinius Pollio begrüsst, zeigen sofort, 
dass sie auf einen höheren, als nur irdisch Geborenen hin- 
deuten : 

„lam redit et Virgo, redeunt Satumia regna: 
lam nova progenies Coelo dimitittur alto. 
Tu modo nascenti puero, quo ferrea primum 
Desinet ac toto surget gens aurea mundo, 
Casta, fave, Lucina, tuus iam regnat Apollo. 
Teque adeo decus hoc aevi, te consule itiibit 
Pollio, et incipient magni procedere menses. 
Te duce, si qua manent, sceleris vestigia nostri 
Irrita perpetua solvent formidine terras. 
nie Deüm vitam accipiet Divisque videbit 
Permixtos heroas, et ipse videbitur Ulis, 
Pacatumque reget patriis virtutibus orbem. 
At tibi prima, puer, nuUo manuscula cultu 
Errantes hederas passim cum baccare tellus 
Mixtaque ridenti colocasia fundet acantho. 
Ipsae lacte domum referent distenta capellae 
Ubera, nee magnos metuent armenta leones 
Ipsa tibi blandos fundent cunabula flores. 
Occidet et serpens, et fallax herba veneni 
Occidet .... 

Cara Deüm suboles, magnum lovis incrementum! 
Aspice convexo nutantem pondere mundum 
Terrasque tractusque maris coelumque profundum. 
Aspice, venturo laetentur omnia saeclo!'* 
Erdwärts kehrt nun „die Jungfrau" zurück und das Reich des 

Saturnus ; 
Schon enstammt ein neues Geschlecht dem erhabenen Himmel. 
Sei dem erwarteten Knaben, mit dem sich das eiserne Alter 
Erst abschliesst, und das goldene rings sich erhebt auf dem 

Erdkreis, 
Keusche Lucina, geneigt; schon führt dein Apollo die Herrschaft! 



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— 14 — 

Ja die herrliche Zeit wird mit dir, Konsul, beginnen 
PoUio, Monate voll erhabener Bedeutung entfaltend. 
Herrschen wirst du noch, da jegliche Spur von unserem Frevel 
Endlich getilgt, die Erde gelöst wird von ewigem Schrecken. 
Göttliches Leben erhält das Kind, wird schaun die Heroen 
Zu den Göttern gesellt, wird selbst bei ihnen erscheinen, 
Und die beruhigte Welt durch des Vaters Tugend beherrschen. 
Sonder Bemühen wird dir als Erstlingsgeschenke die Erde 
Efeu Ranken, o Kind, darbringen und duftende Narden, 
Mit Kolokasier-Flor in Fülle den hellen Akanthus. 
Strotzenden Euters wird die Ziege kehren nach Hause; 
Sorglos weidet das Rind, nicht bang vor gewaltigen Löwen. 
Kosend um dich entspriessen von selbst aus der Wiege die 

Blumen. 
Sterben wird das Schlangengezücht, hinwelken das Giftkraut, 
Das so lockend gegrünt. 

Teueres Götter-Kind, des Jupiters herrlicher Anwachs! 
Schau, wie das Metall bebet in schwer umlasteter Wölbung, 
Länder und Räume des Meeres ringsum und die Tiefen des 

Himmels: 
Schau, wie alles sich freuet des künftigen Welt-Jahrhunderts! 
Dies sind die hauptsächlichsten Strophen des Liedes, soweit 
sich dieselben auf messianische Vorhersagungen nach dem Urteil 
namhafter Gelehrten beziehen. Der Inhalt unserer Ekloge 
dürfte vollkommen klar sein. Virgil gibt gleich im Anfange 
zii erkennen, dass seine Dichtung einen aussergewöhnlichen 
Stoff zum Gegenstande habe: 

ySicelides Musae, paulo major a canamus!^ 
Musen Siciliens hört, etwas Höheres wollen wir singen! 
Dann bezieht er sich auf die Weissagung von Cumae und 
begrüsst eine kommende, neu anbrechende goldene Zeit, welche 
das eiserne, waffenstarrende Jahrhundert beschliesst und ein 
besseres Menschengeschlecht hervorbringen wird. Ein Kind 
aus göttlichem Stamme soll in dieser Zeit vom Himmel kommen 
und die Herrschaft über die in Unruhe schmachtende Welt er- 
halten. Dasselbe wird den Frieden bringeny die Menschen von 
der steten Angst befreien; es wird ihre Sünden tilgen und 
ihnen ein schöneres Dasein zuteil werden lassen: sie werden 
glücklich sein. Darum freuen sich Himmel und Erde bei dem 



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- 15 — 

Erscheinen des göttlichen Knaben und harren in Sehnsucht 
und Schauern des Glückes der kommenden Welt-Zeit. Selbst 
die niedere Schöpfung (cfr. ad Romanos V, 19 sq.) wird der 
Segnungen des Friedens teilhaftig: nicht mehr fürchten die 
Herden auf der Weide, Unkraut und giftige Schlangen ver- 
schwinden, Blumen sprossen aus der Wiege des ersehnten Er- 
lösers. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die hier ausgesprochenen 
Ideen mit den messianischen Weissagungen des alten Testa- 
mentes, besonders bei Isaias und Aggaeus, sowie mit der Zeich- 
nung, welche die Evangelisten von dem Erlöser entwerfen, 
eine merkwürdige Übereinstimmung bekunden. Hierauf macht 
schon S. Augustinus aufmerksam, wenn er „de civitate Dei" 
1. X, c. 27 gegen den Neu-Platoniker Porphyrius sagt: „De quo 
(Christo) etiam poeta nobilissimus (Virgilius) poetice quidem, 
quia in alterius adumbrata persona (de Pollionis filio), veraciter 
tarnen, si ad ipsum (Christum) referas, dixit: „Te duce, si qua 
manent sceleris vestigia nostri, Irrita perpetua solvent formi- 
dine terras". (Eclogae IV, 13 sq.) Auf Christus wendet auch 
der vorzügliche Dichter Virgil nachstehende Verse an, die mit 
poetischer Freiheit zwar auf einen anderen, nämlich den Sohn 
des Konsuls PoUio, bezogen werden, in der Tat aber nur auf 
Christus passen können, nämlich: „Herrschen wirst Du noch, 
da jegliche Spur von unserem Frevel Endlich getilgt, die Erde 
gelöst wird von ewigem Schrecken". (Vgl. Sermonis de Sym- 
bole contra ludaeos, paganos, Arianos c. XV.) Die prophe- 
tischen Stimmen des alten Testamentes lauten: „Ipse autem 
(Messias) vulneratus est propter iniquitates nostras, attritus 
est propter scelera nostra: disciplina pacis nostrae super eum, 
et livore eius sanati sumus". Pro eo, quod laboravit anima 
eius, videbit et exsurabitur: in scientia sua iustificabit ipse 
iustus servus meus multos et iniquitates eorum ipse portabit. 
Isaiae c. 53, 5 u. 11. Er aber (der Messias) ist verwundet wegen 
unserer Sünden und zerschlagen wegen unserer Missetaten: 
die Züchtigung zu unserem Frieden ruht auf ihm, und durch 
seine Striemen sind wir heil geworden. -- Dafür, dass seine 
Seele geduldet hat, wird er schauen und sich sättigen; durch 
seine Kenntnis wird mein gerechter Knecht viele rechtfertigen, 
und deren Missetaten wird er selber tragen. Vgl. hierzu die 



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— i6 — 

Erklärung, welche der Diakon Philippus dem Kämmerer der 
Königin Candace aus Aethiopien gab : Actus Apostolorum c. 8, 
V. 32 — 40 und Isaiae c. 53, v. 7 f. In der Beschreibung der 
Segnungen, welche das sühnende Leiden des Messias zur Folge 
hat, stimmt der Dichter Virgilius mit dem Propheten Isaias 
merkwürdig überein: 

1. Ein allgemeiner Friede. 

Isaiae c. 9, v. 7: „Seine (des Messias) Herrschaft wird 
gross werden und seines Friedens kein Ende sein; auf dem 
Stuhle Davids und über seinem Reiche wird er tronen (Evgl. 
S. Lucae c. 1, 32), dass er dasselbe festige und stütze durch 
Recht und Gerechtigkeit". Virgilii v. 17: „Und mit d6s Vaters 
Tugend wird er beherrschen den friedlichen Erdkreis". 

2. Die grösste Sicherheit. 

„Da wird der Wolf wohnen bei dem Lamme, und der 
Pardel lagern bei dem Böcklein: junges Rind, Löwe und Schaf 
weilen nebeneinander, und ein kleiner Knabe führet sie**. 
Isaiae 11, 6—8. Virgilii v. 22 — 25: „Sorglos weidet das Rind, 
nicht bang vor gewaltigen Löwen. Sterben wird die Schlange, 
hinwelken das Giftkraut". Zu den letzten Worten ist zu ver- 
gleichen: „Der Säugling spielt an der Natter Kluft, und der 
kaum Entwöhnte streckt seine Hand in die Höhle der Schlange". 
Isaiae 1. c. 

3. Fruchtbarkeit der Erde. 

„Blühen wird die Öde wie eine Lilie: üppig sprosset sie 
auf. Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr gegeben, die Zierde 
des Carmel und Saron". Isaiae c. 35, 1—2. Virgilii v. 21 sq.: 
„Kosend um dich (o Himmelskind) entspriessen von selbst aus 
der Wiege die Blumen . . . Selbst den wildernden Dorn um- 
fängt die rötliche Traube und von der starrenden Eiche ent- 
quillt der tauige Honig". 

4. Freude in der ganzen Natur. 

„Freuen wird sich das wüste und weglose Land, froh- 
locken wird die Öde". Isaiae 35, 1. 

Virgilii v. 51, 52: „Siehe die Länder ringsum und die Tiefe 
des Himmels, Siehe wie alles sich freut auf das kommende 
Welt-Jahrhundert". 



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— 17 — 

Das neue Testament entwirft ein Messias-Bild mit folgen- 
den Zügen: er ist ausgerüstet mit göttlicher Gewalt und gött- 
lichem Leben: Evgl. S. Johannis c. 7, 31—42, S. Mattaei c. 3, 
13—17: er ist Sohn Gottes. Er wird eine Heilanstalt errichten, 
in welcher eine höhere Ordnung erscheint S. Matthaei c. 16, 
13 — 20; S. Lucae c. 1, 76—80. Er wird sein Volk von seinen 
Sünden erlösen: S. Matthaei c. 1,21; S. Lucae c. 1,77. Er 
wird herrschen über sein Volk mit nie endender Glückseligkeit 
S. Lucae c. 1, 32—34; c. 2, 29—34. Seine Glückseeligkeit wird 
von Israel aus sich über alle Völker der Erde verbreiten: S. 
Marci c. 16, 15— 20; S. Lucae c. 24, 47—50; Actus Aposto- 
lorum c. 1, 8—12. 

Nach genauer Vergleichung ergibt sich eine auffällige 
und offenkundige Übereinstimmung zwischen den messianischen 
Weissagungen der hl. Schrift und der Schilderung unseres 
Dichters Virgil. Wenn derselbe auch als Heide den tieferen 
Sinn seines Liedes noch nicht erfassen konnte, so sind wir 
Christen ihm doch zum Danke verpflichtet, dass er in demselben 
objektiv die Ahnungen und Stimmungen zum Ausdruck brachte, 
welche damals im römischen Volke mit Bezug auf einen kom- 
menden Erlöser die Gemüter in Spannung erhielten. Wir wissen 
zudem aus der hl. Geschichte (cfr. Evgl. S. Lucae c. 2, 1 sq.), 
dass dem römischen Volke, speziell seinem Kaiser Augustus, 
wenn demselben auch unbewusst, ein grosser Anteil an der 
Erfüllung jener messianischen Weissagungen in der Vorsehung 
Gottes beschieden war. 

8. Das Edikt des Kaisers Augustus. 

Der hl. Evangelist Lucas berichtet 1. c. : „Factum est autem 
in diebus illis, exiit edictum a Caesare Augusto, ut describe- 
retur universus orbis. Haec descriptio prima facta est a prae- 
side Syriae Cyrino, et ibant omnes ut profiterentur singuli in 
suam civitatem. Ascendit autem etiam Joseph a Galilaea de 
civitate Nazareth, in Judaeam, in civitatem David quae vocatur 
Bethlehem, eo quod esset de domo et familia David, ut profi- 
teretur cum Maria desponsata sibi uxore praegnante. Factum 
est autem quum essent ibi impleti sunt dies, ut pareret. Et pe- 
perit filium suum primogenitum, et pannis eum involvit, et re- 

KrOll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 2 



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— i8 — 

clinavit in praesepio, quia non eis erat locus in diversiorio". 
In jenen Tagen erging ein Befehl von dem Kaiser Augustus, 
den ganzen Erdkreis zu beschreiben. Dies war die erste Be- 
schreibung und geschah durch Cyrinus, den Statthalter von 
Syrien. Und alle gingen hin, sich anzugeben, ein jeder in 
seine Stadt. Es ging auch Joseph von Galilaea aus der Stadt 
Nazareth hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, welche Beth- 
lehem heisst, weil er aus dem Hause und der Familie Davids 
stammte, um mit Maria, seinem verlobten Weibe, sich anzu- 
geben, welche gesegneten Leibes war. Es begab sich aber, 
als sie daselbst waren, da erfüllten sich die Tage, dass sie 
gebären sollte. Und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen, 
und hüllte ihn in Windeln, und legte ihn in eine Krippe, weil 
in der Herberge für sie kein Platz war. 

Nach der Seeschlacht von Actium (31 a. Chr.) hatte Au- 
gustus die Alleinherrschaft gewonnen, und seine erste Sorge 
bestand darin, in die zerrütteten Verhältnisse des grossen 
Römerreiches wieder Ordnung einzuführen. Weil nun durch 
die vielen vorausgehenden Kriege die Staatskassen sehr er- 
schöpft waren, so suchte er durch eine allgemeine Volkszählung 
und Steuereinschätzung diesem Übelstande abzuhelfen. Er 
herrschte im Frieden über das Morgen- und Abendland. Daher 
konnte jene Aufzählung auch in Judäa vollzogen werden. Da 
aber gemäss dem mosaischen Gesetze sich der Erbbesitz in 
den 12 Stämmen des israelitischen Volkes erhalten hatte, so 
musste jeder an dem Stammsitze seiner Familie den Vor- 
schriften der Volkszählung und Steuereinschätzung genügen. 
Aus dieser Veranlassung reiste denn auch Joseph mit Maria 
von Nazareth in Galiläa aus nach der Stadt Bethlehem in Ju- 
däa, wo ihr königlicher Ahnherr David entsprossen war. Hier 
nun, in der Davids-Stadt, wurde der verheissene Messias Jesus 
Christus geboren und sofort in die amtlichen Listen der Volks- 
zählung eingetragen. Als Geburtsdatum wird gewöhnlich der 
25. Dezember des Jahres 752 nach Erbauung der Stadt Rom 
bezeichnet. Weil nun jene offiziellen Schätzungstabellen im 
Reichsarchive zu Rom unter dem Namen der „Quirinischen 
Aufschreibung" (Katastrierung) hinterlegt waren, so konnte 
man ein amtliches Geburtsseugnis für den Erlöser ausstellen. 
Hierauf berufen sich die christlichen Apologeten zum Beweise 



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— 19 — 

dafür, dass der verheissene Messias eine historische Persönlich- 
keit in der Weltgeschichte sei. So z. B. Justinus (150 p. Chr.) 
in seiner „Oratio ad Antoninum Pium Imperatorem" LI, c. 30; 
ferner Cyrillus Alexandrinus (ca. 428 p. Chr.) in seinem Werke 
„Contra lulianum 1. VI; Orosius, Tertullian und andere. Im 
Gehorsam gegen die weltliche Obrigkeit zogen Joseph und 
Maria nach Bethlehem, und so erfüllte sich die Aussage 
des Propheten Michaeas (c. 5, 2) über den Geburtsort des Er- 
lösers. 

Die Engel verkündigten zu Bethlehem: ^Pax hominibus!^ 
Friede den Menschen! (S. Lucae c. 2, 14) und der Kaiser Au- 
gustus liess zum Zeichen des eingetretenen Weltfriedens den 
Kriegstempel des lanus Quirinus schliessen. Derselbe Herrscher 
befahl im ganzen römischen Reiche Strassen und Wege zu 
bauen und führte aller Orten römisches Gesetz und Verwal- 
tung ein. So wurden dem Evangelium Jesu Christi die Bahnen 
bereitet. Der Völkerapostel Paulus konnte sich in Philippi 
(Mazedonien), Jerusalem und Caesarea mit Erfolg auf sein rö- 
misches Bürgerrecht berufen. Die drei Worte: j^Civis Roma- 
nus sum!^ {Bin römischer Bürger!) schützten ihm Freiheit und 
Leben. Cfr. Actus Apostolorum c. 16, 36— 40 (Philippi); c. 22, 
24—30 (Jerusalem) und c. 25, 10, 25; sowie c. ^6, 32 (Caesarea). 
Überall herrschten die Römer, 

Am Rheine legten sie den zum Teil noch erhaltenen Limes 
Transrhenanus oder Raethicus an, welcher zwischen Hönningen 
und Rheinbrohl beginnend sich bis über Regensburg (Regina 
Castra) an der Donau hinzieht. Dieser Grenzwall wird schon 
bei Tacitus ^Annalium" 1. 1, c, 50 erwähnt. Auch gründeten 
sie Cöln (Colonia Ubiorum) und legten von da bis Mainz über 
50 Kastelle an, welche öfters zerstört und wieder aufgebaut, 
allmählich die Grundlage bildeten, auf welcher sich die rhei- 
nischen Städte erhoben. So Bonn (Bonna), Godesberg (Ära- 
Ubiorum), Remagen (Regiomagus), Sinzig (Sentiacum), Breisig 
(Brisiacum), Andernach (Antenacum = Militärstation vor der 
Nette), Coblenz (Confluentes = Zusammenfluss von Rhein und 
Mosel), Mainz (Montiacum) und andere mehr. Zum Schutze 
des rechtsrheinischen Grenzwalles (limes) war bei Niederbieber 
(Castra Hibema) ein befestigtes Läger errichtet, dessen Um- 
fassungsmauern nebst wertvollen Münzen vor einigen Jahren 



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— 20 — 

(1901) aufgedeckt wurden *). Auch ist es historisch sicher, 
dass römische Soldaten die erste Kunde von der christlichen 
Religion an den Rhein gebracht haben. 

9. Die Heimat des Messias. 

Der Seher Michaeas (blühte 758—725 a. Chr.) berichtet 
c. 5, V. 2: ^Et tu Bethlehem Ephrata parvulus es in millibus 
ludae: ex te (autem) mihi egredietur, qui dominator sit in Israel: 
et egressus eius ab initio, a diebus aeternitatis!" Und Du Beth- 
lehem Ephrata, bist zwar klein unter den Tausenden Judas, 
jedoch aus Dir wird Mir hervorgehen Derjenige, welcher 
Herrscher sein wird in Israel Aber sein Ausgang ist von 
Anbeginn, von den Tagen der Ewigkeit. Vor allen Propheten 
ist Michaeas ausgezeichnet durch sein Wort von Bethlehem im 
Stamme Juda als dem Geburtsorte des verheissenen Messias. 
Die jüdische Synagoge war einstimmig in der Auslegung dieser 
Stelle, dass Bethlehem, die Heimat des Königs David, auch 
dem ersehnten „Sprossen Davids", dem Erlöser, das Wiegen- 
bett bereiten würde. So gab dieselbe auf die betreffende An- 
frage des Königs Herodes eine offizielle (amtliche) Entschei- 
dung und Antwort ex cathedra (cfr. S. Matthaei c. 23, 2 f.) mit 
spezieller Bezugnahme auf die angeführten Worte des Michaeas. 
Vgl. S. Matthaei c. 2, 4—7. 

Tranquillus Suetonius, der römische Geschichtsschreiber, 
berichtet in seiner Vita Vespasiani (c. 4, n. 27) : „Percrepuerat 
toto Oriente vetus et constans opinio, esse in fatis, ut eo tem- 
pore ludaea profecti rerunt potirentur^'. Das ganze Morgen- 
land hallte wieder von einer lange schon bestehenden und 
konsequenten Annahme (Erwartung), es sei im Schicksale be- 
schlossen, dass um jene Zeit Männer aus Judäa hervorgehen 
würden, denen die Weltherrschaft beschieden sei. 

Cornelius Tacitus „Historiam" 1. V, c. 13 hat folgendes: 
„Pluribus persuasio inerat, antiquis sacerdotum litteris contineri, 
ex eo ipso tempore fore, ut valesceret Oriens profectique ludaea 
rerum potirentur^'. Sehr viele hatten die Überzeugung, es sei 
in den alten Schriften der Priester enthalten, dass von jener 



1) Die Fundstelle ist von Neuwied aus in einer halben Stunde zu 
erreichen. 



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— 21 ^ 

Zeit an das Morgenland erstarken werde und Männer aU$ 
Judäa hervorgegangen^ sich der Weltherrschaft bemächtigen 
würden. Die antiquae sacerdotum litterae = die alten Schriften 
der Priester deuten wohl auf die Bücher des Alten Testamentes 
hin, welche in der griechischen Übersetzung der „Septuaginta" 
durch jüdische Schriftgelehrten zu Rom verbreitet waren und 
in den Synagogen vorgelesen wurden. Hieraus erklärt sich 
die Wahrnehmung, dass Suetonius und Tacitus nicht bloss die 
nämliche Tatsache bezeugen, denselben Gedanken aussprechen, 
sondern es auch in fast gleichlautenden Ausdrücken tun. Der 
Grund hiervon ist ohne Zweifel darin gelegen, dass beide die- 
ßelbe Quelle der alten Schriften benützt haben, und dass jene 
Weissagung des Michaeas in dieser Form zu Rom allgemein 
bekannt war. 

10. Der Kindermord zu Bethlehem. 

Der hl. Evangelist Matthaeus schreibt c. 2, 16 sq.: „Tunc 
Herodes, videns, quoniam illusus esset a Magis, iratus est 
valde, et mittens occidit omnes pueros, qui erant in Bethlehem 
et in Omnibus finibus eins a bimatu et infra secundum tempus quod 
exquisierat a Magis". Damals nun, als Herodes gesehen hatte, 
dass er (nach seiner Ansicht) von den Magiern getäuscht 
worden sei, wurde er sehr zornig, und er schickte aus und 
liess alle Knaben zu Bethlehem und dessen ganzer Umgebung 
töten, im Alter von zwei Jahren und abwärts, gemäss der Zeit, 
welche er von den Weisen erkundigt hatte. Die Nachricht von 
dieser grausamen Tat verbreitete sich bis nach Rom zu Ohren 
des Kaisers Augustus. So berichtet nämlich Aurelius>Macror 
bius, Würdenträger (Staatsmann) an dem Hofe des Kaisers 
Theodosius II. (408—450 p. Chr.), literarisch bekannt als Kom- 
mentator von Ciceros „Somnium Scipionis", und Verfasser der 
„Satumalia Convivia". In diesem Werke (saturn. conv. 1. II, 
c. 4) sagt er: „Augustus imperator quum Romae audisset, inter 
pueros, quos in Syria Herodes rex ludaeorum, infra bimatum 
iussit interfici, filium quoque eins occisum esse (^odem fere 
tempore Antipater jussu Herodis interfectus est) ait: „melius 
est Herodis porcum esse quam filium". Als der Kaiser Augustus 
zu Rom vernommen hatte, dass unter den Knaben, welche in 
Syrien Herodes, König der Juden, im zweiten Lebensjahre hatte 



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22 — 



töten lassen, auch dessen eigner Sohn (Antipater) hingerichtet 
worden sei, sagte er: „Besser ist es, ein Schwein, als ein Sohn 
des Herodes zu sein". Nach Flavius Josephus „Antiquitatum" 
1. XVll, c. 7 befahl Herodes seinen Sohn Antipater zu töten, 
weil er denselben im Verdacht hatte, als strebe er nach dem 
Throne. Diese Hinrichtung geschah kurze Zeit nach dem 
Kindermorde zu Bethlehem, und gelangte die Kunde beider 
Taten gleichzeitig nach Rom. Daher hielt der Kaiser Augustus 
dieselben für ein Werk. In der griechischen Sprache, deren 
er sich nach dem Zeugnisse des Suetonius mit Leichtigkeit 
bediente, bildet sein Ausdruck: „Melius est Herodis porcum 
quam filium esse" ein Wortspiel: *Ev oiKiqi toO 'Hpiubou fi^eivov 
clvai cTuöv f\ uiöv mit Rücksicht auf das jüdische Verbot, Schweine 
zu töten und deren Fleisch zu essen. Augustus meinte daher 
spottend: im Judenlande des Herodes ist ein Schwein sicherer 
für sein Leben, als ein Königssohn. Herodes tötet seinen Sohn, 
aber die Schweine muss er leben lassen. 

Flavius Josephus, der jüdische Geschichtsschreiber, schwieg 
zwar über den Kindermord zu Bethlehem; aber das geschah 
nicht aus historischen, sondern aus politischen Gründen. Wie 
S. 12 f. dieses Buches angeführt ist, bezog derselbe die Weis- 
sagung des Propheten Michaeas c. 5, v. 2 : „Du Bethlehem im 
Stamme Juda u. s. f." auf den nachmaligen Kaiser Vespasian 
und dessen Sohn Titus. Hätte er nun die Blutszene daselbst 
berichten wollen, so lag für ihn die Notwendigkeit vor, auch 
den Grund anzugeben, aus welchem Herodes die Kinder 
zu Bethlehem ermorden Hess. Und hätte er geschichtlich er- 
zählt, dass die jüdische Synagoge auf die gestellte Anfrage 
ihres Königs jene prophetische Stelle auf den verheissenen 
Messias in amtlicher Mitteilung bezogen habe, so erschien 
seine eigene Dqutung hinfällig, und damit wäre sein Ansehen 
bei Vespasian und Titus verloren gegangen. 

11. Philo Alexandrinus über den Heiland. 

Philo, geboren ca. 30—20 a. Chr. und gestorben ca. 54 
n. Chr., wirkte zu Alexandrien als einer der merkwürdigsten 
und einflussreichsten Männer seiner Zeit. Wenn man von dem 
apostolischen Kreise absieht, so ist er jedenfalls der geistig 
hervorragendste Schriftsteller, welchen die Juden damals be- 



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- i3 — 

Sassen, Er machte umfassende Studien und besass eine ver- 
traute Bekanntschaft mit den Schätzen der griechischen Lite- 
ratur sowie mit den hl. Büchern seines Volkes. Dabei war 
er von ernster Frömmigkeit und fester Zuversicht. Seiner 
Sprache und ganzen Bildung nach ein Grieche und von hoher 
Bewunderung der antiken Philosophie blieb er gleichwohl ein 
streng gläubiger Jude. Er war voller Begeisterung für seine 
Religion und sein Volk und der grösste Verteidiger desselben 
gegenüber der Heidenwelt. In seinen Augen sind die Juden 
gleichsam als Priester und Propheten für alle Völker der Erde 
von Gott bestimmt. Seine gefällige Darstellungsweise, sowie 
das Geistreiche in seinen Allegorien übte zu allen Zeiten eine 
mächtige Anziehung. Bis zu einem gewissen Grade kann man 
sagen, dass, wie Johannes der Täufer mit seiner Predigt bei 
den Juden, so Philo durch seine Schriften bei den gebildeten 
Heiden und Juden vielfach ein Wegebahner für das Evangelium 
geworden ist. In seiner Abhandlung „De praemiis et poenis", 
(über Lohn und Strafe), editio Parisiensis d. a. 1640, pag. 925, 
spricht er von einem ausserordentlichen Manne, welcher sich 
viele und grosse Völker unterwerfen werde. Er bezieht sich 
hierbei auf einen göttlichen Ausspruch und benützt fast wört- 
lich die Redeweise des Sehers Balaam (Numeri c. 24, 5 u. 7): 
„Wie herrlich sind deine Wohnungen, Jacob! und deine Zelte, 
Israeli . . . Stehen wird sein König über Agag, und erheben 
wird sich sein Reich !^' Damit schildert er den verheissenen 
Messias als König, dem die Welt Untertan sein wird. Als 
höheres aber und göttliches Wesen bezeichnet er denselben, 
wenn er „De exsecratione** (über den Fluch) p. 937, sagt: er 
sei ein göttlicheres Wesen, als man nach der äusseren Er- 
scheinung vermuten könne; den übrigen verborgen werde er 
nur den Geretteten bekannt. Die griechischen Texte lauten: 
'EEeXeuacTai t^p fivOpioTro^, cpncTiv 6 XPn^MÖ?» ^^^ (TTpaTapxOüv Kai 
TToXe^iBv lOvr) t€ ^€T<iXa Kai TroXudv6pu)Tra y(E.\p\ba^i(x\' OeioTcpa^ f\ 
KOTd cpiicTiv dvGpioTrivn? öipeu)^, fibn^o^ M^v ^T^poi^, ^övoi^ hl loxq 
äva(TuiZ;o^dvoi^ i^cpavri^- Profiscetur enim homo ille (Messias) 
atque belli dux (imperator) multas et magnas nationes supe- 
rabit. Divinior pro humana natura atque hominum opinione, 
ceteris quidem incognitus, solis autem eclectis cognitus erit. 
Diese Ideen von der menschlichen und göttlichen Natur des 



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— 24 — 

kommenden Erlösers finden wir bei manchen Propheten des 
Alten Bundes, und bezieht sich die erste direkt auf eine Schrift- 
stelle: cpriaiv 6 xpn^MÖ^» ut: ait prophetia, so lautet nämlich die 
Weissagung (des Balaam): 4. Buch Moses c. 24, v. 7. 

Philo lebte wohl zur Zeit des Heilandes, aber in der Welt- 
stadt Alexandria. Ob er persönlich etwas von Christus er- 
fahren hat, ist ims nicht bekannt. Darum ist sein Zeugnis 
ganz allgemein gehalten, gibt aber die Messiashoffnung seiner 
Umgebung wieder: 'EHcXeuaeTai, er wird ausziehen, er wird 
kommen! — Genaueres aber hören wir von einem anderen 
jüdischen Schriftsteller, welcher um jene Zeit in Jerusalem 
selbst lebte, dort geboren und erzogen war. 

12. Flavius Josephus berichtet von Christus. 

(„Antiquitatumludaicarum**, Jüdische Altertümer, 1. XVIII, 
c. 3, n. 3.) 

Der Schriftsteller Flavius Josephus wurde im Jahre 37 
n. Chr. zu Jerusalem von angesehenen Eltern geboren. Schon 
frühzeitig bekundete er bedeutende Anlagen, welche durch eine 
sorgfältige Erziehung ausgebildet wurden. Mit 19 Jahren schloss 
er sich den Pharisäern an, ohne jedoch der strengsten Richtung 
derselben zu huldigen. Etliche Zeit vor dem Ausbruche des 
jüdischen Krieges (a. 66 n. Chr.) begab er sich nach Rom, um 
ein Fürsprecher für einige gefangen gehaltene Freunde zu sein. 
Seine Reise war von Erfolg. In der grossen Stadt lernte er 
fremde Sitten und Gebräuche und kehrte als Weltmann zurück. 
Sein Hers war zwischen Rom und Jerusalem geteilt. Als bald 
hierauf die Juden sich gegen die römische Herrschaft erhoben, 
wurde er vom Hohen Rate zum Befehlshaber von Galilaea 
ernannt. Fast zwei Monate lang verteidigte er sich in der 
Festung Jotapata mit Mut und Geschick gegen den römischen 
Feldherrn Vespasjan. Nach Erstürmung derselben kam er in 
Gefangenschaft, verkündigte aber dem Vespasian und seinem 
Sohne Titus den römischen Kaiserthron. (Vgl. S. 12 f.) Als 
dies eingetroffen war, erhielt er die Freiheit und nahm aus 
Dankbarkeit d«h Namen Flavius an. Bei der Belagerung von 
Jerusalem weilte er im Lager des Titus und versuchte mehr- 
mals fruchtlos, die Juden zu einer freiwilligen Übergabe zu 
bewegen. Nach dem Falle der Stadt (a. 70) zog er mit nach 



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- 25 - 

Rom und erhielt das Bürgerrecht daselbst, nebst Jahresgehalt 
und Wohnung im Hause des Kaisers. Hier lebte er in Frieden 
und Ruhe bis zum Jahre 101 n. Chr., schriftstellerischen 
Arbeiten zugewandt, welche eine Aufnahme in die römische 
Staatsbibliothek fanden. Auch wurde ihm eine Statue (auf 
dem Forum Romanum) errichtet. (Cfr. Eusebii „Historiae Ec- 
clesiasticae" 1 III, c. 9.) In seinem Werke „Antiquitates lu- 
daicae**, Jüdische Altertümer, 1. XVIII, c. 3, n. 3, spricht er 
von dem römischen Landpfleger Pontius Pilatus (26 — 36 n. Gkr.) 
in Jerusalem und fährt dann weiter: 

riTV€Tai bi Kaxci toötov töv xpovov 'IncToö^ xi^, (Tocpö^ <ivf|Py 
€it€ fivbpa auTÖv X^Y^iv xpn- ?iv T^P irapaböHiov lpTU)v TTOiirrfi^, bibd- 
cXKaXo^ dvGpuiTruiv täv fibovq t' dXr]On bexo^^vuiv Kai ttoXXou^ iiiv 
noubaiou^, TToXXou^ bfe Kai dirö toO ^EXXtivikoO dTniTdT€TO. '0 XpicTT.ö^ 
ouTO^ fjv Kai auTÖv dvbeiHci tOuv Tipurruiv dvbpöv nap' fjjiiiv' (TTaupip 
dTTiTCTijLiTiKÖToq TTiXdTOu oök dTTaucTavTC ol TÖ TipdiTOV äfam\aoyTi.(;' 
icpdvr] tdp auTOiq xpiTTiv ?x^v f^^pav irdXiv Ciliv, tuiv Geiiov irpo- 
(pilToiv TaCra re Kai dXXa jiiupia irepi aÖToO OaujiidcTia elpHKÖTiov 
eiq Iti re vöv tOjv XpicTTiavdiv dirö loObe d)vo^a(T^^vlüV oök dir^XiTTC 
TÖ cpOXov (Cfr. Eusebii „Historiae Ecclesiasticae** 1. I, c. 11; 
„Demonstrationis Evangelicae" 1. III, c. 5, p. 124). 

lisdem temporibus lesus quidam f uit, vir sapiens, si tarnen 
virum eum appellare fas est. Erat quidem admirabilium ope- 
rum effector, doctorque eorum, qui veritatem libenti animo 
amplexabantur. Multos ille partim ex ludaeis partim ex gen- 
tilibus sectatores sibi adjunxit. Bic erat Christus. Quem a 
gentis nostrae delatum primoribus quum Pilatus crucis supplicio 
addixisset, ii twnen, qui illum dilexerant, eum deinceps colere 
non destiterunt. Tertio enim die vivus ac spirans eis apparuit, 
prout divini prophelae haec et alia quam plurima de illo mi- 
rifica praedixerant. Abhinc porro Christiailprum genus, qui 
ab eo nomen sumpserunt, ad nostram usque aetatem continua- 
tum manet. 

Um diese Zeit lebte Jesus, ein Mensch voll Weisheit, wenn 
man ihn überhaupt einen (gewöhnlichen) Menschen nennen darf. 
Er tat nämlich ganz unglaubliche Dinge (Wunder) und war 
Lehrer derjenigen Leute, welche gern die Wahrheit aufnahmen ; 
so zog er viele Juden und Viele aus dem Heidentume an sich. 
Er war der (verheissene) Messias. Auf die Anklage der Vor- 



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- 26 - 

nehmen bei uns verurteilte ihn zwar Pilatus zum Kreuzestode; 
gleichwohl wurden ihm die, welche ihn früher geliebt hatten, 
auch jetzt nicht untreu. Er erschien ihnen nämlich am dritten 
Tage wieder lebend^ wie gottgesandte Propheten neben tausend 
anderen wunderbaren Dingen von ihm vorausgesagt hatten. 
Noch bis jetzt hat das Volk der Christen, welche sich nach 
ihm benennen, nicht aufgehört zu existieren* 

Das Werk über „Die jüdischen Altertümer" vollendete 
Flavius Josephus erst gegen 94—95 unserer Zeitrechnung in 
Rom, während er inzwischen die Grabschrift seines Volkes 
„Über den jüdischen Krieg" (De hello ludaico) in 7 Büchern 
fertiggestellt hatte. Wie oben gesagt wurde, fanden seine 
Schriften eine Aufnahme im römischen Staats - Archive , in 
welchem sie vor willkürlichen Veränderungen und Zusätzen 
gesichert waren. Als nun Constantin nach dem Siege über 
Maxen tius (28. Oktober 312) in Rom eingezogen war, fielen 
ihm auch die Staats-Archive zu, deren Benützung er seinem 
Freunde, dem Geschichtsschreiber Eusebius Pamphili, freistellte. 
So konnte dieser das Original „der jüdischen Altertümer" für 
seine historischen und apologetischen Arbeiten verwenden. 
(Cfr. „Historiae Ecclesiasticae" 1. I c. 11, und 1. III, c. 9; sowie 
„Demonstrationis Evangelicae" 1. III, c. 5.) Seit dieser Zeit 
finden wir den griechischen Text des „Christus-Kapitel'' in allen 
Handschriften der „Jüdischen Altertümer" unverändert vor»). 
Darum ist die Behauptung, die Christen hätten dieses Kapitel 
unterschoben, wissenschaftlich nicht haltbar. Bis zum 16. Jahr- 
hundert blieb dasselbe unbeanstandet; erst seit dieser Zeit 
tauchen Zweifel auf. Man vergisst aber hierbei, dass schon 
die ältesten Kirchenschriftsteller, wie Eusebius, Hieronymus, 
Ambrosius, Cassiodorus u. a. dieses Zeugnis kennen und sich 
desselben bedienen. Demgegenüber hat ein Wahrscheinlich- 



1) Für die Textüberlieferung von den Tagen des Eusebius an und 
die folgenden Jahrhunderte ist es von grosser Bedeutung, dass seit Eu- 
sebius alle erhaltenen Handschriften, abgesehen von einigen ganz unerheb- 
lichen Verschiedenheiten, wie den Differenzen von Partikeln und Prä- 
positionen, z. B. : (iiniT(iT€TO für iitti^dyeTO ; iEciraOaovTO für iiraOaavxo u. dgl. ; 
genau übereinstimmen. Die kleinen Varianten sind auf Rechnung der 
Abschreiber zu setzen. 



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— 27 — 

keitsgrund keine Bedeutung. Zudem müssen wir auch die 
Zeit und Umstände genau erwägen, unter denen Flavius Jose- 
phus schrieb, um seine Angaben über Christus recht würdigen 
zu können. Er verfasste sein Werk zu Rom, nachdem Jeru- 
salem und sein Tempel schon längere Jahre zerstört in Schutt 
und Asche lagen. Der jüdische Staat war vernichtet, sfeine 
nationale Existenz war dahin: das Volk selbst irrte heimatlos 
und flüchtig in der ganzen Welt umher ohne Führer, ohne 
Tempel, ohne Altar und hohen Priester. Die Geschlechts- 
register der zwölf Stämme Israel waren mit dem Tempel- 
archive im Brande der Stadt vernichtet worden. Diesen tra- 
gischen Untergang seiner Nation hatte Flavius Josephus mit 
eigenen Augen gesehen und in den sieben Büchern „Über den 
jüdischen Krieg" beschrieben, ehe er sein Werk „Über die 
jüdischen Altertümer" vollendete. Ungehindert durch den Streit 
der Parteien, welche einst zu Jerusalem sich auf den Tod. be- 
feindeten, konnte er in dem fernen Rom ruhig und objektiv 
die Vergangenheit seines Volkes überdenken und geschichtlich 
aufzeichnen. Überdies von seinen Stammesgenossen wegen 
seines Anschlusses an die Römer gemieden, glaubte er auch 
keine Rücksicht mehr auf ihre Abneigung gegen den gekreu- 
zigten Messias nehmen zu sollen. Zudem sah er in dem Masse, 
wie das Judentum versank, das junge Christentum sich er- 
heben und aufblühen. In seiner Jugendzeit (ca. 52 n. Christus) 
wurde das Appstelkonzil zu Jerusalem gehalten, die 12 Send- 
boten des H^rrn predigten in der ganzen Welt, die 4 hl. Evan- 
gelien wurden geschrieben, und viele Heiden und Juden glaubten 
dem Worte Gottfes. In Rom selbst war sc^on eine Christen- 
gemeinde, und die Apostelfürsten Petrus und Paulus hatten 
hier im Jahre 67 den Martyrtod erlitten. Sogar in der Flavi- 
schen Regentenfamilie zählte das Christentum seine Bekeniier: 
den Konsul Titus Flavius Clemens und die edle Jungfrau 
Flavia Domitilla. Unter diesen Umständen konnte Flavius 
Josephus das Referat über „Christus" ungefährdet nieder- 
schreiben. Für die Heiden war ja Christus der vielgenannte 
Stifter einer neuen Religionsgesellschaft , für die Juden freilich 
der gehasste Jesus von Nazareth, für die Christen aber der ver- 
heissene Messias. Das Zeugnis des Flavius Josephus ist so vor- 
sichtig gehalten, dass er dasselbe überall verteidigen konnte. 



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-^ 28 - 

Heiden und Christen hatten nichts dagegen einzuwenden, 
und der Zorn der Juden konnte ihm nichts anhaben, denn er 
stand in der Gunst des kaiserlichen Hauses. 

Wir Christen sind zwar auf dieses Zeugnis nicht beson- 
ders angewiesen, um die Wahrheit unserer hl. Religion ?u ver- 
teidigen. Wir haben andere und sichere Gründe dafür, immer- 
hin ist es wertvoll als geschichtliches Dokument nebei^ den 
vier Evangelien-Schriften. Es beweist nämlich: 1. "bie ge- 
schichtliche Existenz Jesu Christi; 2. seine weise Lehrmethode; 
3. seine Wunder; 4. den Hass der regierenden Volkspartei; 

5. seinen Kr^euzestod unter dem Landpfleger Pontius Pilatus; 

6. seine Auferstehung am dritten Tage; 7. die treue Liebe 
seiner Jünger, und 8. die Fortdauer seiner Kirche. — Die Echt- 
heit dieses „Christus-Kapitel" in seinem vollen Umfange ver- 
teidigen u. a. in neuerer Zeit: Prälat Kaulen „Des Flavius 
Josephus Jüdische Altertümer", Anmerkung zu Buch 18, Kap. 3; 
Kneller, S.J. „Stimmen aus Maria-Laach", 53. Bd., S. 1 f., 1897: 
Seite 7 : „Das Christus-Kapitel ist von Seiten der Überlieferung 
ebenso gesichert, wie nur irgend eines im Josephus". Femer 
Professor Anton Seitz zu München „Christus Zeugnisse aus dem 
klassischen Altertume", Seite 9 f. Cöln bei J. P. Bachem 1906. 

13. Suetonius über Christus und die Christen. 

Der römische Geschichtsschreiber Suetonius Tranquillus, 
geboren nach der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.), war 
Sachwalter und zeitweilig Sekretär des Kaisers Hadrian (117 
bis 138). Auch verfasste er einen Literaturbericht und die 
Lebensbeschreibung der römischen Kaiser von Julius Caesar 
bis auf Nerva. In seiner Biographie des Claudius erzählt er: 
„ludaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma ex- 
pulit" (1. V, c. 25). Claudius verbannte die Juden aus Rom, weil 
sie auf Anstiften eines gewissen Chrestus in beständiger Un- 
ruhe sich befanden. Damit stimmt überein, was der Evangelist 
Lucas in der Apostelgeschichte c. 18, v. 2 erwähnt. Er sagt 
nämlich: Paulus habe auf seiner zweiten grossen Missionsreise 
im Jahre 53 den Aquilas nebst Priscilla zu Korinth angetroffen, 
welche von^ Italien dahin gekommen waren, weil der Kaiser 
Claudius befohlen hatte, dass alle Juden aus Rom sich ent- 
fernen müssten. Als Grund für die Ausweisung gibt Suetonius 



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— 29 — 

an: Auf Anstiften eines gewissen Chrestus sei die römische 
Judenschaft in beständiger Unruhe gewesen. Höchst wahr- 
scheinlich ist hiermit Christus, der Erlöser gemeint, über wel- 
chen die Juden durch die Predigt des Apostels Petrus auf dem 
Pfingstfeste zu Jerusalem (Apostelgeschichte c. 2, 10), und 
später in Rom selbst (ibidem c. 12, 27) genauere Kunde er- 
hielten. 

Es waren daher dogmatische Fragen zur Diskussion ge- 
stellt: ob Jesus von Nasaret h der Gekreusigte^ der CkristuSy d,h. 
der rerheissene Messias sei oder nicht. Von diesen sehr lebhaft 
geführten Erörterungen in der römischen Judenschaft berichtet 
Lucas : Apostelgeschichte c. 28. v. 23—30. Als nämlich Paulus 
nach Rom gekommen war, beschied er die Juden zu sich in 
die Herberge und hielt unermüdlich Vorträge von dtesem Thema, 
indem er aus Moses und den Propheten tiberzeugend nachwies, 
dass Jesus von Nazareth der Christus sei : „Nachdem er ihnen 
dieses gesagt hatte, gingen die Juden weg von ihm, während 
viel Streitens unter ihnen war''. (Vers 29.) Die Bemühungen 
der Apostel hatten den Zweck, die Annahme des Christentums 
in Rom zu erwirken, was auch bei sehr vielen erreicht wurde. 
(Cfr. Ep. ad Romanos I, 7—9.) Aus, diesem Grunde gab es 
ausser den theologischen Differenzen unter den Heiden, Juden 
und Christen auch noch weitgreifende gesellschaftliche Unter- 
schiede und Folgen. Das alles fasst Suetonius mit dem Aus- 
drucke zusammen : Claudius Imperator ludaeos impülsore Chresto 
assidue tumultantes Roma expulit. Dass aber unter Chrestus 
wirklich Jesus Christus zu verstehen sei, entnehmen wir aus 
dem Kirchenschriftsteller TertuUian (160 nach Chr.), welcher 
in seiner Apologie c. 8 sagt: „quum perperam CAr^stianus (pro 
Chr/stianus) a vobis pronunciatur". Und in seinem Buche „Ad 
nationes" 1. I, c. 8: „quum corrupte a vobis <Chr^stiani' pro- 
nunciatur". Das Wort: Christianus (ein Christ) wird von euch 
falsch: Chr^stianus ausgesprochen. Bei den Römern war es 
üblich: Christus für Chr/stus, Chr^stianus statt Chr/stianus zu 
sagen. Und so hat wohl Suetonius die Schreibweise Chrestus 
aus der von ihm benutzten Staatsurkunde der kaiserlichen 
Erlasse des Claudius entnommen und beibehalten. In dama- 
liger Zeit glaubte man, Juden und Christen seien eine zusam- 
mengehörende Religionsgenossenschaft, bis unter dem Kaiser 



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- 30 - 

Nero eine Scheidung eintrat. In der Lebens-Beschreibung des- 
selben sagt nämlich Suetonius (L VI, c. 16): „Afflicti Christiani 
suppliciis, genus hominum superstitionis novae et maleficae^. 
Die Christen wurden mit dem Tode bestraft ; sie bilden näm- 
lich eine Menschensorte, welche einen neuen (nicht staatlich an- 
erkannten) und schädlichen (wegen der grossen Propaganda) 
Aberglauben eingeführt haben. 

Als der Kaiser Nero die alte Stadt Rom in Brand gesetzt 
hatte, um eine neue Stadt bauen zu können, liess er sich von 
den Juden aufreizen, den Verdacht von sich abzulenken und 
die Christen als Schuldige hinzustellen. Nur so dachte er 
den Zorn des erbitterten Volkes besänftigen zu können. Die 
Christen wurden hierauf in der grausamsten Weise hingerichtet: 
die lebenden Fackeln des Nero! Als Hof -Biograph meint aber 
Suetonius: Die Christen hatten eine solche Strafe verdient; denn 
sie bilden eine Menschenklasse, welche sich erkühnt haben, 
einen neuen und schädlichen Kultus einzuführen. Nach heid 
nischer Auffassung stand es bloss dem römischen Senate zu, 
eine neue Religionsübung zu gestatten. Auch vermochte man 
nicht zu begreifen, wie die Christen es wagen konnten, gegen 
alle Sitte und abweichend von dem römischen Volksglauben, 
nur einen und dazu noch gekreuzigten Gott anzubeten. Her- 
kömmlich wurden die Sklaven allein, die geringste Menschen- 
sorte, zur Strafe ihrer Frevel an das Kreuz geschlagen. Zu- 
dem hielten sich die Christen von den glanzvollen Begehungen 
der heidnischen Staatsreligion ganz fern. Das beleidigte den 
Stolz der hochfahrenden Römer. Schliesslich hegten dieselben 
noch die Besorgnis, durch die erfolgreiche Propaganda für das 
Christentum würden die Tempel ihrer Götter verödet. Dies 
bezeugt ausdrücklich Plinius, der Jüngere, in einem Briefe an 
den Kaiser Trajan, deren beider Freund Suetonius war. (Epi- 
stola 96. editionis Keil, Leipzig 1886.) Also: Hinweg mit den 
Christen, welche eine neue und schädliche Religion ohne Er- 
laubnis des römischen Senates eingeführt haben! Aus diesen 
Gründen war Suetonius gegen die Christen eingenommen und 
eine gerechte Würdigfung derselben ihm nicht möglich. (Cfr. 
Evgl. S. Matthaei c. 24, 9 sq.; I. ad Corinthios 1,23.) 



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- 31 — 

14* Die Ahnungen des Cicero von der Aufgabe des Evangeliums. 

Der römische Redner Marcus TuUius Cicero war geboren 
zu Arpinum am 3. Januar 106 und starb (ermordet) am 7. De- 
zember 43 V. Chr. Von seiner Jugend an widmete er sich 
mit ungewöhnlichem Fleisse und hohem Ernste den vielseitig; 
sten literarischen Arbeiten, um seine guten Anlagen gründlich 
auszubilden. Er studierte zu Rom, Athen und Rhodus, wo er 
die vorzüglichsten Meister hörte und sich auf das Amt eines 
Gerichtsredners und feinen Stilisten allseitig vorbereitete. Seine 
Schriften sind zahlreich und bleiben ein Muster der lateinischen 
Sprache. Obgleich er zu Rom in einer sehr verdorbenen Um- 
gebung lebte, so lassen doch nur wenige Stellen in seinen 
vielen Abhandlungen das Zartgefühl vermissen. Wie S. Augu- 
stinus „Confessionum" 1. III, c. 4 bemerkt, hat Ciceros Schrift 
„Hortensius" ihn mit hoher Begeisterung und grossem sittlichen 
Ernst erfüllt und zu Gott hingelenkt, so dass er ein besserer 
Mensch geworden sei. 

In unseren Tagen („Deutsche Rundschau** 1899) sagt 
E. Hühner von Cicero, derselbe habe aus dem gesamten Er- 
trage der griechischen Philosophie mit grossem Takte zuerst 
das herausgehoben, was seitdem ein Gemeingut der höheren 
Bildung aller Zeiten geblieben ist. 

In seinem Werke „De republica" 1. III, c. 22 eilt Cicero 
sogar ahnend der grossen Weltaufgabe voraus, welche bald 
nach il^m das Christentum in Angriff nehmen sollte. Die be- 
treffenden Worte lauten : „Non erit alia lex Romae, alia Athenis, 
alia nunc, alia posthac; sed et omnes gentes et omni tempore 
una lex sempiterna et immutabilis continebit, unusque erit 
communis quasi magister et Imperator omnium: Dens! Und 
nicht mehr wird ein anderes Gesetz in Rom herrschen, ein 
anderes in Athen, ein anderes für die Gegenwart, ein anderes 
für die Zukunft, sondern alle Völker aller Zeiten wird ein Gesets 
ewig und unwandelbar umfangen, und es wird über alle gleich- 
sam nur ein Lehrer und Herrscher walten: Gott! 

Hierin liegt eine Vorbedeutung der segensreichen Wir- 
kung des Evangeliums Jesu Christi, in welchem die Sehnsucht 
der ganzen Menschheit erfüllt wird. Nicht lange Jahre nach 
Ciceros Tode erschien der Welterlöser und hinterliess seinen 



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— 32 — 

Jüngern den Auftrag: „Gehet hin in alle Welt, lehret alle Völker 
und taufet sie . . . Lehret sie auch, alles zu halten, was ich 
euch befohlen habe. Siehe: ich bin bei euch alle Tage bis 
zur Vollendung der Weltzeit!" Vgl. Evgl. S. Matthaei 28, 19 
u. 20. Folgsam dem Worte des Heilandes zogen die Apostel 
aus Jerusalem und predigten tiberall, indem der Herr mit ihnen 
wirkte und ihre Rede bestätigte durch die nachfolgenden Zeichen 
(Wunder). Nach Markus' Evgl. 16, 20. 

Über den tatsächlichen Erfolg dieser weltumfassenden 
evangelischen Verkündigung berichtet am Schlüsse des 2. christ- 
lichen Jahrhunderts S. Irenaeus, Bischof und Märtyrer zu Lyon 
(177 — 202), wenn er sagt: „Ecclesia Christiana etsi per orbem 
Universum usque ad extremos terrae fines dispersa est, fidem 
(doctrinam atque disciplinam) tamen eam, quam ab Apostolis 
eorumque discipulis accepit, summo studio et cura perinde at- 
que unam domum incolens conservat, atque velut animam unam 
unumque idemque cor habens, his aeque fidem accommodat, 
et miro consensu quasi uno ore praedita. haec praedicat et 
docet et tradit. Quamquam enim dispares inter se linguae simt, 
una tamen et eadem est traditionis vis (Inhalt) ac neque eae^ 
quae in Germania sitae sunt Ecclesiae aliter credunt aut aliter 
tradunt, neque quae in Hispaniis^ aut Galliis, aut in Oriente, 
aut in Aegypto^ aut in Mediterraneis orhis regionibus sedem 
habent. 

Verum ut Sol hie a Deo conditus in universo mundo unus 
atq[ue idem est, ita etiam veritatis praedicatio passim (an allen 
Orten) lucet, omnesque homines, qui ad veritatis Cognitionen! 
venire cupiunt, illustrat." S. Irenaei „Ad versus omnes haereses" 
1.1, c. lOsq.i). 

Die christliche Kirche ist nunmehr über die ganze Welt 
bis zu den äussersten Grenzen der Erde verbreitet. Aber den 
Glauben, welchen sie von den Aposteln und deren Jüngern 
empfangen hat, bewahrt sie mit höchstem Eifer und treuester 
Sorge, gleichsam als bewohnte sie nur ein Haus, und sei mit 
nur einer Seele und ein und demselben Herzen begabt*). Auch 

^) Der griechische Text der kursiv gedruckten Worte lautet : Kai oÖt€ a\ 
bt r€p|uav(ai(; ibpu}ji^vat *EKKXr]ö(ai äXXuj^ ireTTiaxcOKadiv f\ dXXuu^ irapaöiööaatv, 
oÖT€ ^v Ta1(; 'lßr)p{ai(; ktX. 

*) Vergleiche die grosse Bemühung, welche sich in der Encyclica 



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— 33 — 

vertraut sie der apostolischen Wahrheit gleichmässig, und in 
wunderbarer Übereinstimmung wie mit einem Munde predigt, 
lehrt und überliefert sie dieselbe. Obgleich nämlich die Sprachen 
unter sich verschieden sind, so ist der Inhalt der kirchlichen 
Lehre und Überlieferung dennoch ein und derselbe. Und so 
kommt es, dass die Kirchen, "welche in Germanien (Deutschland: 
Trier, Mains und Cöln) gegründet sind, keinen anderen Glauben 
und keine andere Überlieferung haben, als diejenige, welche in 
Spanien, Gallien (Frankreich), im Morgenlande, in Ägypten^ in 
Afrika und in den Gegenden des mittelländischen Meeres (Italien: 
Rom; Griechenland: Athen u, s.f) ihren Sits haben. Denn 
gleichwie unsere von Gott erschaffene Sonne auf der ganzen 
Welt eine und dieselbe ist, so strahlt auch die Verkündigung 
der christlichen Wahrheit an allen Orten, und erleuchtet alle 
Menschen, welche Verlangen haben, zur Erkenntnis der Wahr- 
heit zu kommen. 

Wenn wir nun an dieser Stelle die Worte des Cicero: 
„Und nicht mehr wird ein anderes Gesetz in Rom herrschen, 
ein anderes in Athen" u. s. f., mit der obigen Darlegung des 
hl. Irenaeus vergleichen, so gelangen wir zu dem Resultate, 
dass seine Ahnungen von einem die ganze Weit und alle Zeiten 
umfassenden einheitlichen Gottesreiche sich in der christlichen 
Kirche wunderbar erfüllt haben. 

15. Tacitus erzählt über Christus und die Christen. 

Von den idealen Anschauungen eines Cicero in der repu- 
blikanischen Zeit waren die Ansichten der Historiker aus den 
Tagen der Kaiser weit entfernt. Sie hielten nämlich den römi- 
schen Staat für die einzige Quelle alles Rechtes. Aus diesem 
Grunde besassen sie noch kein Verständnis für das Christen- 
tum, welches seine Existenzberechtigung aus einer höheren 
und geistigen Welt herleitete und die geforderte Anbetung 
der Cäsaren Oberhoheit versagte. Bei dieser grundsätzlichen 
Verschiedenheit der gegenseitigen Rechtsbegriffe konnte eine 
für die Christen höchst schmerzliche Auseinandersetzung nicht 
ausbleiben. Wie schon S. 30 f. angegeben wurde, entstand im 



Pius* X. vom 8. September 1907 „Pascendi Dominici Gregis" kund gibt, 
um die Reinheit des Glaubens in unseren Tagen zu bewahren. 
Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 3 



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- 34 - 

Jahre 64 n. Chr. ein furchtbarer Brand zu Rom, welcher sechs 
Tage und sieben Nachte anhielt und einen grossen Teil der 
alten Stadt vernichtete. Manche nun beschuldigten den Kaiser 
Nero, dieses Flammenmeer verursacht zu haben, um eine neue 
und schönere Stadt zu gewinnen. Aber wenn auch die Römer 
schon gelernt hatten, von ihren Kaisem sehr Hartes zu erdulden, 
so erweckte dennoch jene mutwillige Barbarei eine grosse und 
bedrohliche Aufregung im Volke. Damit er nun das Gehässige 
der Tat von sich abwälzen könne, verfiel Nero auf ein bos- 
haftes Mittel. Doch wollen wir hierüber den Geschichtsschreiber 
Tacitus vernehmen, welcher ca. 54 n. Chr. geboren das Un- 
glück seiner Vaterstadt persönlich erlebt und beschrieben hat. 
Er starb ungefähr 120 n. Chr. In den „Annalen", oder, wie 
sie in der ersten Mediceischen Handschrift bezeichnet werden, 
die Bücher „ab excessu divi Augusti", 1. XV, c. 38 sq. erzählt 
er diesen Vorgang, und kommt dann c. 44, n. 10 sq. auf die 
Beschwichtigungsversuche des Kaisers Nero zu sprechen: „Ergo 
abolendo (,Romae incensae*) rumori Nero subdidit reos et quae- 
sitissimis poenis adfecit, quos per flagitia invisos vulgus Chri- 
stianos appellabat. Auetor nominis ejus Christus Tiberio im- 
peritante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio (crucis) 
adfectus erat: repressaque in praesens exitiabilis superstitio 
rursus erumpebat, non modo per ludaeam^ originem ejus mali, 
sed per urbem etiam (Romanam), quo cuncta undique atrocia 
aut pudenda confluunt celebranturque. Primum igitur correpti 
qui fatebantur, deinde indicio eorum multitudo ingens haud 
perinde in crimine incendii, quam odio generis humani convicti 
sunt" 1). Um dieses Gerücht zu unterdrücken (der Kaiser habe 



1) Dieses Zeugnis ist um so bedeutsamer, als Tacitus seine Angabe 
machte auf Grund von eigenen Prüfungen, deren Spuren gerade an dieser 
Stelle sich nachweisen lassen. Wie nämlich die neueren Untersuchungen 
der diesbezüglichen Handschrift zeigen, stand an der Stelle „quos vulgus 
Christianos appellabat", nicht Chr/stianos, sondern Chr^tianos; dagegen 
ist gleich darauf Chr/stus und nicht Chr^tus (cfr. Seite 28 und 29: auctore 
Chr^to, nach Suetonius) geschrieben. Prof. Adolph Harnack, von welchem 
wir diese Mitteilung entnehmen, bemerkt dazu : „Nun ist alles klar, Tacitus 
sagt, das Volk nenne diese Sekte: Chr^tiani, er aber — auf besseres 
Wissen gestützt, wie ja auch Plinius (vgl. Seite 36 sq.) Chnstiani schreibt — 
korrigiert stillschweigend diese Bezeichnung, indem er den auctor nominis 



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- 35 - 

selbst die Stadt anzünden lassen) gab Nero andere als schuldig 
an und verhängte die ausgesuchtesten Strafen über jene, welche 
das Volk allgemein Christen nannte, und die wegen ihrer 
Schandtaten verhasst waren. Der ursprüngliche Träger jenes 
Namens: Christus war unter der Regierung des Tiberius durch 
den Statthalter Pontius Pilatus mit dem (Kreuzes-)Tode bestraft 
worden. Für den Augenblick schien nun jener verderbliche 
Aberglaube zurückgedrängt zu sein; bald aber brach er sich 
wieder Bahn, nicht bloss im Gebiete von Judaea, dem Herde 
dieses Übels, sondern auch in der Stadt Rom, wohin alles Un- 
glückdrohende und Schändliche zusammenströmt und verbreitet 
wird. Man ergriff zunächst diejenigen, welche ein Geständnis 
ablegten. Sodann wurde auf ihre Anzeige hin eine zahllose 
Menge, nicht sowohl wegen des Verbrechens der Brandstiftung 
als des Hasses der menschlichen Gesellschaft für schuldig er- 
kannt. — Nach kurzer Schilderung der furchtbaren Peinen, 
welche nunmehr über die Christen verhängt wurden, schliesst 
Tacitus: „Unde quamquam ad versus sontes et novissima exempla 
meritos miseratio oriebatur lamquam non utilitate publica, sed 
in saevitiam unius absumerentur". Und so regte sich denn 
Mitleid gegen die Christen, welche gleichwohl schuldig waren 
und die härtesten Strafen verdienten, gleichsam als ob sie nicht 
zur öffentlichen Wohlfahrt, sondern um der Grausamkeit eines 
Einzigen wegen in grosser Masse getötet würden. Aus der 
ganzen Darstellung geht hervor, dass Tacitus in seinem Ur- 
teile über die Christen ungerecht ist. Obgleich er den ver- 
leumderischen Charakter der gegen dieselben erhobenen An- 
klage der Brandstiftung dargelegt hat, hält er sie gleichwohl 
für schuldig und grösster Bestrafung würdig. Auch schenkt 
er den landläufigen Beschuldigungen der Christen ein williges 
Gehör: sie seien ein lichtscheues und gefährliches Gesindel, 
welches die Adorierung der Götter- und Kaiserbilder ablehne 
und durch Fernbleiben von den prunkvollen Begehungen der 



richtig „Chnstus" nennt. Schliesslich ist noch darauf hinzuweisen, dass 
die Zeitform „appellabat" auffallend ist. Warum schrieb Tacitus nicht 
„appellat'9 Wollte er andeuten, dass maxi/efzf allgemein über den Ursprung 
dieses Namens aufgeklärt sei ?'* Vgl. Harnack, „Die Mission und Ausbreitung 
des Christentums iri den drei ersten Jahrhunderten". Leipzig 1902, S. 297! 



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- 36 - 

vaterländischen Religion das Nationalgeftihl des weltbeherrschen- 
den Römers beleidige. Und Tacitus eiferte für die Wiederher- 
stellung des altrömischen Wesens in allen seinen Schriften. 
Darum kannte er keine Schonung für die Christen, welche ihm 
verhasst waren. Sein Zeugnis aber für Jesus Christus und 
dessen Kreuzestod unter Pontius Pilatus ist immerhin wertvoll 
als geschichtliche Nachricht. . 

16. Das Zeugnis des Plinius Junior. 

Ein Freund des Geschichtsschreibers Tacitus und des 
Kaisers Trajan war Plinius Caecilius Secundus Junior. Geboren 
im Jahre 61 oder 62 n. Chr. starb er 114 zu Rom. Von seinem 
Oheim Plinius Secundus Major, dem Verfasser der Historia 
Naturalis (Naturgeschichte) in die Wissenschaft eingeführt, 
weilte 111—113 als kaiserlicher Statthalter in Bithynien (Klein- 
Asien). Das Christentum hatte sich durch die Wirksamkeit 
der Apostel (vgl. I. ep. S. Petri c. 1, v. 1 sq.) auch in dieser 
Provinz sehr ausgebreitet, so dass der neue Landpfleger darüber 
erstaunte und nicht recht wusste, ob er milde oder strenge 
gegen die Christen auftreten sollte. Von einigen Prätoren war 
bereits ein gerichtliches Verfahren eingeleitet worden, welches 
die Todesstrafe über dieselben ausgesprochen hatte. Um nun 
sicher zu gehen, wendete sich Plinius an den Kaiser Trajan, 
damit er Verhaltungsmassregeln erhalte. Sein Gesuch hat 
folgenden Wortlaut: 

C. Plinius Trajano Imperatori S. D. P,! 

Solemne est mihi, Domine, omnia de quibus dubito ad 
Te referre. Quis enim potest melius vel cunctationem meam 
regere, vel ignorantiam exstruere? Cognitionibus de Christianis 
interfui numquam: ideo nescio quid et quatenus aut puniri 
soleat aut quaeri. Nee mediocriter haesitavi, sitne aliquod dis- 
crimen aetatum, an quamlibet teneri nihil a robustioribus difl*e- 
rant, detur poenitentiae venia, an ei qui omnino Christianus 
fuit desisse non prosit, nomen ipsum, si flagitiis careat, an fla- 
gitia cohaerentia nomini puniantur. Interim in iis, qui ad me 
tamquam Christiani deferebantur, hunc secutus sum modum. 
Interrogavi ipsos an essent Christiani. Confitentes iterum ac 
tertio interrogavi, supplicium minatus: perseverantes duci (ad 
supplicium) iussi. Neque enim dubitabam, qualecunque esset 



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— 37 - 

quod fraterentur, pertinaciam certe et inflexibilem obstinationem 
debere puniri. Fuerunt alii similis amentiae, quos, quia cives 
Romani erant, adnotavi in urbem remittendos. Mox ipso trac- 
tatu, ut fieri solet, diffundente se crimine plures species inci- 
derunt. Propositus est libellus sine auctore multorum nomina 
continens. Qui negabant esse se Christianos aut fuisse, quum 
praeeunte me deos appellarent et imagini Tuae, quam propter 
hoc iusseram cum simulacris numinum adferri, ture ac vino 
supplicarent, praeterea male dicerent Christo, quorum nihil cogi 
posse dicuntur, qui re vera sunt Christiani, dimittendos esse 
putavi. Alii ab indice nominati esse se Christianos dixerunt 
et mox negaverunt; fuisse quidem, sed desisse, quidam ante 
plures annos, non nemo ante viginti quoque. Omnes et ima- 
ginem Tuam deorumque simulacra venerati sunt et Christo 
male dixerunt. Affirmabant autem hanc fuisse summam vel 
culpae suae vel erroris, quod essent soliti stato die ante lucem 
convenire carmenque Christo quasi Deo dicere secum invicem^ 
seque sacramento non in scelus aliquod obstringere, sed ne 
furta, ne iatrocinia, ne adulteria committerent, ne fidem falle- 
rent, ne depositum appellati abnegarent: quibus peractis morem 
sibi discedendi fuisse rursusque coeundi ad capiendum cibum, 
promiscuum tamen et innoxium; quod ipsum facere desisse 
post edictum meum, quo secundum mandata Tua hetaerias esse 
vetueram. Quo magis necessarium credidi ex duabus ancillis, 
quae ministrae dicebantur, quid esset veri etiam per tormenta 
quaeri. Nihil aliud inveni quam superstitionem pravam, im- 
modicam. Ideo dilata cognitione ad consulendum Te decucurri. 
Visa est enim res digna consulatione, maxime propter pericli- 
tantium numerum. Multi enim omnis aetatis, omnis ordinis, 
utriusque sexus etiam vocantur in periculum et vocabuntur. 
Neque civitates tantum sed vicos etiam atque agros super- 
stitionis istius contagio pervagata est: quae videtur sisti et 
corrigi posse. Certe satis constat prope iam desolata templa 
coepisse celebrari et sacra sollemnia diu intermissa repeti pas- 
turaque venire victimarum, cuius adhuc carissimus emptor in- 
veniebatur. Ex quo facile est opinari, quae turba hominum 
emendari possit, si sit poenitentiae locus. Vale! 

Plinius sagt dem Kaiser Trajan bestes Heil! 
Es ist mir zur Gewohnheit geworden, über alles, was mir 



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-^ 38 -- 

Zweifel verursacht, an Dich, o Herr, zu berichten. Wer näm- 
lich ist besser imstande, mein Zaudern zu beseitigen und meine 
Unkenntnis zu belehren? Gerichtlichen Verhandlungen über 
die Christen habe ich niemals beigewohnt; daher ist mir unbe- 
kannt, was hierbei als Straf Objekt angenommen wird, oder 
wie weit die Untersuchungen sich su erstrecken pflegen. Und 
nicht in geringem Masse bin ich unschlüssig, ob nicht etwa 
eine Rücksicht auf die Altersstufen zu nehmen ist, oder ob die 
ganz Zarten (Schwachen) in gleicher Weise wie die Stärkeren 
zu behandeln sind; soll nicht für die reuige Gesinnung eine 
Verzeihung sein, oder wird es demjenigen, welcher zwar früher 
ein Christ war, jetzt aber nicht mehr, keinen Vorteil bringen; 
ist vielleicht der blosse Name: Christ, auch wenn er frei von 
Verbrechen ist, schon hinreichend zur Bestrafung, oder sind 
die Übeltaten, welche mit dem christlichen Namen als solchem 
verbunden sind (nach dem Volksglauben : Verachtung der Götter, 
^enschenhass, Hochverrat u. s. f.) ein Strafobjekt? Inzwischen 
habe ich gegen diejenigen, welche mir als Christen angezeigt 
wurden, nachstehendes Verfahren eingeschlagen. Ich befragte 
dieselben, ob sie Christen seien. Die Geständigen fragte ich 
wiederum und zum dritten Male, indem ich ihnen Todesstrafe 
androhte. Die nun standhaft blieben, Hess ich zur Strafe ab- 
führen. Ich zweifelte nämlich keineswegs, was auch immer 
ihr Geständnis sein mochte, dass ihre Hartnäckigkeit und ihr 
unbeugsamer Starrsinn (Widersetzlichkeit gegen die römischen 
Staatsgesetze) auf jeden Fall zu bestrafen seien. — Andere gab 
es zwar von ähnlicher Torheit; ich habe sie aber, weil sie 
römische Bürger waren, in das Verzeichnis derer eingetragen, 
welche (da sie an den Kaiser appelliert hatten) nach Rom zu 
schicken sind. — Bald aber zeigte sich in der Gerichtsver- 
handlung, wie es zu geschehen pflegt, dass bei dem weitver- 
zweigten Verbrechen (der Christen) mehrere Unterschiede zu 
machen waren. Es wurde nämlich ein Verzeichnis ohne Unter- 
schrift mit den Namen vieler Christen vorgelegt. Die nun 
leugneten, Christen zu sein oder gewesen zu sein, habe ich 
frei entlassen, besonders, da sie auf mein Vorbeten die Götter 
anriefen, und Dein Bild, welches ich deshalb mit den Statuen 
der Götter bringen liess, durch Spendung von Weihrauch und 
Wein göttlich verehrten und überdies noch auf Christus schmäh- 



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-- 5^ - 

ten. Man sagt nun, dass die echten Christen sich hierzu durch- 
aus nicht bewegen liessen. (Vgl. S. Polycarpus.) Andere da- 
gegen, welche im Verzeichnisse angegeben waren, sagten zivar, 
sie seien Christen, bald aber leugneten sie es : sie wären früher 
Christen gewesen, jetzt aber nicht mehr; einige vor mehreren 
Jahren, manche auch vor zwanzig Jahren. Alle haben sowohl 
Dein Bild verehrt als auch die Statuen der Götter, auf Christus 
aber schmähten sie. Sie beteuerten als ihre Hauptschuld und 
ihren grössten Irrtum, dass sie gewohnt seien, an einem be- 
stimmten Tage („Sonntag") vor Sonnenaufgang zusammen- 
zukommen und Christus als Gott im Weckselgesange ein Lob- 
lied darzubringen und sich heilig su verpflichten, kein Ver- 
brechen zu begehen: keinen Diebstahl, keinen Strassenraub, 
keinen Ehebruch auszuführen, nicht das gegebene Wort zu 
brechen, auch nicht das anvertraute Gut abzuleugnen; hierauf 
hätten sie die Sitte gehabt nach Hause zu gehen und bald 
wieder sich zu versammeln, um eine Speise zu nehmen, welche 
gemeinschaftlich sowie unschuldig war. Sie hätten das aber 
sofort unterlassen, nachdem ich gemäss Deinem Auftrag einen 
Befehl erliess, durch welchen y^die geheimen Gesellschaften^ 
untersagt waren. Um so mehr hielt ich es für nötig, durch 
Anwendung der Folter aus zwei Dienstmägden, welche „Z)/a- 
konissen^ genannt wurden, in Erfahrung zu bringen, was Wahres 
an der Sache sei. Ich fand aber nichts, als einen verkehrten 
und tiberspannten Aberglauben. Darum habe ich das Gerichts- 
verfahren eingestellt, um Deinen Rat einzuholen. Denn die 
Angelegenlieit scheint mir der Überlegung wert, besonders 
wegen der grossen Ansaht der Gefährdeten. Viele nämlich 
aus jedem Alter, jedem Stande, Männer wie Frauen, sind und 
kommen in Gefahr. Und nicht bloss in die Städte, sondern 
auch in die Dörfer und auf das flache Land hat sich die An- 
steckung dieses Aberglaubens verbreitet: es scheint mir aber, 
dass derselbe zum Stillstande und zur Einsicht gebracht wer- 
den kann. Gewiss ist es schon zur Genüge bekannt, dass die 
fast ganz verödeten Tempel (unserer Götter) wieder besucht 
werden, und die schon seit geraumer Zeit unterlassenen feier- 
lichen Opfer wieder in Übung kommen, dass ausserdem noch 
Futter für die Opfertiere beschafft wird; für dasselbe fand sich 
bisher nur höchst selten ein Käufer. Aus allem diesem kann 



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man sich leicht einen Begriff machen, eine wie grosse Anzahl 
von Menschen gebessert werden kann, wenn ihnen Zeit zur 
Besinnung geschenkt wird. Lebe wohl! 

Der Kaiser gab folgenden Bescheid: 
Trajanus Plinio S. Z). P.! 

Actum quem debuisti, mi Secunde, in excutiendis caussis 
eorum qui Christian! ad te delati fuerant secutus es. Neque 
enim in Universum aliquid, quod quasi certam formam habeat, 
constitui potest. Conquirendi non sunt: si deferantur et argu- 
antur, puniendi sunt, ita tarnen, ut qui negaverit se Christianum 
esse idque re ipsa manifestum fecerit, id est: supplicando Diis 
nostris, quamvis suspectus in praeteritum, veniam ex poeni- 
tentia impetret. Sine auctore vero propositi libelli in nullo 
crimine locum habere debent. Nam et pessimi exempli, nee 
nostri saeculi est. Vale! 

Trojan entbietet dem Plinius seinen Gruss! 

Bei dem gerichtlichen Verfahren gegen diejenigen, welche 
Dir als Christen angezeigt wurden, hast Du, mein Secundus, 
pflichtmässig gehandelt. Denn hierin lässt sich keine allgemein 
gültige Regel aufstellen. Die Christen sollen nicht aufgesucht 
^werden. Bringt man sie jedoch zur Anzeige und überführt sie 
(als Christen), so sind dieselben zu bestrafen; mit der Mass- 
gabe, dass die, welche leugnen, Christen zu sein, um ihrer 
Reue willen Verzeihung erhalten, auch wenn sie mit Bezug 
auf ihre Vergangenheit Bedenken erregen. Ihre Gesinnes- 
änderung müssen sie aber durch die Tat bestätigen, indem sie 
unsere Götter durch Gebet und Opfer feierlich verehren. ^4«- 
seigen ohne Unterschrift dürfen aber bei keiner Gerichtsver- 
handlung als Beweis dienen. Das würde nämlich ein sehr 
schlimmes Beispiel geben, und ist auch meiner Regierungs- 
weise nicht angemessen. Lebe wohl! 

Diese beiden Schreiben erhalten durch Tertullian (160 p. 
Chr.) eine äussere Bestätigung. Er schreibt nämlich „Apologie" 
c. 2: jyinvenimus inquisitionem quoque in nos prohibitam. 
Plinius enim $ecundus quum provinciam regeret, damnatis qui- 
busdam Christianis, quibusdam gradu pulsis, ipsa tamen mul- 
titudine perturbatus, quid de cetero ageret consuluit tunc 
Trajanum imperatorem, allegans praeter obstinationem non 
sacrificandi nihil aliud se de sacramentis eorum comperisse 



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- 41 — 

quam coetus antelucanos ad canendum Christo ut Deo et ad 
confoederandam disciplinam^ homicidium, adulterium, fraudem, 
perfidiam et cetera scelera prohibentes. Tunc Trajanus rescrip- 
sit, hoc genus (hominum) inquirendos non esse, oblatos vero 
puniri oportere. Wir finden auch, dass eine Untersuchung gegen 
uns (Christen) verboten 'wurde (durch den Kaiser Trajan). Als 
nämlich Plinius Secundus Statthalter einer Provinz (Bithynien) 
war, liess er einige Christen (zum Tode) verurteilen, andere 
ihrer Würden entsetzen. Durch die grosse Menge der zu Be- 
strafenden wurde er jedoch unschlüssig, was er für die Zukunft 
tun sollte^ und wandte sich um Verhaltungsmassregeln an den 
Kaiser Trajan. In seinem Gesuche führte er an, ausser der 
hartnäckigen Weigerung den Göttern zu opfern, habe er nichts 
anderes über die Geheimnisse der Christen in Erfahrung ge- 
bracht, als ihre frühmorgendlichen Zusammenkünfte, um Christus, 
als ihrem Gott, ein Loblied darzubringen. Sodann hätten die- 
selben ein feierliches Bündnis geschlossen, um Mord, Ehebruch, 
Betrügerei, Hinterlist (Treulosigkeit) und jegliches Laster unter 
sich zu verhindern. Hierauf antwortete Trajan, diese Gesell- 
schüft der Christen seien s'war nicht aufzusuchen, würden sie 
dagegen angezeigt, so seien sie zu bestrafen. 

Die Echtheit der genannten Briefe ist ferner aus inneren 
Gründen unzweifelhaft. Nicht nur dass sich in sprachlicher 
Beziehung eine enge Verwandtschaft mit den übrigen Briefen 
zeigt; die Hauptsache besteht darin, dass dieselben so recht 
das Gepräge der Schriftstücke eines Plinius und Trajan be- 
kunden. Der Bericht des Plinius zeigt uns den unentschlos- 
senen und pedantischen Statthalter, welcher keinen wichtigeren 
Schritt ohne Befragen seines Herrn unternimirit; die Antwort 
des Kaisers trägt ganz den Stempel des Trajänischen Geistes, 
welcher mit klarem Blicke den Fall beurteilt und in lakonischer 
Kürze die Entscheidung trifft. Darum sagt Prof. Adolph Har- 
nack zu Berlin „Chronologie" I, S. 256: ^^Die Echtheit ist so- 
wohl durch die Sprache als die Art der Überlieferung als die 
keineswegs häufige oder gar geflissentliche Benützung durch 
christliche Schriftsteller als endlich durch das Fehlen jeder 
Beziehung auf die im Gebete der Christen für den Kaiser (cfr. 
I ad Timotheum c. 2, 1—4) hervortretende Loyalität sicher- 
gestellt^. 



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- 4i - 

Durch den Brief des Plinius erhalten manche Angaben der 
Apostelgeschichte eine Bestätigung. Gleich im ersten Satze 
redet er den Kaiser mit „Dominus" (Herr) an. Diesen Titel 
hatten Octavianus Augustus und selbst noch Tiberius abgelehnt. 
— Caligula und Claudius Hessen sich ihn gefallen, aber Nero 
(54—68) forderte denselben. Daher drückte sich der Land- 
pfleger von Judaea und Samaria: Porcius Festus (60— 62 n. Chr.) 
pflichtschuldig aus, wenn er nach dem Zeugnisse der Apostel- 
geschichte (c. 25, V. 26) zum König Agrippa II. in Caesarea 
sagte: „Was ich aber Zuverlässiges über ihn (den gefangenen 
Paulus) ,dem Herrn* (C. Claudius Nero) schreiben soll, habe 
ich nicht zur Hand". De quo quid certum scribam Domino non 
habeo. — Der Apostel Paulus nämlich hatte auf die Anklage 
der Juden gegen ihn vor dem Landpfleger Festus als römischer 
Bürger an den Kaiser Berufung eingelegt. Er sollte nun zu 
diesem Zwecke nach Rom abgeschickt werden, und der Statt- 
halter Festus musste ein Begleitschreiben mitgeben. Ähnlich 
verfuhr Plinius in Bithynien. In seinem Briefe an Trajan sagt 
er: „Andere Christen habe ich, weil sie römische Bürger waren, 
in das Verzeichnis derer eingetragen, welche (da sie an den 
Kaiser appelliert hatten) nach Rom zu schicken sind." (Vgl. 
S. 19,) Uralte und wiederholt eingeschärfte Gesetze (z B. lex 
Porcia und die leges Semproniae, cfr. Ciceronis act. II, c. 5, 63 
„in Verrem") sicherten dem „römischen Bürger*^ alle Wohl- 
taten eines geordneten Rechtsverfahrens und schützten ihn bei 
allen römischen Gerichten vor entehrender Ruten- oder Geissei- 
strafe. Auch hatte derselbe ein unbestrittenes Recht, an den 
Kaiser Rekurs zu ergreifen. Eine Verletzung dieser Privi- 
legien wurde gleich „Vatermord" an allen Beteiligten geahndet. 
Bekannt sind die Worte Ciceros gegen Verres: „Facinus est 
vincire civem Romanum, scelus verberare, prope paricidium 
necare!" „Ein Vergehen ist es, einen römischen Bürger zu 
binden, ein Verbrechen, ihn zu geissein, und nahezu ein Vater- 
mord, ihn zu töten!" So war unter dem Kaiser Claudius 
(41—54) in Rhodus eine Vergewaltigung römischer Bürger 
vorgekommen, wofür die ganze Insel mit Entziehung ihrer 
bürgerlichen Freiheiten gestraft wurde. Kaiser Galba (68—69) 
Hess den Statthalter von Germanien Capito hinrichten gemäss 
der lex lulia de vi, weil derselbe eine Appellation an den Kaiser 



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-- 4i - 

nicht vollzogen hatte. (Cfr. Dionis Cassii „Historiae Romanae" 
1. 64, 2.) 

Aui diese Vorrechte berief sich der Apostel Paulus als römi- 
scher Bürger zu Philippi (Apostelgeschichte c. 16; 22—40); zu 
Jerusalem (ibid. c. 22, 24—30) und in Caesarea, (ibid. c. 25, 10 
— 26; c. 26, 32 und c. 27, 1 f.). Der Berufung an den Kaiser 
verdankte er Freiheit und Leben. (IL Tim. c. 4, 16—18.) 

Zum Verständnisse der oben angeführten Briefe des Plinius 
und. Trajan müssen wir auf die Verhältnisse der Provinz Bi- 
thynien in der damaligen Zeit etwas näher eingehen. Die 
Sendung dahin als Statthalter war eine Vertrauensmission. 
•Der Kaiser deutet dies mehrmals an: epp. 18. 32. 117. Es galt, 
vieles dort in Ordnung zu bringen: „Meminerimus, idcirco te 
in istam provinciam missum esse, quoniam multa in ea emen- 
danda apparuerint". (Ep. 32.) Wir wollen es nicht vergessen. 
Du seiest darum in jene Provinz geschickt worden, weil in der- 
selben offenbar vieles zu verbessern ist. Unter der bisherigen 
Verwaltung hatten sich grosse Missbräuche eingeschlichen, 
welche dringend abgestellt werden mussten. Zu diesen Übeln 
war vor allem die Bildung von Hetärien und geheimen Ge- 
sellschaften zu rechnen. „Hetärien" nannte man gewisse Ver- 
eine, die politische Umtriebe zum Zwecke hatten und deswegen 
im Staatsinteresse nicht geduldet werden konnten. Der Name 
draipia (ep. 34 und 96) deutet auf griechischen Ursprung. Schon 
Thucydides („De hello Peloponnesiaco" 1. III, c. 82) beklagte 
das unheilvolle Treiben derselben. In Rom nannte man die- 
selben coUegia. Ihrer staatsfeindlichen Tendenz halber löste 
der Senat sie auf. (Cfr. Ciceronis ep. 25 ad Quintum fratrem). 
So hatte denn auch Kaiser Trajan an Plinius einen Befehl er- 
lassen, mit aller Strenge gegen diese Gesellschaften vorzugehen 
(ep. 96: „secundum mandata tua hetaerias esse vetueram^). In 
der Vollziehung des erhaltenen Mandates wurde Plinius auf 
die Christen aufmerksam, welche eine geheime Verbindung 
zum Umstürze der bestehenden Ordnung zu sein schienen. 
Er trat daher gegen sie auf, nicht aus religiösen Motiven, son- 
dern weil für ihn die Christengemeinden unter das Verbot 
der Hetärien fielen. Da sich nun im Laufe der Verhandlung 
Schwierigkeiten ergaben, so berichtete er dieselben an seinen 
kaiserlichen Freund, um spezielle Verhaltungsmassregeln zu 



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— 44 — 

gewinnen. Gleich im Eingange des Briefes kommt er auf den 
Gegenstand seiner Anfrage: ^Cognitionibus de Christianis inter- 
fui nunquam: ideo nescio quid et quatenus aut piiniri soleat aut 
quaeri". (Vgl. S. 40) Schon unter Domitian (81-96 p. Chr.) 
hatten Untersuchungen gegen die Christen stattgefundeii; auch 
liess derselbe einige Personen aus der Verwandtschaft Jesu 
von Judäa nach Rom führen, um sie zu verhören. Nadhdem 
er sich aber von ihrer Ungefährlichkeit überzeugt lÄtte, ent- 
liess er sie in Frieden. (Cfr. Eusebii „Historiae Eccl." 1. 111, 
c. 19 — 21.) Solchen Gerichtsverhandlungen gegen die Christen 
hatte Plinius bisher noch nicht beigewohnt, war dagegen über- 
zeugt, dass dieselben zu bestrafen seien. Es handelte sich für 
ihn nur darum: was hierbei das Objekt der Ahndung sei, und 
wie weit sich die Untersuchung zu erstrecken habe. Diese 
Zweifel legte er nun dem Kaiser vor und fragte bei ihm dar- 
über an: 1. ob Alter und Geschlecht der Beklagten eine Ver- 
schiedenheit in der Behandlung zuliessen; 2. ob die Reuigen 
ohne Strafe entlassen werden könnten; 3. ob die blosse Zuge- 
hörigkeit zum Christentum, auch ohne jedes andere Verbrechen, 
schon an sich strafbar sei. Mit diesen Fragen verbindet er 
einen Bericht über das Verfahren, welches er bisher gegen die 
Christen eingeschlagen hatte, sowie eine umfassende Schilde- 
rung der Vorgänge in seiner Provinz, die mit dem Prozesse 
gegen die Christen in Verbindung standen. 

Demgemäss hatte Plinius alle, welche ihm als Christen 
angezeigt waren, zunächst gefragt, ob sie wirklich dem Christen- 
tume angehörten; den Geständigen legte er die Frage zum 
zweiten und dritten Male vor unter Androhung der Todes- 
strafe. Wer nun bei seiner Aussage beharrte, wurde sofort 
hingerichtet. Plinius begründet sein rasches Vorgehen in nach- 
stehender Weise: „neque enim dubitabam, qualecunque essel, 
quod faterentur, pertinaciam certe et inflexibilem obstiriationem 
debere puniri.*' Als Statthalter des Kaisers zweifelt er keinen 
Augenblick, dass er eine bedingungslose Unterwerfung unter 
die römischen Staatsgesetze zu fordern berechtigt sei, und 
dass die unbeugsame Widersetzlichkeit der Christen gegen die 
Staatsgewalt an und für sich schon den Tod verdiene, ganz 
abgesehen davon, was ihr religiöses Bekenntnis sonst zu be- 
deuten habe. Plinius erwähnt noch, dass er die Christen, 



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- 45 -- 

welche das römische Bürgerrecht hatten, zur Aburteilung vor 
dem Kaiser aufgeschrieben habe. 

Als nun die Untersuchungen im vollen Gange waren, 
mehrten sich die Verdächtigungen, und schliesslich wurde dem 
Statthalter ein Verzeichnis aller Christen überreicht, welches 
aber keine Unterschrift trug. Wie nämlich der Schluss unseres 
Briefes beweist, verödeten die heidnischen Tempel durch das 
Anwachsen der Christen; die feierlichen Opfer in denselben 
unterblieben, und es fand sich niemand mehr, welcher Opfer- 
tiere oder Futter für sie kaufen wollte. Dass nun die heidnischen 
Opferdiener und sonstige Geschäftsleute sich in ihrem Erwerbe 
bedroht und geschädigt glaubten, ist leicht anzunehmen. Aus 
materiellem Interesse mögen dieselben wohl dazu gekommen 
sein, auf die Unterdrückung des Christentums hinzuarbeiten, 
ähnlich wie früher der Silberschmied Demetrius in Ephesus 
mit seinen Genossen. (Vgl. Apostelgeschichte c. 19, 23—40). 

Im Besitze jener anonymen Mitteilung lud Plinius alle 
darin Bezeichneten vor seinen Richterstuhl und stellte mit 
juristischer Klugheit ein Verfahren an, welches ganz geeignet 
war, schnell und sicher die Angehörigkeit zum Christentum 
klar zu machen. Er befahl nämlich den Beschuldigten zunächst 
die Götter anzurufen, indem er ihnen das übliche Gebet vor- 
sprach; hierauf mussten sie das Bild des Kaisers nebst den 
Statuen der Götter durch die Opfer von Weihrauch und Wein 
feierlich anbeten und endlich auf Christus schmähen. Auch 
später noch unter Antoninus Pius (138 — 161) wurde dieses Mittel 
gegen^die Christen angewendet. Wie Eusebius in seiner Kirchen- 
geschichte (1. IV, c. 15) erzählt, forderte der Prokonsul von 
Smyrna den hl. Polycarpus auf, Christus zu verfluchen, um 
sein Leben zu retten. Derselbe gab die schöne Antwort: 
,,86 Jahre diene ich ihm, und er hat mir nichts zuleide getan; 
wie sollte ich meinen König, der mich erlöset hat, lästern!?** 
Hierauf wurde er zum Feuertode verurteilt. — Doch die Heiden 
sagten: „Das muss eine gute Herrschaft sein, für welche man 
nach 86 jährigem Dienste noch durch das Feuer geht!** (Claudius). 
— In Bithynien dagegen Hessen sich einige zum Abfalle be- 
wegen, und Plinius berichtet an den Kaiser, dass dieselben 
keine Christen gewesen seien ; denn wirkliche Christen Hessen 
sich dazu niemals bewegen. 



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- 46 - 

Die göttliche Verehrung der regierenden Imperatoren war 
seit Nero in Übung gekommen; darum stellte Plinius das Bild 
Trajans ohne weiteres mit den Statuen der Götter zusammen, 
und der Kaiser missbilligte dieses Verfahren nicht. Die Ver- 
weigerung des Cäsaren- Kultus konnte entweder eine Anklage 
auf sacrilegium (döeÖTTi^ = Religionsverletzung), oder majestas 
(d(T€ß€ia = Majestätsverbrechen) nach sich ziehen; die Strafe 
war in jedem Falle die nämliche. So wurden unter Domitian 
(81 — 96) der Konsul Flavius Clemens und Flavia Domitilla 
wegen dOeÖTiiq; verurteilt und jener mit dem Tode, diese mit Ver- 
bannung auf die Insel Pontia bestraft. Dio Cassius sagt 
„Historiae Romanae" 1. 67, c. 15: ^TTrixön bk djucpoTv ^TKXnMct deeö- 
TriTO^, ambo sacrilegii accusati sunt, beide wurden auf Religions- 
verletzung angeklagt (und verurteilt). — Das Christentum stellte 
sich der Staatsgewalt nicht feindlich gegenüber, eingedenk der 
Mahnung Jesu: ^Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und 
Gott, was Gottes istf-" (Evgl. S. Matlhaei c. 22, v. 21); es sah 
vielmehr in der Obrigkeit eine Anordnung Gottes, welcher man 
sich in allem, was recht und erlaubt, zu unterwerfen habe: 
(I. Ep. S. Petri c. 2, v. 13—15; ad Romanos c. 13, v. 1 — 10). Der 
hl. Paulus befiehlt seinem Schüler Timotheus (I. ep. c. 2, r. 1 — 5), 
— in den gottesdienstlichen Versammlungen für das Wohl- 
ergehen der weltlichen Obrigkeit zu beten. Dagegen war es 
strenge Pflicht, eine göttliche Verehrung der Staatsgewalt zu 
versagen, gemäss dem Worte des Herrn: ^^Gebet Gott was Gottes 
ist!^ In diesem Sinne verkündigt Tertullian („L. Apologetici" 
c. 33): „Den Kaiser nenne ich nicht Gott, einerseits weil ich 
nicht zu lügen verstehe, andererseits weil ich ihn nicht zu 
verspotten wage!*^ 

Wie bereits oben (S. 38 flgd.) bemerkt wurde, Hessen sich 
einige Christen durch die Drohungen ihres Statthalters ein- 
schüchtern und verleugneten den Glauben. Aus diesen Ab- 
gefallenen nun suchte Plinius etwas Genaueres über die Art 
und Weise des christlichen Kultus zu erfahren, damit er an 
Trajan einen Bericht erstatten könne. Er vernahm hierauf 
folgendes: „Ihre Hauptschuld oder Verirrung, sagten sie, habe 
darin bestanden, dass sie gewöhnt waren, an einem bestimmten 
Tage („Sonntag") vor der Dämmerung sich zu versammeln, 
und Christus als Gott im gegenseitigen Wechselchore ein Lied 



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— 47 — 

ZU singen (Vormesse) sowie eidlich zu geloben (bei der Homilie 
in der hl. Messe), nicht irgend welches Verbrechen, sondern 
keinen Diebstahl, keinen Raub, keinen Ehebruch, zu begehen, 
keinem die Treue zu brechen, kein an vertrautes Gut nach der 
Rückforderung abzuleugnen. Sodann hätten sie die Gepflogen- 
heit gehabt, auseinander zu gehen (d. h. die Katechumenen 
zu entlassen), und sich wieder zu versammelen, um eine Speise 
zu nehmen, welche aber gemeinschaftlich sowie unschuldig 
war (Kommunionmahl). — Hierin finden wir die Darstellung 
des altchristlichen Gottesdienstes, welcher sich nach Justinus 
(„Apologiae" 1. I, c. 67) dreifach gliedert: Schriftvorlesung und 
Predigt, Gemeindegebet und Abendmahlsfeier. — Die Ab- 
trünnigen (lapsi) erklären in der Bemühung, die gegen sie er- 
hobenen Anklagen möglichst abzuschwächen, dass sie nach 
dem Bekanntwerden des kaiserlichen Verbotes sich von der 
Beteiligung des christlichen Gottesdienstes losgesagt hätten. 
Hierauf Hess Plinius zwei christliche „Wärterinnen" (mihistrae = 
bidKovoi cfr. ad Romanos c. 16, 1) auf die Folter spannen, um 
noch genauere Kenntnis von ihrer Religion zu gewinnen. Er 
fand aber nur, wie er sich ausdrückt, einen „verkehrten und 
überspannten (masslosen) Aberglauben". Ein solches durch 
gerichtliche Untersuchung gewonnenes Resultat muss den Be- 
weis erbringen, dass von dem Christentume dasselbe gilt, wie 
von seinem Stifter: „Wer aus euch kann mich einer Sünde 
beschuldigen?!" (Evgl. S. Johannis c. 8, 46.) Vergleicht man 
damit die grosse sittliche Korruption des Heidentums der da* 
maligen Zeit, so ist die Frage leicht zu beantworten, wem 
die Zukunft gehören würde. Plinius nämlich berichtet am 
Schlüsse seines Briefes von der grossen Verbreitung, welche 
das Christentum in jener Gegend gewonnen hatte. Schon 
Tacitus redet von einer „ingens multitudo", von einer ungemein 
grossen Anzahl der Christen zu Rom (vgl. S. 34 flgd.), welche 
unter Nero hingerichtet wurde. Hierzu kam noch die Ver- 
folgung des Domitian. Alle diese Gewaltmassregeln hatten 
aber nicht dazu geführt, das Christentum zu unterdrücken, 
sondern nur dazu gedient, dasselbe zu läutern und weiter aus- 
zubreiten. In die Provinzen von Kleinasien war der christliche 
Glauben schon bald gekommen, und die Briefe, welche die 
Apostel Petrus und Paulus dorthin sandten, beweisen, dass die 



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- 48 - 

Anzahl der Gläubigen in der heidnischen Diaspora (vgl. I. Petri 
c. 1, V. 1) nicht unbedeutend gewesen sein kann. Aus diesem 
Grunde ist die Angabe des Plinius keineswegs übertrieben, 
wenn er sagt, dass eine grosse Menge jeden Standes und jeden 
Alters sich dem Christentume zugewandt habe, so dass die 
Tempel der Götter verödeten und die Opfer in denselben unter- 
blieben, weil sich keiner fand, welcher das Futter für die 
Opfertiere kaufen wollte. Er glaubt nun durch seine Ver- 
ordnungen gegen die Christen habe sich dieser Zustand in 
etwa gebessert. Allein die hieran geknüpften Hoffnungen er- 
füllten sich nicht: das Christentum konnte durch die Aus- 
scheidung unwürdiger Mitglieder nur gewinnen. 

Gehen wir nun zu dem Antwortschreiben des Trajan über. 
Derselbe billigt im allgemeinen das Verfahren seines Statt 
halters, glaubt aber, eine feste und allgemeingültige Norm lasse 
sich hierin nicht aufstellen. Dann geht er auf die einzelnen 
Fragen ein, welche Plinius an ihn gestellt hatte. Dieser hatte 
um Auskunft gebeten, ob die blosse Angehörigkeit zum Christen- 
tum, auch ohne ein sonstiges Verbrechen, schon strafbar sei; 
was der Kaiser für richtig hielt. Er gab nämlich zur Antwort: 
„Die Christen sind zwar nicht aufzusuchen; werden sie aber 
angeklagt und übertührt, dass sie wirklich Christen sind, so 
müssen sie (mit dem Tode) bestraft werden. Hiermit hat 
Trajan zuerst grundsätzlich festgestellt, dass „Christ-Sein** an 
sich schon (nomen ipsum), auch ohne den Nachweis einer 
sonstigen strafbaren Handlung, ein todeswürdiges Verbrechen 
sei. Die Kirchenschriftsteller der nächstfolgenden Zeit, wie 
Hermas („Similitudinum" 9, 28) und Justinus Apologiae" 1. 1, c. 11) 
beklagen sich mit Recht über diese verderbliche Auffassung. 

Auf die weitere Frage des Plinius : ob die Reuigen ohne 
Bestrafung zu entlassen seien, gibt der Kaiser den Bescheid, 
dÄs könne geschehen, wenn dieselben die schuldige Anbetung 
der römischen Götter (supplicando diis nostris) tatsächlich 
leisteten ; die Renitenten seien zu bestrafen. Hieraus geht her- 
vor, dass Trajan als Grund der Bestrafung die Verweigerung 
der supplicatio ansieht, also wegen Religionsfrevel (sacrilegium) 
die Christen zum Tode führen liess. (Cfr. Exodi c. 20, i— 6.) 

Endlich hatte Plinius noch eine Belehrung darüber erbeten, 
ob nicht Alter und Geschlecht der Angeklagten eine Ver- 



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- 49 — 

schiedenheit in der Behandlung zuliessen. Obgleich nun das 
römische Recht (cfr. Ulpiani „Digestorum" 1. 48, c. 13, n. 7) eine 
solche Rücksichtnahme gestattete, geht der Kaiser über diese 
Anfragen stillschweigend hinweg und entscheidet sie im ver- 
neinenden Sinne. Wir sehen daher in der Folgezeit, dass die 
Heiden bei den Christenverfolgungen weder Frauen noch Kinder 
schonten. Das Christentum galt für staatsgefährlich, und darum 
hatte man kein Erbarmen. 

Nachdem nun Tfajan im allgemeinen das Verhalten seines 
Statthalters gutgehieissen und die einzelnen Fragen desselben 
beantwortet hat, kommt er schliesslich auf die Anzeigen ohne 
Unterschrift (libelli sine auctore) zu sprechen, welche jener an- 
genommen hatte. Dies aber findet nicht die Zustimmung des 
Kaisers: er verbietet ausdrücklich, dass in Zukunft namenlose 
Klagen vor Gericht zugelassen werden. Unter Domitian hatte das 
Delatorenunwesen sehr geblüht, so dass jeder Ankläger williges 
Gehör fand und mancher wegen der geringsten unbedachten 
Äusserung gegen die Majestät des Kaisers zum Tode geführt 
wurde. (Cfr. Suetonii ^Domitianus" c. 12.) Dieses Übel be- 
seitigte aber Trajan, indem er die Delatoren an den Pranger 
stellen und verbannen liess. (Cfr. Plinii „Panegyrici" c. 34.) 
Der Hass gegen die Denuntianten kam den Christen zugute, 
da sie wenigstens vor anonymen Anzeigen geschützt waren. 
Unter dem folgenden Kaiser Hadrian wurde es ebenso ge- 
halten. — Trajan hält die geheimen Anklagen für ein sehr 
schlechtes Beispiel und seiner Regierungsweise durchaus un- 
würdig. 

Dieses Reskript an Plinius hatte nicht die Bedeutung eines 
Reichsgesetzes; der Kaiser betont ja „dass sich hierbei keine 
bestimmte und allgemeine Norm aufstellen lasse". Es war 
eine Massregel der Verwaltung und nur an Plinius gerichtet. 
Gleichwohl hat dasselbe in der Folgezeit sehr viele Anwen- 
dung gefunden. Zum ersten Male wurde das Verfahren gegen 
die Christen auf kaiserlichen Befehl hin im Prozesswege ge- 
ordnet. Und als bald hierauf die ganze Korrespondenz zwi- 
schen Trajan und Plinius der Öffentlichkeit übergeben ward, 
erhielt jene Verfügung weitgehenden Einfluss. Ja man kann 
sagen: die Bestimmungen derselben haben in ihren Grundzügen 
fast zweihundert Jahre lang Anwendung gefunden. 

K r 1 1> Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 4 



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- 50 ~ 

TertuUian (f 27. April 227) berichtet in seiner Apologie 
c. 10: „Deos, inquitis, non Colitis, et pro imperatoribus sacri- 
ficia non impenditis. — Itaque sacrilegit et maiestatis rei cir- 
cumvenimur*^. Die Heiden beschuldigen uns: Die Götter ver- 
ehrt ihr nicht, und den Kaisern bringet ihr keine Opfer dar. — 
Daher kommen wir als Religionsfrevler und Majestätsbelei- 
diger vor Gericht. — Der weltgeschichtliche Kampf zwischen 
Heidentum und Christentum wogte jahrhundertelang hin und 
her, bis schliesslich die heidnische Staatsgewalt während der 
Regierung der Kaiser Diocletian und Maximianus Herculeus 
(284—305 f.) der Macht der neuen Ideen und der weltüberwin- 
denden Kraft des christlichen Glaubens unterliegen musste. 
Eine letzte Christenverfolgung unter Diocletian, welche von 
304—310 dauerte, brachte die entscheidende Wendung. Am 
28. Oktober 312 siegte Constantin über seinen Gegner Maxen- 
tius an der milvischen Brücke und zog als Triumphator zu 
Rom ein. Im folgenden Jahre (Januar oder Februar) erliess er 
gemeinsam mit seinem Mitregenten Licinius das berühmte Edikt 
von Mailand, durch welches jedermann freie Religionsübung 
und den Christen sogar Rückgabe der eingebogenen Kirchen- 
güter zugesichert wurde. (Cfr. Eusebii „Historiae Ecclesiasticae" 
1. 10, c. 5 und Lactantii „De mortibus persecutorum" c. 48.) 
Hiermit kamen alle vorausgehenden Verfolgungs-Dekrete in 
Wegfall und der Staat erhielt ein christliches Gepräge. Schon 
am Schlüsse des 1. Jahrhunderts hatte der Apostel Johannes 
verkündigt: „Haec est victoria, quae vincit mundum: fides 
nostra!" (I. Joh. c. 5, v. 4.) Das ist der Sieg, welcher die Welt 
überwindet: unser hl. Glaube! 

17. Tacitus und die Juden; Bericht über Palästina. 

In seinem Werke ^Historiarum libri" 1. V, c. 2—14, gibt 
Tacitus eine kurze Übersicht über die Geschichte des jüdischen 
Volkes und die Geographie von Palästina, welche nebst manchen 
Unrichtigkeiten auch vieles sehr Wahre und Zutreffende ent- 
hält und zur Vergleichung mit den Angaben der hl. Schrift 
geeignet ist. Nachdem er berichtet hat (1. c. c. 1), dass der 
römische Feldherr Caesar Titus von seinem Vater Vespasian 
beauftragt war, den in Judäa entstandenen Aufruhr der Juden 
völlig zu besiegen, erzählt er, Titus sei mit kriegstüchtigen 



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— 51 — 

Legionen und vielen Hilfstruppen ausgerüstet in das Land der 
Feinde eingerückt und habe in der Nähe von Jerusalem sein 
Lager aufgeschlagen. Damals erfüllte sich, was der Seher 
Balaam ge weissagt hatte: „/« Dreirädern werden sie von Italien 
kommen^ die Assyrier (die Syrier unter Trajan) besiegen und 
die Hebräer schlagen (unter Titus)". (Numeri 24, 24). Vgl. Evgl. 
Lucae c. 21, 20: „Wenn ihr aber Jerusulem von Heerscharen 
umgeben sehen werdet, so wisset, dass seine Verwüstung ge- 
nahet ist". 

Tacitus fährt weiter: „Sed quoniam famosae urbis supre- 
mum diem tradituri sumus, congruens videtur primordia eins 
aperire". Da ich nun im Begriffe stehe, den letzten Tag (die 
Zerstörung) jener weltberühmten Stadt zu überliefern, so scheint 
es angemessen zu sein, den Ursprung (die Gründung) derselben 
darzulegen. (L. c. c. 2.) 

„ludaeos Creta insula profugos novissima Lybiae insedisse 
memorant, qua tempestate Saturnus vi lovis pulsus cesserat 
regnis. Argumentum e nomine petitur : inclytum in Creta Idam 
montem, accolas Idaeos aucto in barbarum cognomento ludaeos 
vocitari". Man erzählt, es hätten die Juden, aus der Insel Kreta 
flüchtig, sich am äussersten Rande von Lybien niedergelassen 
zur Zeit, als Saturnus durch die Gewalt des Zeus vertrieben, 
ihm die Herrschaft abgetreten hatte. Der Beweis hierfür wird 
von dem Namen hergenommen: auf der Insel Kreta liegt der 
berühmte Berg Ida, und seine Bewohner hiessen „Idaeer", deren 
Name durch eine fremdartige Dehnung in „ludaeer" (Juden) 
entstellt worden sei. — Es ist off'enbar, dass Tacitus sich mit 
dieser Ableitung im Irrtume befindet ; denn die Benennung des 
jüdischen Volkes rührt nicht von dem Berge Ida her, sondern 
von dem führenden und königlichen Stamme „Juda" in Pa- 
lästina. — Auch berichtet er von dem Aufenthalte der Kinder 
Israels in Ägypten, wenn er sagt, dieselben hätten sich am 
äussersten Rande von Libyen niedergelassen. Gibt sich in 
diesen Worten auch bloss eine dunkele Erinnerung an das 
Wohnen derselben in der ägyptischen Provinz „Gosen" kund, 
so spricht er sich aber im folgenden deutlicher hierüber aus: 
„Quidam regnante tside exundantem per Aegyptum multitudi- 
nem ducibus Hierosolymo ac Inda proximas in terras exono- 
ratam (esse tradunt)". Einige berichten: Unter der Regierung 



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- 52 — 

der Isis habe sich die in ganz Ägypten überströmende Be- 
völkerung der Juden mit ihren Führern Hierosolymus und 
Judas in die nächsten Länder ergossen. — Hierin liegt eine 
Bestätigung des Wortes an den Patriarchen Jacob : „Ziehe hinab 
nach Ägypten; denn ich werde dich zu einem grossen Volke 
machen daselbst! Ich werde mit dir hinabziehen und dich von 
dort heraufführen, wenn du zurückkehrest". (L. Genesis c. 46, 
3—5.) Und ferner: „Je mehr man sie (die Kinder Israels in 
Ägypten) bedrückte, desto stärker mehrten sie sich und wuchsen 
sie". (L. Exodi c. 1, 12.) — „Plerique Aethiopum prolem (esse 
dicunt), quos rege Cepheo metus atque odium mutare sedes 
pepulerit". Viele behaupten, die Juden seien ein äthiopischer 
Stamm, welcher unter dem Könige Cepheus durch Furcht und 
Hass getrieben seinen Wohnsitz geändert habe. — Erinnerung 
an die Bedrückung der Israeliten während der Regierung des 
Pharao Menephta in Ägypten sowie eine Begründung ihres 
Auszuges. 

Genauer ist folgende Angabe: „Sunt qui tradant, (ludaeos 
esse) Assyrios convenas, indigum agrorum populum, parte Ae- 
gypti potitos, mox proprias urbes Hebreasque terras et pro- 
prioria Syriae coluisse". Manche sagen auch, die Juden seien 
Fremdlinge aus Assyrien (Abraham kam aus Ur in Chaldäa: 
Genesis c. 11,28 c. 12, 6), ein Volk, welches sich auf der Suche 
nach ertragfähigem Boden eines Teiles von Ägypten (der Provinz 
Gosen) bemächtigte und später (nach 430 Jahren) eigene Städte 
und die hebräischen Lande („das gelobte Land"), nämlich Pro- 
vinzen, welche näher bei Syrien liegen, zum Wohnsitz sich 
erwählten. 

„Clara alii Hebraeorum initia, Solymos, carminibus Ho- 
meri celebratam gentem, conditae urbi Hierosolyma nomen e 
suo fecisse". Andere schliesslich führen noch an, und dies 
macht den Ursprung der Juden berühmt, die Solymer, ein durch 
die Lieder des Homer (Iliados VI, 184, Odysseos V, 282) be- 
kannter Volksstamm, hätten nach ihrem eigenen Namen Solymi, 
ihrer neugegründeten Stadt, den Namen.- Solyma, Hierosolyma 
(Jerusalem) gegeben. Der vorstehende sowie der folgende 
Bericht (Kap. 3 f.) über die Herkunft und die ersten Schicksale 
der Juden ist aus mehreren weder jüdischen noch judenfreund- 
lichen Quellen entnommen, welche wohl von der ägyptischen 



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— 53 — 

Volksüberlieferung stark beeinflusst waren. Der Geschichts- 
schreiber Flavius Josephus führt ausser dem Werke des Ober- 
priesters Manetho (3. Jahrhundert v. Chr.) auch noch Stellen 
von den Schriften alexandrinischer Gelehrter, Chaeremon und 
Lysimachus an, mit welchen die an Irrttimern reiche Erzählung 
des Tacitus grosse Ähnlichkeit hat. Weniger durch fabelhafte 
Einzelheiten entstellt ist die bei Diodor (Fragm. V, B. 40) ent- 
haltene Darstellung des Hekataeus von Abdera (unter Ptole- 
maeus Lagi). Vgl. Strabo XVI, 2. lustinus XXXVI, 2 hat von 
anderen Quellen andere Irrtümer übernommen. 

Tacitus nun (1. c. c. 3) beschreibt den Auszug der Israeliten 
aus Ägypten: „Plurimi auctores consentiunt orta per Aegyptum 
tabe quae corpora foedaret regem Bochorim adito Hammonis 
oraculo remedium petentem, purgare regnum et id genus ho- 
minum ut invisum deis alias in terras avehere iussum. Sic 
conquisitum collectumque vulgus, postquam vastis locis relic- 
tum Sit, ceteris per lacrimas torpentibus, Moysen unum exulum 
monuisse, ne quam deorum hominumve opem exspectarent 
utrisque deserti, sed sibimet ducem coelestem crederent, primo 
cuius auxilio praesentes miserias pepulissent. Adsensere et 
omnium ignari fortuitum iter incipiunt. Sed nihil aeque quam 
inopia aquae fatigabat, iamque haud procul exitio totis campis 
procubuerant, quum grex asinorum agrestium e pastu in rupem 
nemore opacam concessit. Secutus Moyses coniectura herbidi 
soll largas aquarum venas aperit. Id levamen, et continuum 
sex dierum iter emensi, septimo pulsis cultoribus obtinuere 
terras in quibus urbes et templum dicata. 

Die meisten Auktoren stimmen darin überein: Als (cfr. 
l. Exodi 9, 1—11) eine die Körper grauenhaft entstellende Seuche 
in Ägypten ausgebrochen war, habe der König Bocchoris (um 
die Mitte des 8. Jahrhunderts vor Christus, so Lysimachus bei 
Flavius Josephus contra Apionem 1. I, 34) sich an das Orakel 
des Jupiter Ammon um ein Heilmittel gewandt. Er sei nun 
aufgefordert worden, sein Reich zu säubern und dieses Volk 
(der Juden), als den Göttern verhasst, in andere Länder fort- 
zuschaffen. (Der Auszug aus x^gypten geschah wahrscheinlich 
unter Pharao Menephta, dem Nachfolger Ramses II. (Sesostris) 
ca. 1500 V. Chr.) — Das Orakel des Jupiter Ammon lag in 
der Wüste Siva, westlich von Unter-Ägypten. — Nachdem aber 



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- 54 - 

das Volk zusammengesucht und vereinigt war, überliess man 
es in der Wüste seinem Schicksale. Während nun alle übrigen 
in Tränen versunken waren, hielt Moses, einer der Verbannten, 
eine Rede an sie und gab ihnen zu bedenken, sie möchten 
keine Hilfe, weder von Göttern noch Menschen, erwarten; denn 
sie seien von beiden verlassen. Wohl aber sollten sie sich 
demjenigen als einem vom Himmel gesandten Führer anver- 
trauen, unter dessen Hülfe sie zuerst das gegenwärtige Elend 
überwinden könnten. Sie stimmten bei und traten hierauf, ob- 
gleich sie mit allem unbekannt waren, auf das Geratewohl 
ihre Reise an. Nichts aber plagte sie in dem Masse, als der 
Mangel an Wasser, und schon waren sie, dem Verschmachten 
nahe, auf allen Feldern niedergesunken. Da kam eine Herde 
Waldesel von der Weide auf einen Felsen zugelaufen, welcher 
von einem Haine beschattet war. Moses folgte nun derselben 
nach und entdeckte, wie er schon dem grasreichen Boden ent- 
sprechend vermutet hatte, sehr reiche Wasserquellen. Das 
brachte Erquickung, und nach einer Wanderung von sechs 
Tagen (40 Jahre nach der hl. Schrift: Numeri c. 14, 33—35) 
erreichten sie ihr Land (Chanaan), und nachdem sie die Be- 
wohner desselben (unter Josua und Caleb: 1. Josues c. 1, 2 — 7) 
vertrieben hatten, bauten sie Stadt und Tempel. 

Im 4. und 5. Kapitel gibt Tacitus eine Beschreibung der 
jüdischen Religions-Gebräuche. 

^Moyses quo sibi in posterum gentem firmaret, novos 
ritus contrariosque ceteris mortalibus indidit. Frofana illic 
omnia, quae apud nos sacra, rursum concessa apud illos quae 
nobis incesta. Effigiem animalis, quo monstrante errorem si- 
timque depulerant, penetrali sacravere, caeso ariete velut in 
contumeliam Hammonis; bos quoque immolatur, quoniam Aegyp- 
tii Apin colunt. Sue (carne suilla) abstinent, memoria cladis, 
quod ipsos Scabies quondam turpaverat, cui id animal obno- 
scium. Longam olim famem crebris adhuc ieiuniis fatentur, 
et raptarum frugum argumentum panis ludaictis nuUo fermento 
detinetur. Septimo die otium placuisse ferunt, quia is finem 
laborum tulerit; deinde blandienti inertia septimum quoque 
annum inertiae datum. Alii honorem eum Saturno haberi, seu 
principia religionis tradentibus Idaeis, quos cum Saturno pulsos 
et conditores gentis accepimus, seu quod de Septem sideribus, 



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- 55 - 

quibus mortales res reguntur, altissimo orbe et praecipua po- 
tentia Stella Saturni feratur et pleraque coelestium vim suam 
et cursus septenos per numeros compleant." 

Moses führte nun, um sich die Herrschaft über dieses 
Volk in Zukunft zu sichern, in demselben ganz neue und von 
denen der übrigen Menschen durchaus abweichende Religions- 
gebräuche ein. (Vgl. Friederich Delitzsch!) Bei ihnen ist näm- 
lich alles unheilig, was bei uns heilig, und umgekehrt bei ihnen 
alles erlaubt, was bei uns ein Frevel ist (z. B. das Heiraten 
unter nahen Verwandten). Ein Bild des Tieres, welches ihnen 
den Ausweg aus der Irrfahrt und dem Verschmachten gezeigt 
hatte, weihten sie in ihrem Heiligtume. — Hierin liegt eine 
Verwechslung mit der Anbetung des goldenen Kalbes vor: 
Exodi c. 32, 1 — 7. Der Waldesel, welcher nach ägyptischem 
Volksglauben den Israeliten die frischen Wasserquellen gezeigt 
haben sollte (vgl. dagegen den Bericht: 1. Exodi c. 17, 1-8), 
galt bei denselben als Tier des bösen Gottes Typhon, und man 
hielt dafür, dieser habe das verstossene Volk unterstützt. 

Dagegen töten sie den Widder zur Beschimpfung des 
Jupiter Ammon, welcher (cfr. Ovidii Metam. 1. 5, 327 f.) mit 
einem Widderkopfe und gewundenen Hörnern dargestellt wurde. 
Auch der Stier dient bei den Juden als Opfergabe, den ja die 
Ägyptier als ihren Apis verehren. Vom Schweinefleisch aber 
enthalten sie sich zur Erinnerung an die Plage, mit welcher 
auch sie der Aussatz früher entstellt hatte (ungeschichtlich; 
cfr. 1. Levitici c. 11,7 sowie 1. Exodi c. 9, 1—8), dem dieses 
Tier unterworfen ist. Von ihren ehemaligen längeren Ent- 
behrungen (Hunger u. s. f.) legen sie jetzt noch durch häufiges 
Fasten ein Zeugnis ab (irrtümlich: vgl. Isaiae c. 58, 6 — 8, und 
Joelis c. 2, 12—15); und zum Gedächtnisse daran, wie sie das 
Getreide einst gierig aufgerafft haben, dient das sogenannte 
^Judenbrot^ (Mazzen), welches ungesäuert ist. Die richtige 
Deutung hiervon gibt Moses: 1. Exodi c. 12, 32 — 35; (vgl. ibid. 
c. 16, 3 — 6) nämlich: die Eile bei dem Auszuge aus Ägypten 
Hess keine Zeit zum Durchsäuern des angesetzten Brotes. — 
Man sagt auch, dass sie am 7. Tage der Ruhe pflegen (^Sab- 
bat^)j weil dieser Tag ihren Beschwerden ein Ende gemacht 
habe. — Tacitus meint wohl: am 7. Tage nach ihrem Auszuge 
hätten sie das gelobte Land erreicht; vgl. S. 54; der Ruhetag 



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- 56 - 

aber war zur Erinnerung an die Vollendung der Schöpfung 
eingesetzt; Genesis c. 2, 2 — 4; Exodi c. 20, 8 — 11. 

Hierauf, so fahrt Tacitus weiter, sei ebenfalls das ganze 
siebente Jahr dem Müssiggange gewidmet worden, weil das 
ihrer Trägheit so wohl behagte. Die richtige Auffassung vom 
„Sabbatjahre" gibt Moses: 1. Exodi c. 20, 10 u. 11 sowie Levi- 
tici c. 25, 2—7; es sollte ein Jahr der Erlassung für die Schulden 
und die hebräischen Knechte sein; 1. Deuteronomii c. 15, 1—11. 

Andere behaupten, es sei dies eine Ehre, welche man dem 
Saturnus erweise; sei es, dass die Idäer (Bewohner des Berges 
Ida, vgl. S. 51), von denen wir vernommen haben, sie wären 
zugleich mit dem Saturnus vertrieben und des Volkes Stamm- 
väter geworden, ihnen die Begründung dieses Kultus über- 
heferten; sei es, weil von den sieben Gestirnen, welche die 
Geschicke der Menschen regieren, der Stern des Saturnus im 
höchsten Kreise und besonders machtvoll sich bew^ege, wie ja 
auch die meisten Himmelskörper ihre Kraft und ihren Umlauf 
in der Sieben-Zahl vollenden. 

Diese Mitteilung lehnt sich an die babylonische Astro- 
logie von der Sieben-Gottheit der Plejaden an. (Vgl. H. Grimme 
„Der Plejadenkult", Paderborn bei Schoeningh 1907). Im christ- 
lichen Sinne wird diese Erklärung von Dante „Göttliche Ko- 
mödie", Paradies X. Gesang, v. 10— 22; ebenso XXII. Gesang, 
V. 133—138 angewendet. Nach Aristoteles, welchem das Mittel- 
alter hierin folgte, bewegten sich Mars, Merkur, Venus, Saturn, 
Sonne, Mond und Jupiter als 7 besondere Himmel um die Erde. 
Diese galt als der unbewegte Zentralpunkt des ganzen Welt- 
alls. Niemand bezweifelte, dass jene 7 Himmelskörper einen 
geheimnisvollen, günstigen oder nachteiligen Einfluss auf die 
Weltereignisse und Menschenschicksale ausüben könnten. [Wäl- 
lenstein und Senü] 

„Hi ritus quoque modo inducti antiquitate defenduntur: 
cetera instituta, sinistra foeda, pravitate valuere. Nam pessi- 
mus quisque, spretis religionibus patriis, tributa et stipes illuc 
congerebant, unde auctae ludaeorum res, et quia apud ipsos 
fides obstinata, misericordia in promptu, sed adversus omnes 
alios hostile odium. Separati epulis, discreti cubilibus, pro 
jectissima ad libidinem gens, alienarum concubitu abstinent; 
inter se nihil illicitum, circumcidere genitalia instituerunt, ut 



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- 57 - 

diversitate noscantur. Transgressi in morem eorum idem usur- 
pant, nee quidquam prius imbuuntur, quam contemnere deos 
exuere patriam, parentes, liberos, fratres vilia habere. Augen- 
dae tarnen multitudini consulitur; nam et necare quemquam 
ex agnatis nefas, animosque proelio aut suppliciis peremptorum 
aeternos putant: hinc generandi amor et moriendi contemptus. 
Corpora condere quam cremare ex more Aegyptio, eademque 
cura et de infernis persuasio, coelestium contra. Aegyptii ple- 
raque animalia effigiesque compositas venerantur; ludaei mente 
sola unumque mimen intelligunt: profanos, qui d eorum imagines 
mortalibus materiis in species horainum effingant; summum 
illud et aeternum neque imitabile neque interiturum. Nulla 
igitur simulacra urbibus suis, nedum templis sistunt. Non 
regibus haec adulatio, non Caesaribus honor. Sed quia sacer- 
dotes eorum tibia tympanisque concinebant, hedera vincieban- 
tur vitisque aurea templo reperta Liberum Patrem coli, domi- 
torem Orientis, quidam arbitrati sunt, nequaquam congruentibus 
institutis, quippe Liber festos laetosque ritus posuit, ludaeorum 
autem mos absurdus sordidusque." 

Diese Religionsgebräuche, mag ihre Einführung auch durch 
zufällige (oder absurde) Gründe veranlasst sein, haben jeden- 
falls ein hohes Alter für sich: 1500 vor Christus. Cfr. 1. Exodi 
c. 23, 14 sq.; 1. Levitici c. 25, 2—22. Die übrigen sonderbaren 
(für die Heiden unverständlichen) Einrichtungen haben nur 
durch ihre Verschrobenheit einen Bestand gewonnen. Denn 
jeder Nichtswürdige, welcher seine vaterländische Religion ver- 
achtete, brachte ihnen Beisteuer und Gaben (Tempelsteuer); 
und so geschah es, dass die Macht der Juden sich hob ; hierzu 
kommt noch, dass sie untereinander selbst sich hartnäckige 
Treue und Barmherzigkeit erweisen, dagegen wider alle übrigen 
einen feindlichen Hass an den Tag legen. (Cfr. Ciceronis oratio 
pro Flacco c. 28.) — Ein Hieb auf die jüdischen Proselyten. — 
Sie speisen abgesondert, trennen ihre Lagerstätte von anderen, 
sie gehen keine Ehe mit Fremden (Heiden) ein; unter ihnen 
selbst ist nichts verboten. Die Beschneidung haben sie ein- 
geführt, um durch dieses Abzeichen kenntlich zu sein. — 
Schiefe Darstellung: es war ein von Jehovah anbefohlenes 
Zeichen des Bundes; vgl. Genesis c. 17, 10—14; c. 21, 3 — 5. 

Diejenigen, welche zu ihrer Religion übertreten, beob- 



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- 58 - 

achten eben dasselbe, und nichts wird ihnen früher eingeschärft, 
als die Götter zu verachten, ihr Vaterland zu verleugnen, ihre 
Eltern, Geschwister und Kinder für gering zu halten. Dennoch 
wird für die Vermehrung des Volkes Sorge getragen. Denn 
wie sie es für einen Frevel halten, irgendeinen Spätgeborenen 
(diriTOvoi, aus 2. Ehe oder nach Abfassung des Testamentes u.s.f.) 
zu töten, so glauben sie auch, dass die Seelen der in der Schlacht 
oder durch Hinrichtung Gefallenen unsterblich sind. (Cfr. 1. II 
Machabaeorum c. 12; 42 — 46: Opfer für die Verstorbenen.) Da- 
her stammt ihre Liebe zur Fortpflanzung und ihre Todesverach- 
tung. Die Leichen begraben sie, anstatt sie zu verbrennen 
(wie es Sitte bei den Römern war, welche keinen Glauben an 
die Unsterblichkeit hatten). Die Juden tun dies nach ägyp- 
tischer Weise, mit welcher sie auch die Sorgfalt dabei (Ein- 
balsamierung u. s. f.) und den Glauben an die Unterwelt (Scheol 
= Aufenthaltsort der abgeschiedenen Seelen) teilen. Cfr. Ge- 
nesis c. 37, 35; c. 50, 2 und 13. Von den himmlischen Dingen 
dagegen haben sie (noch) keine Überzeugung. — Die Lehre 
vom ^Himmelreich" gehört vorzüglich dem neuen Testamente 
an: Marci c. i, 15. — Die Ägyptier verehren allerlei Tiere und 
selbstgeschaffene Bilder; die Juden aber erkennen nur eine ein- 
zige Gottheit an, , welche im Geiste anzubeten ist. Cfr. Evgl. 
S. Johannis c. 4, 24: „Gott ist ein Geist, und die Ihn anbeten, 
müssen Ihn im Geiste und der Wahrheit anbeten!" Für gott- 
los werden alle gehalten, welche von Göttern sich aus irdischen 
Stoffen menschlichen Figuren ähnliche Bilder herstellen; denn 
jenes höchste Wesen sei weder darstellbar noch vergänglich, weil es 
ewig ist, Cfr. 1. Exodi c. 20, 1—7. Daher dulden sie keine Götter- 
bilder in ihren Städten, geschweige in Tempeln. Nicht einmal den 
Königen wird dies als Schmeichelei, auch nicht den Cäsaren als 
Ehre zuteil! Weil aber ihre Priester Flöten- und Paukenspiel 
erschallen Hessen, sich mit Efeu bekränzten und man eine 
goldene Rebe im Tempel fand, so glaubten einige, es werde 
der Vater Bacchus verehrt, jener Bezwinger des Morgenlandes, 
womit ihre Satzungen aber keineswegs übereinstimmen; denn 
Bacchus hat festliche und fröhliche Gebräuche eingerichtet, die 
Weise der Juden dagegen ist (für heidnische Auffassung) ver- 
schroben und niedrig. 

Mit der „Vitis aurea'' verhielt es sich aber also: Herodes 



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- 59 - 

der Grosse hatte einen Rebstock, an welchem goldene Trauben 
von Manneslänge hingen, den Juden geschenkt, und liess den- 
selben über dem Tempeleingange befestigen, weil er in demselben 
keine Verwendung finden konnte. Cfr. Flavii losephi „De hello 
ludaico" 1. V, c. 5, n. 4., und „Antiquitatum ludaicarum" 1. XV., 
c. 11, n. 3. In ihrer Unkenntnis nahmen die Heiden das Vor- 
handensein dieses Weihegeschenkes als Zeichen des römischen 
Götzen Liber (Bacchus) an. 

Auch die Deutung „des Flöten- und Paukenspieles und 
des Bekränzens mit Efeu seitens der jüdischen Priester" ist 
irrig. Denn nach Moses l. Levitici c. 23, v. 40 flgd., beziehen sich 
diese Feierlichkeiten auf das Ernte- oder Pfingstfest der Juden. 

Kapitel 6, 7 und 8 sind der Geographie von Palästina ge- 
widmet. „Terra finesque qua ad Orientem vergunt, Arabia 
terminantur, a meridie Aegyptus objacet, ab occasu Phoenices 
et mare, septentrionem e latere Syriae longe prospectant. 
Corpora hominum salubria et ferentia laborum. Rari imbres, 
über solum: fruges nostrum ad morem, praeterque eas bal- 
samum et palmae. Palmetis proceritas et decor, balsamum 
modica arbor: ut quisque ramus intumuit, si vim ferri adhibeas, 
paventvenae; fragmine lapidis, aut testa, aperiuntur; humor in 
usu medentium. Praecipuum montium Libanum erigit, mirum 
dictu, tantos inter ardores opacum fidumque nivibus ; idem am- 
nem lordanen alit funditque. Nee lordanes pelago accipitur, 
sed unum atque alterum lacum integer perfluit, tertio retinetur. 
Lacus immenso ambitu, specie maris, sapore corruptior, gravi- 
tate odoris accolis pestifer, nequ^ vento impellitur, neque pisces 
aut suetas aquis volucres patitur. Inertes undae, superiacta ut 
solido ferunt; periti imperitique nandi perinde attoUuntur. Certo 
anni bitumen egerit cujus legendi usum, ut ceteras artes, ex- 
perientia docuit. Ater suapte natura liquor et sparso aceto 
concretus innatat; hunc manu captum, quibus ea cura, in summa 
navis trahunt, inde nuUo juvante influit oneratque, donec ab- 
scindas. Nee abcindere aere ferrove possis: fugit cruorem 
vestemque infectam sanguine quo feminae per menses exsol- 
vuntur. sie veteres auctores, sed gnari locorum tradunt undantes 
bitumine moles pelli manuque trahi ad litus, mox, ubi vapore 
terrae, vi solis inaruerint, securibus cuneisque ut trabes aut 
saxa discindi." 



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— 6o — 

Das Land und Gebiet (von Palästina) wird in seiner Aus 
dehnung nach Osten von Arabien begrenzt, von Mittag her ist 
Ägypten vorgelagert, von Sonnenuntergang bildet Phoenizien 
und das mittelländische Meer die Grenze, nach Norden hin 
dehnt es sich seitwärts von Syrien weit aus. Die Menschen 
sind gesund und können Anstrengung ertragen. Der Regen 
ist selten, der Boden aber fruchtbar; die Erzeugnisse desselben 
sind die nämlichen, wie bei uns (in Italien) nur kommen noch 
Balsam und Palmen hinzu. Die Palmenwälder sind hoch und 
schön. Die Balsamstaude dagegen ist von massiger Grösse. 
Schlägt man einen Ast davon, sobald der Saft recht in den- 
selben geschossen ist, mit Eisen, so stocken die Gefässe 
(Adern); durch Ritzung mit einem Steine oder Scherbe lassen 
sie sich öffnen, und die herausquellende Flüssigkeit wird von 
Ärzten gebraucht. — Jericho, auf der Westseite des Jordan, 
war durch seine Palmenhaine besonders ausgezeichnet, wie 
denn auch der Name „Jericho" = „Palmenstadt", schon besagt. 
In einem nahe gelegenen Tale und am See Tiberias gedieh die 
Balsamstaude besonders gut. (Cfr. Justini „Epitomes'* 1. XXXVI, 
c. 3, 1 — 5; Plinii „Historiae Naturalis" 1. XII., c. 25 und c. 54; 
Taciti „Germaniae" c. 45.) — Als Hauptgebirge ragt der Li- 
banon („weisser Berg") empor, welcher in wunderbarer Eigen- 
tümlichkeit mitten in so grosser Hitze kühl ist und den Schnee 
bewahrt: d. h. und mit ewigem Schnee bedeckt. Von ihm geht 
der Fluss Jordan aus und hat seine Nahrung. — Der Jordan 
entspringt übrigens am Hermon. — Derselbe wird nicht vom 
Meere aufgenommen, sondern durchfliesst in gleicher Fülle 
einen und noch einen anderen See, im dritten aber bleibt er. 
— Gemeint sind die Seen Merom, Genesareth und das Tote 
Meer. — Dieses letztere Gew^ässer ist ein See von unermess- 
lichem Umfange, dem Meere gleich, von Geschmack noch 
bitterer (widriger), und durch die Schärfe seines Geruches 
den Anwohnern verderblich. Kein Wind kann ihn bewegen, 
auch vermögen sich Fische und die sonst an Wassern heimischen 
Vögel daselbst nicht aufzuhalten. — Gemäss den neueren Reise- 
berichten kommen am Toten Meere noch Enten und Taucher 
vor. Vgl. I. Band, Seite 131. — Die Wellen (wenn man hier 
so sagen darf, oder besser: die Oberfläche des Wassers) be- 
wegen sich nicht; was darauf geworfen wnrd, tragen sie wie 



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— 6i — 

auf festem Boden: des Schwimmens Kundige wie Unkundige 
werden (vom Wasser) emporgehoben. Zu einer bestimmten 
Zeit des Jahres wirft der See Erdharz aus, dessen Sammlungs- 
weise, wie andere Fertigkeiten, die Erfahrung gelehrt hat. Die 
von Natur aus bereits schwarze, aber erst, wenn man Säure 
dazu giesst, sich verdichtende Flüssigkeit, schwimmt auf der 
Oberfläche. Diejenigen, welche sich damit beschäftigen, er- 
greifen sie mit der Hand und ziehen sie an Bord des Schiffes; 
dann fliesst sie ohne Beihilfe hinein und belastet es, bis man 
sie abschneidet. Doch kann man dieses nicht mit Erz oder 
Eisen vollziehen: sie weicht bloss dem Blute und schon einem 
vom Blute getränkten Kleide. So erzählen die alten Geschichts- 
schreiber ; Leute jedoch, welche die Gegend kennen gelernt haben, 
berichten, die von Erdharz wogenden Massen treibe und ziehe 
man mit der Hand an das Ufer, und sobald sie durch den 
Wärmestoff der Erde und die Glut der Sonne getrocknet sind, 
schneide man sie mit Beilen und Keilen wie Balken und Steine 
auseinander. 

Die Landesbeschreibung, welche Tacitus von Palästina 
gibt, enthält manches Ungenaue und Übertriebene. Selbst „die 
Ortskundigen", auf deren Zeugnis er sich beruft, waren offen- 
bar in manchen Irrtümern befangen. Man denke übrigens nur 
daran, welche Berichte Julius Caesar in seinen Kommentarien 
über Germanien (Deutschland) in gutem Glauben aufgenommen 
hat! Cfr. „De bello Gallico" 1. VI., c. 11 sq. — Kapitel 7 be- 
schreibt den Untergang der Städte Sodoma und Gomorra so- 
wie die Umgebung des „Toten Meeres". Vgl. I. Band, Seite 
151 flgd. 

Im folgenden ist eine kurze Darstellung der Geschichte 
des jüdischen Volkes enthalten. Kap. 8 schildert die Verhält- 
nisse unter der assyrischen, medischen, persischen und maze- 
donischen Oberhoheit. Es werden die Bemühungen des Königs 
Antiochus von Syrien erwähnt, um den Juden die Gebräuche 
der Heiden aufzuzwingen; ebenso die Freiheitskämpfe der 
Makkabäer. Die Kapitel 9 und 10 behandeln die Geschichte 
der römischen Herrschaft in Judaea von Pompejus (a. 63 a. Chr.) 
bis zum Ausbruche des jüdischen Krieges (a. 66), welcher durch 
den Caesar Titus im Jahre 70 zu Ende geführt wurde. 

Kapitel 11 bietet eine Darstellung der Kämpfe unter den 



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— 62 — 

Mauern von Jerusalem. Igitur castris, ut diximus (c. 1 am 
Schlüsse; vgl. Seite 51), ante moenia Hierosolymorum positis, 
Titus instructas legiones ostentavit : ludaei sub ipso muro struere 
aciem, rebus secundis longius ausuri et si pellerentur, parato 
perfugio. Missus in eos eques cum expeditis cohortibus ambiguo 
certavit; mox cessere hostes et sequentibus diebus crebra pro 
portis proelia serebant, donec assiduis damnis intra moenia 
pellerentur. Romani ad oppugnandum versi; neque enim dignum 
videbatur famem hostium opperiri, poscebantque pericula, pars 
virtute, multi ferocia et cupidine praemiorum. Ipsi Tito Roma 
et opes voluptatesque ante oculos, ac ni statim Hierosolyma 
conciderent, morari videbantur; sed urbem arduam situ opera 
molesque firmaverant, quibus vel plana satis munirentur. Nam 
duos coUes in immensum editos claudebant muri per artem 
obliqui aut introrsus sinuati, ut latera oppugnantium ad ictus 
patescerent. Extrema rupis abrupta, et turres, ubi mons iu- 
visset, in sexagenos pedes, inter devexa in centenos vicenosque 
attoUuntur, mira specie ac procul intuentibus pares. Alia intus 
moenia, regiae circumiecta, conspicuoque fastigio turris Antonia, 
in honorem Marci Antonii ab Herode appellata". C. 12 „Tem- 
plum in modum arcis propriique muri labore et opere ante alios ; 
ipsae porticus quibus templum ambiebatur, egregium propu- 
gnaculum. 

Titus schlug demnach, wie oben gesagt wurde (S. 51), 
vor den Mauern von Jerusalem sein Lager auf und zeigte die 
Legionen in kampfbereiter Stellung. Die Juden ordneten ihre 
Schlachtlinie dicht vor den Mauern, um im glücklichen Falle 
sich weiter vorzuwagen, und wenn sie zurückgedrängt würden, 
gleich eine Zuflucht zu haben. Die mit den leichtbewaffneten 
Kohorten (zu 600 Mann) gegen sie abgeschickte Reiterei kämpfte 
unentschieden Bald zwar wichen die Feinde, lieferten aber 
an den folgenden Tagen wieder häufige Gefechte, bis sie durch 
anhaltende Verluste hinter die Mauern zurückgeschlagen wurden. 
Die Römer schritten nun zu einem Angriffe mit Sturm vor. 
Denn es schien unwürdig, die Aushungerung der Feinde ab- 
zuwarten; man verlangte nach Gefahren: ein Teil der Soldaten 
aus Tapferkeit, viele aus Wildheit und Begierde, dafür belohnt 
zu werden. Dem Titus selbst schwebten schon die Stadt Rom, 
Machteinfluss und Vergnügungen daselbst vor Augen; und 



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- 63 - 

wenn nicht Jerusalem alsbald unterliegen werde, so schien es 
damit noch im weiten Felde. Aber die an sich bereits hoch- 
gelegene Stadt schirmten Bollwerke aus Quadersteinen, mit 
welchen sie selbst in ebener Lage durch solche Riesenmauern 
genugsam gesichert gewesen wäre. Denn zwei fast unermess- 
lich grosse Hügel (nämlich die Erhebungen, an welche sich 
die nördlichen Stadtteile Akra und Bezetha anlehnten) wurden 
von Mauern eingeschlossen, welche vor- und einspringende 
Winkel bildeten, um die Stürmenden unter Kreuzfeuer zu 
nehmen. Der äusserste Rand der Felsenmasse war abschüssig, 
und da erhoben sich Türme, je nachdem der Abhang (das na- 
türliche Niveau) die Festigkeit mehr oder minder erhöhte, 
zu sechzig, und in den Einsenkungen zu hundertundzwanzig 
Fuss; sie waren von wunderbarer Gestalt und schienen beim 
Anblicke aus der Ferne einander gleich zu sein. Andere Mauern 
waren innerhalb um die Königsburg gezogen und von ansehn- 
licher Höhe der Antoniusturm, welchen der König Herodes so 
zu Ehren des römischen Feldherrn Marcus Antonius benannt 
hatte. (Er befand sich auf dem Berge Moriah, nordwestlich 
vom Tempel und war unter den Makkabäern errichtet worden 
„Antiquität." 1. XV, c. 11, n. 4). Kap. 12. Der Tempel erhob 
sich wie eine Burg und hatte eine besondere Mauer, welche 
mit mehr Mühe und Kunst ausgeführt war, als die anderen. 
Selbst die Säulengänge, welche um den Tempel herliefen, waren 
ein vortreffliches Bollwerk. 

Tacitus berichtet axich von den klugen Einrichtungen, 
welche die Juden durch Anlage von unterirdischen, in Felsen 
eingehauenen Wasserleitungen für den Fall einer langwierigen 
Belagerung, getroffen hatten, und lobt die kriegstüchtige Be- 
festigung der Stadt Jerusalem. Schliesslich erwähnt er noch 
die verschiedenen, sich selbst bekämpfenden Parteien in der 
Stadt, welche aber durch die Ankunft der Römer zu gemein- 
samem Handeln vereinigt wurden. 

Kapitel 13 ist den drohenden Vorzeichen gewidmet, welche 
den baldigen Untergang von Jerusalem ankündigten. Evenerant 
prodigia, quae neque hostiis neque votis piare fas habet gens 
superstitioni obnoxia, religionibus adversa. Visae per coelum 
concurrere acies, rutilantia arma et subito nubium igne con- 
lucere templum, apertae repente delubri fores et audita maior 



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- 64 - 

humana vox: excedere Deos, simul ingens motus excedentium. 
Quae pauci in metum trahebant: pluribus persuasio inerat anti- 
quis sacerdotum litteris contineri, eo ipso tempore fore ut va- 
lesceret Oriens profectique ludaea, rerum potirentur, quae am- 
bages Vespasianum ac Titum praedixerat, sed vulgus more 
humanae cupidinis sibi tantam factorum magnitudinem inter- 
pretati ne adversis quidem ad vera mutabantur. Multitudinem 
obsessorum omnis aetatis, virile ac muliebre secus, sexcenta 
milia fuisse accepimus: arma cunctis, qui ferre possent, et 
plures quam pro numero audebant. Obstinatio viris feminisque 
par ; ac si sedes transferre cogerentur, maior vitae metus quam 
mortis. Hanc adversus urbem gentemque Caesar Titus, quando 
impetus et subita belli locus abnueret, aggeribus vineisque 
certare statuit: dividuntur legionibus munia et quies proelio- 
rum fuit, donec cuncta expugnandis urbibus reperta apud ve- 
teres aut novis ingeniis struerentur. 

Es hatten sich Vorzeichen ereignet, welche jedoch das 
dem Aberglauben ergebene und heiligen Gebräuchen abgeneigte 
Volk weder durch Schlachtopfer noch durch Gelübde zu sühnen 
für gestattet hielt. (Die Juden waren verblendet: sie glaubten 
nicht dem Worte Gottes und rannten mit offenen Augen in 
das Unglück ; die Christen Hessen sich warnen und zogen nach 
Pella, auf der linken Seite des Jordan, nordöstlich von Jerusalem. 
Vgl. Evgl. S. Matthaei c. 24, 15—22.) Man sah über den Himmel 
hin (am Firmamente) Schlachtreihen zusammentreffen, rot (blutig) 
funkelnde Waffen und von plötzlichem Wolkenfeuerschein den 
Tempel erhellt. Mit einem Male öffneten sich die Tore des 
Heiligtums, und man vernahm eine übermenschliche Stimme; 
jyDie Götter stehen aus!'' und zugleich das gewaltige Getöse 
der Wegziehenden. — Vgl. II Machabaeorum c. 5, 1—5: „Und 
es flehten alle, dass die Vorzeichen zum Guten ausschlagen 
möchten". Diese so merkwürdigen Erscheinungen deuteten 
nur wenige zum Schrecken (d. h. : sie sahen hierin wirklich 
drohende Anzeichen, dass Stadt und Tempel bald zugrunde 
gehen sollten); die meisten hatten die Überzeugung, es sei in 
den alten Schriften der Priester enthalten, dass von jener Zeit 
an das Morgenland erstarken werde, und Männer aus Judäa 
hevorgegangen, sich der Weltherrschaft bemächtigen würden. 
— Vgl. hierzu Tranquillus Suetonius in der vita Vespasiani 



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- 65 - 

c. 4, n. 27; zur ganzen Stelle aber Seite 20—22 di^sef Abhahdrf 
lung. — Diese rätselhaften Worte hatten zwar auf Vespasian 
und Titus als zukünftige Herrscher des Morgen- und Abend- 
landes hingedeutet — (nämlich zufolge der Auslegung des 
jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus; vgl. im vor- 
Husgehenden Seite 12 und 22); — aber die grosse Menge, wie 
Qs denn die Art der menschlichen Begehrlichkeit so mit sich 
bringt, bezog sogar diese hochbedeutsamen Ereignisse auf sich 
selbst und wurde nicht einmal durch das Unglück zur Wahr- 
heitbekehrt. Die ganze Menge der Belagerten, jedweden Alters, 
Männer wie Frauen, betrug, wie uns berichtet worden ist, 
sechsmalhunderttausend. Waffen hatte jeder, der sie irgendwie 
tragen konnte, und mehr noch, als die Zahl erwarten liess, 
w^agten sich damit in den Kampf. Gleich hartnäckig bewiesen 
sich Männer wie Frauen; und sollten sie gezwungen werden, 
ihre Sitze zu verlegen (d. h. : auszuwandern), so fürchteten sie 
das Leben mehr als den Tod. — Das nun war die Stadt und 
das Volk, gegen welche der Caesar Titus, weil die Lage des 
Ortes einen, stürmischen und plötzlichen Überfall nicht zuliess, 
mit Erdwällen und Schutzdächern zu kämpfen beschloss. Die 
Arbeiten wurden unter die Legionen verteilt, die Gefechte 
ruheten, bis alles vorbereitet war, was schon von den Alten 
zur Eroberung von Städten erfunden oder jetzt neu erson- 
nen war. 

Dieses alles hatte Christus, der Herr, vorausgesehen, als 
er am Palmentage beim Anblicke von Jerusalem in Tränen 
ausbrechend sagte: „Wenn du es doch erkannt hättest, und 
zwar an diesem deinen Tage, was dir zum Frieden dienet; 
nun ist es aber verborgen vor deinen Augen!" 

„Es werden nämlich Tage über dich kommen, wo deine 
Feinde einen Wall um dich aufwerfen und dich ringsumher 
einschliessen und dich ängstigen werden von allen Seiten her, 
Sie werden dich und deine Kinder, welche in dir wohnen, zu 
Boden schmettern und keinen Stein auf dem anderen lassen: 
— weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast!" 
S. Lucae c. 19, 41 — 45. — Diese Prophezeihung ging wörtlich 
in Erfüllung! 

Tacitus verlässt nun den östlichen Kriegsschauplatz und 
führt uns (c. 74 sq.) nach dem germanischen Westen. Seine 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 5 



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— 66 — 

weitere Schilderung der Belagerung und deren Ausgang ist 
mit den übrigen Büchern der „Historien" verloren gegangen. In 
dieser Hinsicht sind wir auf den Bericht des Dio Cassius „Rerum 
Romanarum ** 1. LXVI, c. 4— 11, und des Flavius Josephus „De 
hello ludaico" 1. V und VI angewiesen. 

Die Stadt wurde mit einem Walle umgeben und ein Teil 
nach dem anderen mit Sturm genommen. Am 17. Juli (70 n. 
Chr.) hörte das tägliche Opfer auf, vom 10.— 15. August wurde 
der Tempel erstürmt und in Asche gelegt; endlich am 2. Sep- 
tember fiel auch die obere Stadt. Alles wurde jetzt dem 
Boden gleich gemacht, und nur die drei Türme: Hippicus, 
Phasael und Mariamne Hess Titus als Wahrzeichen seines 
Sieges stehen. Über den blutnassen Boden der hl. Stadt ging 
die Pflugschar des Eroberers, und Salz des Fluches ward in die 
traurigen Furchen gestreut. Flavius Josephus („de belle lu- 
daico** 1. VI, c. 8, n. 5) berichtet als Augenzeuge: „Die 
Morgensonne des achten Tages im Herbstmonate ging auf über 
den rauchenden und flammenden Trümmern von Jerusalem, 
einer Stadt, die, wenn sie seit ihrer Erbauung so viele glück- 
liche Tage gesehen hätte, als sie während ihrer Belagerung 
Elend erfahren, wahrhaft beneidenswert sein würde." 

i8. Der Untergang des Kapitolinischen Tempels zu Rom 
und des jüdischen Tempels in Jerusalem. 

Eine merkwürdige Tatsache in der Weltgeschichte ist es, 
dass der Tempel des Jupiter auf dem römischen Kapitol und 
die für Jehovah erbaute Stätte in Jerusalem kaum durch ein 
Jahr geschieden (19. Dezember 69 — 15. August 70) innerhalb 
8 Monaten ein Raub der Flammen geworden sind. 

Flavius Josephus „de hello ludaico** 1. VI, c. 4, nr. 5, und 
c. 5 sq. berichtet: "EvGa hk aTpatiiJüTaiv tk; ouTe TrapaffcX^a ircpi- 
jLieiva^ ouT€ iiA TrjXiKOUTiu heiaaq dTXcipniiaTi baijioviiju 6p|iQ xP^M€vo^ 
dpTrdCci jifev ^K Tn^ (pX€TOjüievTi? öXti<; dvaKoocpiaeci^ b' uttö aTpaTiiuTOu 
TÖ TTup ivir](Si Gupibi XP^<J^ ^ctö' iiv €i^ Touq irepi töv vaöv oikou? 
elaiTÖv fjv ToO ßopeiou KXijuiaTO^ • eipojuieviic xfiq qpXoTÖ^ 'loubaiiuv ji^v 
dT€ip€Tai KpauTT) toö irdGcu^ dHia, Kai irpö^ Tr|V äjiiuvav CTuv^öeov 
oÖT€ ToO lf\v It\ qpeibuj XajißdvovTe^ out€ Tajiiveuöjüievoi Tr|V iaxuv 
hl ö Ktti qpuXaKTiKOi TTpötepov fjaav oixojievou ... 6 jifev vaö^ 
ouTU)^, dicovTO^ Kaiaapo^, d|LiTri7TpdTai. 



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- 67 - 

Quo tempore miles quidam, torre correpto, non exspec- 
tato cuiusdam mandato, neque tantum facinus veritus, divino 
quodam impetu fretus ex ardente materia aliquid rapit et a 
milite altero sublevatus ignem per fenestram auream injicit; 
unde ad cellas circa templum aedificatas de septentrionalt 
aditus erat regione. Flamma igitur excitata, ludaeorum oritur 
clamor calamitatis magnitudini par, et ad defensionem concur- 
rebant, neque iam vitae amplius parcendum rati, neque viribus 
temperandum rati eo pereunte, ad quod servandum antea erant 
intenti. (L. c. c. 4, n. 5, 6 und 7 im Auszug.) Titus Caesar 
quum accurisset frustraque flammam ignis tentasset exstinguere, 
quumque templi incendium augeretur, una cum ducibus intro 
sacrarium templi ingressus, quidquid in eo erat conspexit, 
multo quidem fama apud aligenas maiora, iactatione vero et 
opinione domestica non minora. Quum autem flamma etiam 
ad interiora penetrasset, Titus cum ducibus recessit. Et tem- 
plum quidem hoc modo exuritur, invito Caesare. 

Damals nun, als Feuer ausgebrochen war, ergriff ein 
römischer Soldat, ohne einen Befehl abzuwarten und ohne die 
Tragweite einer solchen Handlung zu tiberlegen, gleichsam 
einem tibermenschlichen Antriebe gehorchend, einen Holzbrand 
und Hess sich von einem anderen Soldaten in die Höhe heben. 
Hierauf schleuderte er das lodernde Scheit durch das goldene 
Fenster der nördlichen Seite in einen Gang, der in Verbin- 
dung stand mit den Gemächern, welche das Heiligtum um- 
gaben. Als nun die Flamme hoch aufleuchtete, erhob sich bei 
den Juden ein Klagegeschrei, das der Grösse dieses Unglückes 
entsprechend war. Sie liefen zum Schutze des Tempels herbei, 
und nicht mehr ihres Lebens noch ihrer Kräfte glaubten sie 
schonen zu dtirfen, wenn der Tempel zugrunde gehen sollte, 
dessen Hüter sie vordem waren. Caesar Titus eilte herbei 
und suchte vergebens das Feuer zu löschen. Da nun der 
Brand sich immer mehr ausdehnte, so ging Titus mit seinen 
Unterfeldherren in das AUerheiligstQ des Tempels und beschaute 
sich die ganze Einrichtung desselben. Er fand sie nun viel 
kostbarer, als man bei Fremden wusste, dagegen ganz ent- 
sprechend der hohen Vorstellung und dem Rtihmen seitens der 
Juden. (Cfr. das gleiche Verhalten des Cnejus Pompejus, 
welcher im Jahre 63 a. Chr. als Sieger in das AUerheiligste 

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— 68 — 

des Tempels zu Jerusalem eingetreten war. Ciceronis orat. 
pro Flacco c. 28; siehe Seite 136 flgd. des I. Bandes.) — 
Unterdessen hatte sich der Brand bis in das Innerste des 
Tempels verbreitet, und als auch hier die Flamme aufschlug, 
verliess Titus mit seinen Begleitern das Heiligtum. — So ge- 
schah es, dass der Tempel zu Jerusalem, freilich gegen den 
Willen des Caesar, in Feuer und Flammen unterging. — Noch 
in unseren Tagen steht der Triumphbogen des Titus zu Rom 
als ein Wahrzeichen seines Sieges über Judäa. 

Im Jahre 71 p. Chr. liess der Kaiser Vespasian den jü- 
dischen Tempel bei Heliopolis in Ägypten zerstören. Derselbe 
war 150 a. Chr. durch Onias erbaut worden, und der Gottes- 
dienst in ihm wurde genau so, wie im Tempel zu Jerusalem, 
gefeiert. Cfr. Flavii Josephi „de hello ludaico" 1. VII, c. 10, 
n. 2-4. 

Untergang des kapitolinischen Tempels zu Rom (69). 
Cornelii Taciti 1. Historiarum III, c. 71 sq.: 

Vixdum regresso in Capitolium Martiale furens miles 
aderat, nuUo duce, sibi quisque auctor. Cito agmine forum et 
imminentia foro templa praetervecti erigunt aciem per adversum 
coUem usque ad primas Capitolinae arcis fores. Erant antiquitus 
porticus in latere clivi dexterae subeuntibus, in quarum tectum 
egressi saxis tegulisque Vitellianos obruebant. Neque illis 
manus nisi gladiis armatae, et arcessere tormenta aut missilia 
tela longum videbatur: faces in proeminentem porticum jecere 
et sequebantur ignem ambustasque Capitolii fores penetrassent, 
nisi Sabinus revulsas undique statuas, decora maiorum, in ipso 
aditu vice muri obiecisset. . Tum diversos Capitolii aditus in- 
vadunt iuxta lucum asyli et qua Tarpeia rupes centum gradibus 
aditur. Improvisa utraqu vis ; propior atque acrior per asylum 
ingruebat. Nee sisti poterant scandentes per coniuncta aedificia, 
quae ut in multa pace in altum edita solum Capitolii aequabant. 
Hie ambigitur, ignem tectis oppugnatores iniecerint, an obsessi, 
quae crebrior fama, dum nitentes ac progressos depellunt. 
Inde lapsus ignis in porticus oppositas aedibus ; mox sustinentes 
fastigium aquilae vetere ligno traxerunt flammam alueruntque. 
Sic Capitolium clausis foribus indefensum et indireptum con- 
flagravit. 

Hoc facinus post condit^m urbem luctuosissimum foedissi- 



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- 69 - 

mumque rei publicae populi Romani accidit, nuUo externe hoste, 
propitiis, si per mores nostros liceret, diis, sedem lovis Optimi 
Maximi auspicato a maiöribus pignus imperii conditam, quam 
non Porsenna dedita urbe neque Galli capta temerare potuissent, 
furore principum excindi. Arserat etiam ante Capitolium civili 
bello, sed fraude privata: nunc palam obsessum palam incen- 
sum, quibus armorum causis, quo tantae cladis pretio? Stetit 
dum pro patria bellavimus! 

Strassenkämpfe zu Rom unter den Anhängern des Ve- 
spasian und Vitellius. 

Kaum war Cornelius Martialis (Primipilar bei den Ve- 
spasianern c. 70 n. 1) auf das Kapitol zurückgekehrt, als auch 
schon das rasende Kriegsvolk herankam, ohne Führer, jeder 
nach eigenem Gutdünken tätig. Im schnellem Zuge über das 
Forum und an den sich anschliessenden Tempeln vorbeieilend, 
rückten sie in Schlachtordnung gerade über den Hügel hin bis 
zu den ersten Toren der kapitolinischen Burg. Hier befanden 
sich von alters her Säulenhallen, an der Seite des Hügels zur 
rechten Hand gelegen, wenn man hinaufstieg. Sie stürmten 
jetzt auf das Dach derselben und überschütteten die Vitellianer 
mit Steinen und Ziegeln. Diese nun hatten nichts als ihre 
Schwerter in Händen; Schleudergeräte aber und Wurfgeschosse 
erst herbeizuschaffen, schien ihnen zu weitläufig. Sie warfen 
deswegen brennende Fackeln auf den vorstehenden Teil der 
Halle, und würden, dem Feuer nachgehend, durch die ange- 
brannten Pforten des Kapitols eingedrungen sein, wenn nicht 
Flavius Sabinus (Parteigänger des Vespasian c. 69, n. 1) die 
überall herabgerissenen Bildsäulen, die Ehrendenkmale der 
Vorfahren, gerade am Eingange wie eine Mauer ihnen entgegen 
geworfen hätte i). Nun griffen sie die auf der anderen Seite 



1) Der kapitolinische Berg hatte zwei Höhen : die nördliche, wo man 
heutigen Tages 124 Stufen zur Kirche S. Maria in Ära Coeli hinaufsteigt, 
trug die eigentliche Arx, die Zitadelle Roms; auf der südwestlichen, 
dem Kapitol, wo sich jetzt die deutsche Botschaft und das archäologische 
Institut befinden, lag der dreischiffige Jupiter-Tempel. In der Senkung 
zwischen den beiden vor alters bewaldeten Kuppen, lag das Asylum 
(Titi Livü 1. I. c. 8, n. 5). — Der geschilderte Angriff von dem Fomm 
aus (forum praetervecti), war also zunächst auf den südöstlichen Zugang 



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— 70 — 

des Kapitols liegenden Zugänge an, neben dem Haine des 
Asyls, und da, wo man auf hundert Stufen zum Tarpejschen 
Felsen hinaufsteigt. Unerwartet kam auf beiden Seiten der 
Sturm, näher und heftiger brach er über das Asyl herein. 
Nicht mehr aufzuhalten waren die Soldaten, welche über die 
anstossenden Gebäude kletterten, die, im Vertrauen auf eine 
lange Friedenszeit, hoch emporgerichtet, mit dem Boden des 
Kapitols eine Ebene bildeten. Hier ist es zweifelhaft, ob die 
Belagerer Feuer auf die Dächer geworfen haben, oder die 
Belagerten, wie die gewöhnliche Erzählung lautet, um so die 
Emporklimmenden imd immer weiter Vordringenden hinabzu- 
drängen. Von da schlug der Feuerbrand in die neben den 
Häusern liegenden Säulenhallen ; hierauf fingen die das Tempel- 
dach stützenden, aus altem Holze gefertigten Adler auch noch 
Feuer und nährten die Flamme. Auf diese Weise brannte das 
Kapitol bei verschlossenen Türen und ungeplündert nieder. — 
Seit Gründung der Stadt hat sich kein jammervolleres und 
schmählicheres Ereignis im ganzen römischen Reiche zugetragen. 
Ohne dass ein Feind von aussen her uns bedrängte, als die 
Götter, wenn sie bei unserem sittlichen Zustande es vermöchten, 
uns gnädig waren, da geschah es, dass der Sitz des besten 
und grössten Jupiter, von unseren Vorfahren unter günstigen 
Anzeichen als Unterpfand der Herrschaft gegründet, durch das 
wahnsinnige Beginnen der Fürsten zerstört wurde, obgleich 
ihn weder Porsenna, als die Stadt sich ihm ergab, noch die 
Gallier, als sie dieselbe eroberten, zu entweihen vermochten! 
Zwar hatte das Kapitol im Bürgerkriege schon gebrannt, 
aber nur durch die Arglist einzelner; was war aber jetzt, wo 
es offen in Brand gesteckt wurde, die Ursache des Kampfes? 
Welchen Gewinn hoffte man von solchem Unglück? Solange 
wir einen Krieg für unser Vaterland unternahmen, hatte das 
Heiligtum auf dem Kapitol dauernden Bestand! 

zum Kapitol gerichtet. Die nordöstliche Abdachung des letzteren zum 
Asyl hin, rechts von den Stürmenden, (wo jetzt der Palazzo dei Conser- 
vatori steht), war mit Häusern bedeckt, welche bei dem Sturme in Flammen 
aufgingen. Der andere Angriffspunkt war an der steileren Westseite, wo 
wahrscheinlich bei der Porta Carmentalis, jene Treppe zum Trapejischen 
Felsen hinaufführte, dessen Lage nicht genau zu bestimmen ist. (Eduard 
Wolff.) 



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— 71 — 

So waren binnen wenigen Monden das römische Kapitol 
mit den hochverehrten Heiligtümern des Jupiter, der Jimo und 
der Minerva sowie der religiöse Mittelpunkt des Reiches, nebst 
dem Tempel des wahren Gottes in Jerusalem, diese s^wei be- 
deutendsten Kultusstätten der alten Welt, durch römische Sol- 
daten, ohne es zu wissen, Vollstrecker höherer Ratschlüsse 
und Gerichte, vernichtet worden. Wenn der Kern reif ge- 
worden ist; so springt die Schale entzwei und hat keine Be- 
deutung mehr. (Evgl. S. Lucae 23, 45: Der Vorhang im Tempel 
zu Jerusalem.) Die Schale für das Judentimi und das Heiden- 
tum waren die Tempel in Jerusalem und Rom. Als nun der 
Kern, das Christentum, reif geworden, erschienen war, da 
sprang die leblose, wertlose Schale ab: Der Tempel su Jeru- 
salem und Rom verbrannten in Frist eines Jahres ! 

19. ,,Saxa loquuntur!'* Die Steine reden! Die Auffindung der 
Gruppe des Laokoon und deren Bedeutung für die christliche 

Welt- Anschauung. 

Am 14. Januar 1506 fand Felix de Fredis unter den 
Ruinen der Bäder des Kaisers Titus zu Rom am nördlichen 
Abhänge von S. Pietrö in Vincoli die herrliche Gruppe des 
Laokoon. Als Papst Julius II. dies vernahm, sandte er den 
Architekten Giuliano di Sangallo zur Ausgrabungsstätte. In 
seiner Begleitung waren Michelangelo und der neunjährige Sohn 
Sangallos, namens Francesco. Nachdem der Pontifex das Kunst- 
werk am 23. März erstanden hatte, wurde dasselbe auf einem 
prächtig geschmückten Fahrzeuge in den Vatikan gebracht. 
Ganz Rom jubelte über diesen kostbaren Fund und zierte die 
Strassen wie zu einem Festtage. Gefeiert wurde das Werk 
in Elegien, Oden und Epigrammen von den Dichtern der da- 
maligen Zeit. Es stammt aus der rhodischen Schule, welche 
von 323 bis 146 vor Christus blühte und seine Meister waren: 
Agesandros, Athenodoros und Polydoros. Es ist jetzt im Bel- 
vedere des Vatikan aufgestellt. (Cfr. Virgilii Aeneidos L II, 
201 sq.; Plinii Hist. Naturalis 1. 36.) Als Kunsterzeugnis ersten 
Ranges von allen Kennern gepriesen stellt die Laokoongruppe 
einen Vater mit zwei Söhnen dar, welche von grossen Schlangen 
unerrettbar umschnürt sind. Schon Goethe sagt in einer Ab- 
handlimg über diesen Gegenstand; Die Bildhauerkunst wird 



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— 7Ji — 

mit Recht so hoch gehalten, weil sie die Darstellung auf ihren 
höchsten Gipfel bringen kann und muss, weil sie den Menschen 
von allem, was ihm nicht wesentlich ist, frei darstellt So ist 
auch bei dieser Gruppe Laokoon ein blosser Name ; von seiner 
Priesterschaft, von seinen trojanisch-nationellen, von allem poe- 
tischen und mythologischen Beiwesen haben ihn die Künstler 
losgelöst; er ist nichts von allem, wozu ihn die Fabel macht: 
es ist ein Vater mit zwei Söhnen und in Gefahr, zwei gefähr- 
lichen Tieren zu unterliegen. Diese Gruppe stellt also die 
Menschheit im allgemeinen dar. So lebendig ist der Ausdruck 
des Schmerzes wiedergegeben, dass man unwillkürlich glaubt, 
den Angstschrei der armen Todesopfer hören zu müssen. Diese 
Gruppe stellt die leidende Menschheit dar ; sie repräsentiert das 
in Marmor ausgehauene, versteinerte Sündenelend der unerlösten 
Welt : im Banne der Schlange ! — Friedrich von Schiller sagt 
in dem Gedichte „Das Ideal und das Leben'' (1795), 12. Strophe: 
„Wenn der Menschheit Leiden euch umfangen, 
Wenn dort Laokoon der Schlangen 
Sich erwehrt mit namenlosem Schmerz: 
Da erhebe sich der Mensch, es schlage 
An des Himmels Wölbung seine Klage 
Und zerreisse euer fühlend Herz!" 
Winkelmann (9. Dezember 1717 bis 8. Juni 1768), Be- 
gründer der neueren Kunstgeschichte, sagt von dieser Statue: 
y^Die Augen des leidenden Vaters sind nach der höheren Hilfe 
gewandt!^ (Vgl. L Band, S. 20.) — Einen ähnlich tieferen 
Sinn hat das schlangenumgürtete Medusenhaupt der Gorgo. 
Es bedeutet das in Ers gegossene Schuldhewusstsein, das böse 
Gewissen der armen Heidenwelt, Ovid „Metamorphosen" 4. Buch, 
Vers 817 und folgende, gibt die Erklärung dazu: 
„Nun schwieg Perseus wider Erwartung. Einer der Edlen 
Nahm das Wort und fragte : Warum hat eine der Schwestern 
Nur mit Schlangen umwundene Haare getragen? Und Perseus 
Gab ihm zur Antwort: Weil du nach Dingen, die der Erzählung 
Wert sind, forschest, so höre den Grund der Geschichte: Medusa 
War von schöner Gestalt, und die Neid erregende Hoffnung 
Vieler Bewerber. Nichts aber war schöner an ihr als die Locken ; 
Dieses bezeugen, welche sie sahen. Sie hat Neptunus aber 
In der Minerva Tempel geschändet. Voll Abscheu bedeckte 



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- 73 — 

Jupiters Tochter die keuschen Augen mit der Aegide 

Und verwandelte, um es nicht ungebtisset zu lassen^ 

Der Medusa Locken in schreckliche Schlangen. Bis jetzt noch 

Trägt sie, dass mit Entsetzen sie die erschrockenen Feinde 

Verjage, auf ihrem Schilde die Schlangen, welche sie schuf.** 

20. Die in Jesus Christus vollbrachte Erlösung. 

Von dem Schuldbewusstsein der un erlösten Menschheit 
gibt ebenfalls der btissende Prometheus Zeugnis. Ein Geier 
riss ihm jeden Tag von neuem die Leber auf: „Wo der Wurm 
nicht stirbt!" Cf. Isaiae proph. 66, 24; und Evgl. S. Marci 9, 4v5. 
Aber auch die Hoffnung einer Erlösung aus diesem qualvollen 
Zustande durch die stellvertretende Sühne Gottes wird ihm 
verkündigt : 

Kai TOioöbe iioxOou r^p^a jiti ti irpocrbÖKa 
TTpiv av Geiliv xi^ bidboxo^ tujv (Tiliv ttövuüv 
<l>dvi;i 0eXri(Ji;| x' ei^ dvauTtiTOV iioXeiv 
"Aibnv Kveqpaia x' djuiq)! Tapxdpou ßdxir 
Vgl. Seite 4u. s.f.! (Aeschyli Promethei vincti v. 1016— 1020.) 
Talis molis sperare non licet finem, 
Ni quis Deus pro Te paratus sit 
Descendat ut in Tartari domum, 
Vicem gerens laboris Tui particeps! 
Von solcher Drangsal hoffe nicht ein Ziel, bevor 
Als Stellvertreter deiner Qual ein Gott erscheint, 
Bereit, für dich in Hades unbesonntes Reich 
Zu steigen und zur finstern Kluft des Tartarus! 
Damit sind die Worte des Symbolums zu vergleichen: 
„Qui propter nos homines et propter nostram salutem 
descendit de coelis; crucifixus etiam pro nobis descendit ad 
inferos!* Der wegen uns Menschen und um unseres Heiles 
willen vom Himmel herabstieg; er ward für uns gekreuzigt 
und stieg zur Unterwelt. 

Die im Heidentum sehnlich erhoffte Erlösung durch die 
stellvertretende Busse eines Gottes ist durch Jesus Christus 
wirklich vollzogen worden. Die vollendetste Wirkung derselben 
zeigt sich bei der „Virgo Immaculata". Sie ist ohne Makel 
der Erbsünde und frei von jeder Tatsünde; sie ist „pleiia 
gratia" = voll der Gnaden. (S. Lucae 1, 28.) 



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— 74 — 

Aus diesem Grunde ist die Statue der „Virgo Immacu- 
lata" das sinnreichste Pendant zu der Gruppe des Laokoon 
und dem schlangenumgürteten Medusenbaupte der Gorgo. Die 
Madonna trägt auf ihrem Haupte eine Sternenkrone^ und ihr 
Fuss vertritt die Schlange. (Apocalypsis 12, 1 sowie Genesis 
3, 15.) Laokoon wird erlöst und Medusa wird begnadigt! 
„Nur wer sich auf den Mittelpunkt gestellt, 
Auf Golgatha^ vom Licht der Welt umflossen, 
Versteht die alte und die neue Welt. 
Den andern bleibt ihr ewiger Sinn verschlossen. 
Nur wer die aufgegangene Sonne schaut. 
Sieht in der alten Welt des Lichts Verhüllung, 
Nur der hört ihrer Sehnsucht Schmerzenslaut, 
Der da frohlockend glaubt an die Erfüllung!** 

Oscar von Redwitz „Thomas Morus". 



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1. Anhang: 

Die Beziehungen der griechischen Eleusinien zu dem jüdischen 

Laubhüttenfeste. 

Der griechische Schriftsteller Plutarch wurde um das Jahr 
50 nach Christus zu Chaeronea in Boeotien geboren und starb 
zwischen 120 — 134. Er studierte zu Athen unter Ammonius 
und wurde später als Neuplatoniker selbst Lehrer der Philosophie 
in Rom. Seine Schriften zerfallen in vergleichende Lebens- 
beschreibungen (Parallelbiographien) berühmter Griechen und 
Römer sowie in moralische Darstellungen vielseitigsten Inhaltes. 
In der Abhandlung Zu|Li7T0(JiaKa TTpoßXii^aTa, Quaestiones Convi- 
vales = Tischgespräche 1. IV, c. 6„ nr. 1 und 2, führt er den 
Athener Moeragenes ein, welcher den versammelten Gästen 
einen Vortrag hält über die griechischen Eleusinien (Diony- 
sien etc.) und das jüdische Laubhüttenfest. Er suchte zu be- 
weisen, dass diese beiden religiösen Gebräuche eine grosse 
Ähnlichkeit unter sich haben. Hierbei nennt er auch die jüdischen 
Leviten, deren Name aber nach seiner Ansicht von dem grie- 
chischen Worte : Maioq (Lysius), oder Emoq (Euius) herzuleiten 
ist. Auch das Sabbatfest der Juden will er mit der griechischen 
Dionysosfeier in Verbindung bringen und glaubt die Bezeich- 
nung desselben auf das Wort: Zdßo(; zurückführen zu dürfen. 
Schliesslich gibt er eine Beschreibung der Amtstracht des 
Hohenpriesters. Hören wir nunmehr den Vortrag im Urtexte 
selber: TTdvTWV ouv KcXeuövxujv Kai b€0|i€vu)v 'irpaiTOV |li€v' fqpri 
MoipatevTi^ 6 'A0iivaiO(; 'Tr]q ixe-xiarriq Kai TeXeiOTaxTi^ io^Tf\<; nap' 
auToT^ loubaioi^ 6 Kaipö? iüTx Kai ö xpoiroq Aioviiaiu TrpocJriKuiv • 
Tr\v faß X€TO^€VT]v VTiaxeiav fitovxe^ otKiiidlovTi xputilTif» ipairÄa^ le 
TTpoTiOevrai TravTobaTrfiq önOüpaq uttö aKT]vaT(; Kai iraXidaiv ^KKXimdxujv 
jidXicTTa Kai kittou bia7Te7rXeT)i€vai(; • Kai Tf)v npoTcpav ifiq dopiriq 
aKTivfiv övojidZiouaiv ' öXitai^ b' öarepov fiiii^pai^ dXXiiv ^opiriv, ouk 
av bi' aiviT^druDv dXX' ävTiKpu(; BdKxou KaXou)Li€VTiv, leXoGaiv. toxi 
bi Kat Kpabf](popia xi^ ^opxf) Kai 0up(Jo<popia nap'. auxoi^, iy § 0upr 



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- 7^ - 

aovx; ?xovT€(; ei^ tö lepöv elaiaaiv. eiaikQovxeq bt, 8 xi bpiliaiv, ouk 
Xa^ey • eiKÖ^ bfe ßaKX€iav eivai xct 7roioü)Li€va ' Kai Tap cTaXTiiTHi iniKpai^, 
ujatrep 'ApTeToi Toxq AiovucJioi^ dvaKaXou)Li€voi xöv 6eöv xP^J^viai* 
Ktti Ki9api2[ovx€^ ?x€poi Tipotaaiv, oöq auxoi Aeuixa^ TTpo(Jovo^d2[ou(Tiv, 
€Tx€ TTapd xöv Aiiaiov eixe jnäWov irapa xöv Eöiov Tf]q diriKXricJeujq 
T€TevT])i^VTi^. ol^ai bfe Kai x^v libv Zaßßdxujv tepxfjv )ir\ TravxdTramv 
dTTpoabiövuaov elvar Zdßou? Tdp Kai vuv fxi ttoXXoi xou^ BdKxouq 
KaXoOai Kai xauxT]v dqpiäai xf|v qpuüvrjv oxav öptid2[ujai xui öeui' 
ßeßaiiwaiv b' l(7xi briirou Kai Trapd AinnoaG^vouq Xaßeiv Kai irapä 
Mevdvbpou. Kai ouk dirö xpönov xi^ av cpaiT] xouvo)Lia ireTTOificyGai 
Ttpö^ xiva (7ößri(7iv, f[ Kaxex€i xou^ ßaKX€uovxa(;. auxoi bfe xiu Xötw 
jiapxupoöaiv, oxav Zdßßaxov xijiOüai, jidXiaxa iiifev ttivciv koi olvoöaGai 
irapaKaXouvxe^ dXXr|Xou(;- oxav b^ KuüXiii] xi iieilow; dnoTeueaGai -^i 
TTdvxu)^ dKpdxov vojiiCovxe^. Kai xaöxa iiifev elKÖxa qpaiT] xi<j av eivar 
Kaxd Kpdxo^ bfe xouq dvavxiou? TtpOuxov jifev 6 dpxiepeu^ eXetxei, 
liixpoqpöpo^ x€ TTpotuJv ev xai^ ^opxai? Kai veßpiba xpwc^ÖTraaxov evvri- 
ILievoq, x^TiIiva bk irobiipTi qpopujv Kai KoGöpvouq- KiLbuDve^ be ttoXXoI 
KaxaKpejiavxai xfiq eaGfixo^, u7roKO|LiTTouvx€^ ^v xijj ßabiZieiv, üjq xal 
irap' f]|iiv' ipöcpoi^ bfe xP^vxai Tiepi xd vuKxeXia Kai x^iXkokpöxou^ 
xd^ xoO OeoO xiGtiva? TrpocraTopeuouai • Kai ö beiKvu)Lievo^ ev xoi^ 
dvavxioi^ xoö veuj Gupoo^ dvxexuTiujiLievo^ Kai xujiTrava' xaöxa ifotp 
oubevi br|iT0u6€v dXXiu Geuiv f| AiovucJcu 7rpo(7r|Kei. 

Die Überschrift des 6. Kapitels im 4. Buche der Tisch- 
reden lautet: „Wer ist der Gott der Juden?" Die heidnische 
Tischgesellschaft: Symmachus, Lamprias und Moeragenes 
glaubten aus den religiösen Gebräuchen der Juden schliessen 
zu dürfen, dass dieselben von den Griechen herstammten und 
sich auf Dionysos (Liber) bezögen. Moeragenes, der Athener, 
erbot sich nun, diese Beziehungen nachweisen zu können. 

Da nun alle es wünschten und ihn darum baten, begann 
er: „Fürs erste entspricht das grösste und heiligste Fest der 
Juden der Zeit und der Feier nach dem Dionysos. Denn an 
den so genannten Fasten, wenn die Weinlese so recht im Gange 
ist, stellen sie unter Zelten und Hütten, welche zumeist aus 
Wein- und Efeuranken zusammen geflochten sind, Tische 
mit Sommerfrüchten aller Art auf, wie sie auch den Tag vor 
dem Feste ^Hüttenfesf-' nennen. Wenige Tage später sodann 
feiern sie ein anderes Fest, welches nicht bloss vermutungs- 
weise, sondern wörtlich . nach dem Bacchus benannt ist. Es 



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- 77 - 

gibt aber auch bei ihnen ein Fest mit dem Namen „Tragen von 
Feigenbaumzweigen", und ein anderes, das „Tyrsus-Tragen", 
an welchem sie mit Tyrsusstäben in den Händen den Tempel 
betreten. Was sie nun in demselben tun, weiss ich nicht. Es 
ist aber wahrscheinlich, dass sie eine Bacchusfeier halten; denn 
sie bedienen sich, wie die Argiver an den Dionysien, kleiner 
Trompeten zur Anrufung ihres Gottes. Diesen schliessen sich 
die Zitherspieler an, welche die Juden selbst ^Levüen^ nennen; 
sei es nun, dass dieser Name von Lysius, oder richtiger von 
Euius herkommt. (Beides sind Bezeichnungen des Dionysos.) 
Auch ihr Sabbatfest, glaube ich, ist nicht gan? ohne dionysische 
Feier; denn viele nennen selbst jetzt noch die Bacchanten 
„Sabben" und rufen diesen Namen aus, wenn sie den Gott 
mit Orgien verehren. Hiervon kann man sich aus Demosthenes 
(orationis de Corona c. 18, § 260) und Menander (Kock. 3 p. 260) 
überzeugen. Auch wäre es nicht unpassend, anzunehmen, dass 
dieser Name von jener lebhaften Bewegung gebildet sei, in 
welcher die Bacchanten befangen sind. — Diese Ableitung 
sowie die frühere „der Leviten" von Lysius oder Euius sind 
irrtümlich; denn das Wort „Leviten" kommt vom jüdischen 
Stamme „Levi", und die Bezeichnung „Sabbat" bedeutet „Ruhe- 
tag", also das Gegenteil von Orgien des Bacchus. — Beide 
Erklärungen des Atheners Moeragenes sind aus der Unkenntnis 
der hebräischen Sprache hervorgegangen. 

Auch folgendes kann man anführen, was bei den Juden 
viele Ähnlichkeit mit dem bacchischen Kultus darstellt. Den 
ersten Beweis liefert der Hohepriester derselben, welcher an 
Festen mit einer Binde um das Haupt, einena mit Gold ge- 
stickten Hirschfelle als Überwurf, und in einem bis auf die 
Füsse reichenden Untergewande nebst „Kothurn" (Fus^beklei- 
düng) erscheint. An seinem Kleide hängen viele Schellen, 
welche bei der Bewegung klingeln; gerade so, wie man bei 
uns während der nächtlichen Feier ein Geräusch macht und 
die Ammen Gottes eherne Becken und Pauken schlagen nennt. 
Und oben an der Vorderseite des Tempels sieht man den 
Tyrsusstab und Pauken in Relief abgebildet, Attribute, welche 
doch wohl keinem anderen Gott, als dem Dionysos zukommen. 

Wenn der Athener Moeragenes hier von einem Tyrsus- 
stabe nebst Pauken an der Vorderseite des Tempels zu Jerun 



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~ 78 - 

salem spricht, so liegt offenbar eine Verwechslung mit dem 
goldenen Rebstocke (vitis aurea bei Tacitus „Historiarum" 
1. V, c. 5) zutage, welchen der König Herodes über dem Tempel- 
eingange befestigen liess. Cornelius Tacitus deutet dieses 
Weihegeschenk ebenfalls als Zeichen der Verehrung des Gottes 
Liber, des griechischen Dionysos. Cfr. 1. supra cit. , und 
Flavius Josephus „de bello ludaico" 1. V, c. 5, n. 4, sowie 
„ Antiquit. ludaicarum" 1. XV, c. 1 1 n. 3. — Professor Wytten- 
bach hält den Text des Plutarch an dieser Stelle für unsicher 
und liest: „ah den inneren Wänden des Tempels". Gemäss 
dem 3. Buche der Könige, Kap. 6, Vers 18 und Buch der 
Chronik II, c. 3, 5—8 liess Salomo die Innenseite des Tempels 
mit Zedernholz und Goldplatten verzieren, auf welchen Bild- 
werke von Koloquinten mit aiifgebrochenen Knospen sowie 
Palmen und Cherubinen ausgeschnitten waren. 

Nachdem wir diese allgemeine Übersicht vorausgeschickt 
haben, ist noch klar zu stellen, welche .von den genannten 
Festgebräuchen den Vorrang des höheren Alters besitzen. 
Hierauf muss noch die Ähnlichkeit der einzelnen Riten unter- 
einander genauer nachgewiesen und besprochen werden. Vgl. 
I. Band S. 80 flgd., und II. Band S. 56 flgd. 

Der Tischgesellschaft bei Plutarch war die Ähnlichkeit 
des jüdischen Laubhtittenfestes mit den griechischen Dionysos- 
festen so auffallend, dass sie glaubten, die Juden hätten sich 
den Dionysoskult angeeignet. Allein offenbar haben nicht die 
Juden dionysische Festgebräuche entlehnt, sondern umgekehrt. 
Schon Tacitus sagt : „Hi ludaeorum ritus, quoquo modo inducti, 
antiquitate defenduntur^ . Die Religionsgebräuche der Juden, 
mögen sie auch aus zufälligen Gründen entstanden sein, (wir 
wissen, libri Exodi c. 23, 14 sq. und 1. Levitici c. 25, 2 — 22), 
^hahen jedenfalls ein hohes Alter für sich^. Unstreitig geht 
die Gesetzgebung auf Sinai mit der Verkündigung der jüdischen 
Festordnung den religiösen Einrichtungen der Griechen um 
mehr als 500 Jahre voraus. Wenn nun dieselben mit den 
jüdischen Gebräuchen so auffallend übereinstimmen, wie die 
Bacchus-, Dionysos- und Eleusinischen Feierlichkeiten, so sind 
sie gewiss auf diese als ihre Vorbilder zurückzuführen. Cfr. 
1. I, Machabaeorum 3, 48. Dieses soll nun an den Eleusinien, 
mit welchen die Dionysien vereinigt waren, nachgewiesen, und 



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- 79 — 

ZU diesem Zwecke dasjenige, worin die Ähnlichkeit zwischen 
den Eleusinien und dem Laubhüttenfeste besonders augenfällig 
ist, hervorgehoben werden, nämlich die Zeit^ Art und Weise 
der Feier, 

Am 10. des Monates Tischri, welcher teils unserem Sep- 
tember, teils dem Oktober entspricht, war der grosse Buss- 
und Fasttag oder das Versöhnungsfest der Juden. Am 15. 
desselben Monates wurde das Laubhtittenfest gefeiert. Es war 
durch eine besondere Fröhlichkeit ausgezeichnet und hiess 
deswegen auch „das Fest mit Auszeichnung**. Alle Männer 
und Jünglinge, Kranke, Greise und Knaben unter 12 Jahren 
ausgenommen, mussten bei der Stiftshütte oder später in Jeru- 
salem sich versammeln. Das Fest dauerte vom 15. — 23. Tischri, 
mithin volle acht Tage. Rechnet man noch hinzu, dass die jü- 
dischen Feste mit dem Vorabende begannen, so haben wir neun 
Tage. (L. Levitici c. 23, 33 flgd., Numeri c. 29, 7 flgd.). Die 
Bedeutung des Festes ist schon in seinem Namen ausgedrückt; 
es bezog sich nämlich auf das Wohnen der Israeliten in Hütten 
oder Zelten während ihres Umherirrens in der Wüste und auf 
die daselbst von Gott empfangenen Wohltaten, wie z. B. das 
Manna, welches jeden Tag neu vom Himmel taute. Um diesen 
Zweck noch mehr zu versinnlichen , hatte Jehovah beföhlen, 
dass alle eingeborenen Israeliten während des Festes unter 
Zelten von grünen Zweigen wohnen sollten (L. Levitici c. 23, 
43). Wegen des Zusammentreffens mit der Obst- und Wein- 
ernte hatte dieses Fest zugleich die Bedeutung eines Erntefestes 
(1. Exodi c. 23, 16, Deuteronomii c. 16, 13). 

Auch die Eleusinien bei den Griechen übertrafen an Glanz 
und Ruhm alle anderen Institute ähnlichen Charakters und 
hiessen daher vorzugsweise „die Mysterien". Ihren Namen 
hatten sie von Eleusis, einer Stadt und Gemeinde (bfjiLioq) in 
Attika, mit einem Tempel der Ceres (Göttin des Getreides). 
Während die öffentliche Volksreligion nur für die glücklichen 
und frohen Menschen eine Anregung geben konnte, bot sie für 
die Unglücklichen und Trauernden keine Tröstung noch Stütze. 
Auch das Verlangen nach innerer Heiligung und Entsühnung 
fand in derselben keine Befriedigung. Daher suchte man die 
Geheimkulte auf, in welchen Fasten, Kasteiungen und Gebets- 
übungen u. s. f. den Frieden der Seele beförderten. Diese 



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— 8o 

Mysterien wurden sehr hoch geschätzt, und viele Hessen sich 
in dieselben einweihen. Das galt besonders von den grossen 
Eleusinien. Voraus gingen die kleinen Mysterien, in welchen 
gewisse Reinigungen und Sühnungen vorgenommen wurden 
bis zum Anfang der Hauptfesttage. Diese begannen mit dem 
15. Boedromion, welcher Monat mit dem hebräischen Tischri 
übereinstimmt, und dauerten bis zum 23. einschliesslich, also 
neun Tage. So lange nämlich durchstreifte Demeter (identisch 
mit der römischen Ceres) die Erde, indem sie Fackeln in den 
Händen trug; sie ass und trank nicht während der ganzen 
Zeit und suchte ihre Tochter. (Ovidii „Metamorphoseon" 1. X, 
431.) Zur Erinnerung an dieses Umherirren der Demeter, und 
zugleich an die Mitteilung ihrer Gaben, der Feldfrüchte {Getreide 
u. s. f.) und der Mysterien, wurden die Eleusinien gefeiert. Die 
Verbindung des -wandernden Weingottes Dionysos mit den 
cerealischen Göttinnen und die Zeit der Festfeier .beweisen, 
dass die Eleusinien, wie das Laubhüttenfest zugleich ein Dank- 
fest für die vollbrachte Ernte und Weinlese waren. 

Gleichwie nun beide Feste in bezug auf die Jahreszeit, 
in welcher, und die Anzahl der Tage an welchen sie gehalten, 
und den Zweck zu welchen sie gehalten wurden, merkwürdig 
übereinstimmen, so gleichen sich auch die Hauptpersonen, 
welche dabei tätig waren, sowie die untergeordneten Begleiter 
derselben, in mehr als einer Beziehung. 

An der Spitze des mosaischen Priestertums stand der 
Hohepriester. Nur ihm kam es zu, das Jahr einmal in das 
Allerheiligste zu treten, um sich und das Volk mit Jehovah zu 
versöhnen. (L. Levitici c. 16.) Er hatte die Oberaufsicht über 
den Gottesdienst und den Vorsitz bei dem höchsten Gerichte 
(L. Deuteronomii c. 17,8—12), welches später Synedrium hiess. 
(Evgl. S. Matthaei c. 26, 57.) Unter die Erfordernisse zum hohen 
Priestertum gehörte an erster Stelle die Abstammung von Araon, 
(Numeri c. 18, 7.) Er musste von körperlichen Gebrechen frei 
sein. (L. Levitici c. 21, J7.) Er durfte nur eine Jungfrau hei- 
raten (Levitici 21, 13) und hatte während seiner priesterlichen 
Funktionen enthaltsam zu leben. An der Ausübung seines 
Amtes hinderte ihn sogar eine unfreiwillige Makel, wie die 
Berührung einer Leiche u. s. f. (Levitici c. 22, 1 flgd.) Seine 
Kleidung war ausgezeichnet und bis ins einzelnste bestimmt. 



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— 8i — 

(1. Exodi c. 28.) Ein Gewand von Linnen reichte ihm bis auf 
die Füsse. Über demselben trug er ein hyazinthblaues Ober- 
kleid: Flavii Josephi „Antiquitates" III, c. 7, n. 1 — 7. Dasselbe 
reichte bis an die Knie und war am unteren Saume mit künst- 
lichen Granatäpfeln und goldenen Glöckchen verziert, welche 
beim Gehen einen vernehmbaren Klang verursachten. Vgl. 
oben Seite 77, und l Exodi c. 28, 31—36. 

Die Kopfbedeckung des Hohenpriesters hiess : nsastJa, 
welches hebräische Wort Philo Alexandrinus (und Flavius 
Josephus) mit Kibapi^ = Tiara übersetzen ; ebenso S. Hieronymus. 
Sie war eine Art Diadem oder Turban (Mitra), vorne mit einer 
goldenen Platte versehen, welche die Aufschrift trug: tiiJT'lbuJnj? 
= 'Atia0|Lia Kupiou (Septuaginta) , Sanctum Domino (Vulgata), 
Heilig bin ich dem Herrn! (L. Exodi c. 28, 36.) Das Haupt 
musste er bei dem Gottesdienste stets bedeckt halten. (L. 
Levitici c. 10, 6.) 

Dem Hohenpriester waren die einfachen Priester aus den 
übrigen Nachkommen Aaraons untergeordnet. Sie hatten die 
täglichen Opfer zu besorgen, die Gesetzbücher zu bewahren 
und abzuschreiben, das Volk zu unterrichten u. s.,f. Unter 
ihnen standen die Leviten, aus dem Stamme Levi, welche die 
niederen Dienste bei dem Opfern verrichteten, bei dem Gottes- 
dienste sangen^ verschiedene Instrumente spielten, auch bei dem 
Unterrichte des Volkes sich beteiligten. . Die Priester und 
Leviten, der Hohepriester an ihrer Spitze, samt den Ältesten 
Israels bildeten ein Kollegium, den Hohen Rat (Sanhedrin, 
Synedrium, Synagoge), welcher nicht' bloss die schriftlichen 
Offenbarungen, wie sie Moses niedergelegt hatte, bewahren, 
(Deuteronomii c. 31, 9), sondern auch die dem geschriebenen 
Worte zur Seite gehende mündliche Überlieferung (Tradition) 
fortleiten und erklären sowie über schwierige Rechtsfälle end» 
gültig entscheiden sollte. Ihre Auktorität wurde von Christus 
bestätigt, Evgl. S. Matthaei c. 23, 2 — 4. Wer dem Spruche des 
Hohen Rates trotzte, musste sterben. (Deuteronomii c. 17, 8 sq.) 
Interessant ist die Wahrnehmung, dass bei dem Eleusinischen 
Kultuspersonal fast die nämliche Organisation bestand, und 
mitunter wörtlich übereinstimmende Anordnungen gültig waren. 
Vor allen ragte der Hierophant = Offenbarer heiliger Dinge 
hervor. Er wird von Plutarch mit dem Hohenpriester der 

Kröll, Die Beziehangren des klasa. Altertums zu den hl. Schriften. 6 



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* 8a ~ 

Juden (vgL Seite 77), und von Dionysius von Halicamassus mit 
dem Pontifex Maximus der Römer verglichen (vgL Dionysii 
Hai. „Antiquitatum" 1. II, c. 73, 1. III, c. 36). 

Der Hierophant musste stets aus der Familie des Eumolpus, 
des ersten Hierophanten genommen werden. Sein Hauptgeschäft 
bestand darin, in die Mysterien einzuweihen. Sein Amt be- 
kleidete er lebenslänglich. (Pausaniae 1. II, c 14.) Nach Über- 
nahme desselben war er zur beständigen Enthaltsamkeit ver- 
pflichtet (S. Hieronymi ad versus lovinianxmi opp. IV, 192.) 
Er musste ohne sichtbare körperliche Gebrechen sein. Seine 
Amtskleidung war genau bestimmt. Ein weisses Kleid reichte 
bis zu den Füssen; an dem Oberkleide waren Glöckchen 
angebracht, welche bei dem Einherschreiten ein Geräusch 
machten. (Plutarchi „Alcibiades" c. 22, vgl. Seite 77 flgd.). 
Alles wie bei dem jüdischen Hohenpriester. 

Ausser dem Hierophanten waren noch Priester niederen 
Ranges bei den Eleusinien tätig, nämlich der Keryx^ der £>aduch 
und Epibomius, deren Familie mit derjenigen des Hierophanten 
verbunden war. KflpuE = Verkündiger Herold ; AqiboOxo? = Fackel- 
träger; *Emßu)^io^ = Altardiener. Den Genannten waren andere 
untergeordnet, welche die niederen Dienste bei den Mysterien 
zu besorgen hatten, ähnlich wie die Leviten der Juden. Aus 
dem Eleusinischen Kultuspersonal bildete sich ein ^Heiliger 
Rat^ (i€pd fcpouaia), dessen Pflicht es war, die Gesetze zu 
bewahren und zu erklären, welche die Eleusinischen Mysterien 
betrafen. (Cfr. PoUux aus Naukratis 1. 1, c. 35.) Hiermit war 
das Gericht der Eumolpiden identisch, an welches Klagen 
wegen 'Acr^ßcta = impietas, Irreligiosität gerichtet werden konnten 
Das gerichtliche Verfahren gründete sich auf geschriebene 
Gesetze und mündliche Überlieferungen, wie sie bei den Eumol- 
piden üblich waren. (Lysiae contra Antigonum § 10.) Die 
Geschichte des Alcibiades und des Demetrius geben interessante 
Beispiele derartiger Verhandlungen. (Plutarchi „Alcibiades** 
c. 22, 33, „Demetrius" c. 26.) 

Die Festfeier selbst ging bei den Juden in folgender Weise 
vor sich. Am Vorabende des ersten Feiertages mussten sich 
alle reinigen, baden und salben. Nach Mitternacht wurden die 
Tore des Tempels geöffnet. In aller Frühe kamen schon die 
Leute dahin, jeder trug einen Strauss von Palmmyrten und 



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- «3 - 

Weidenzweigen nebst einer Zitrone. Den ganzen Tag über 
wurden Opfer dargebracht und das grosse Hallel (die Psalmen 
113 — 118) gesungen, während die Leviten dazu spielten. Alle 
Festteilnehmer gingen täglich einmal, am siebenten Tage jedoch 
siebenmal um den Brandopferaltar, die Palmzweige nach allen 
Seiten hin schwingend. Ebenso wurde es an den folgenden 
sechs Tagen gehalten. Am achten Tage aber kam noch eine 
feierliche Wasserspende hinzu. Zum Trankopfer gentigte es 
nicht, Wein zu bringen; dann gehörte auch Wasser herbei. 
Mit goldenem Kruge begab sich ein Priester zu dem am Fusse 
des Berges Zion befindlichen Brunnen Siloahj schöpfte aus 
demselben und brachte das Wasser in den Vorhof des Tempels. 
Hier sang man die Worte aus dem Propheten Isaias: ^Ihr 
werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Quellen des 
Erlösers". (Isaiae c. 12, 3.) Haurietis aquas in gaudio de fontibus 
Sabvatoris. Dieses Wasser wurde in feierlichem Aufzuge durch 
das Wassertor des Tempels getragen, in dessen innerem Vor- 
hofe ein Altar errichtet war. Zu den Stufen desselben stieg 
sodann der Priester hinan und goss das Wasser nebst Wein 
in zwei silberne mit Ablaufröhren versehene Schalen aus, und 
zwar an der Westseite des Altares das Wasser, an der Ost- 
seite den Wein. Während der Prozession sangen die Priester 
und Leviten unter Posaunenschall eine Antiphon aus Isaias 
(c. 12, 3), und beim Ausgiessen des Wassers wurde das grosse 
„Hallel" (die Psalmen 113 — 118) angestimmt. Nachdem der 
Gottesdienst mit der Wasserspende vollendet war, begann die 
Nachtfeier. In einem der grossen Vorhöfe des Tempels wurden 
hohe Leuchter angezündet, welche den ganzen Raum tages- 
hell erstrahlen Hessen. Die Vornehmen tanzten hierauf vor 
dem ganzen Volke, indem sie Fackeln trugen, dieselben in die 
Höhe warfen und wieder auffingen. Die ganze Nacht hindurch 
hielt diese Feier an und bildete den Höhepunkt des Festes. 
Die Rabbinen nannten dasselbe auch „Gesetzesfreude". Die 
Leviten spielten inzwischen auf musikalischen Instrumenten, und 
alles Volk sang die Stufenpsalmen 119 — 133. 

Alle sieben Jahre musste während dieses Festes das Gesetz 
Gottes dem versammelten Volke sowie den in Palästina woh- 
nenden Fremden vorgelesen werden. (L. Exodi c. 23, 16, und 
Levitici c.23, 34—43, Numeri c. 29, 12, Deuteronomiic.3l, 10—12.) 



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- «4 - 

Vergleichen wir nun mit diesem so freudenreichen Feste 
der Israeliten die Eleusinien der Griechen, so finden wir im 
wesentlichen, selbst in einzelnen Nebensachen, dieselben Ge- 
bräuche, nämlich: Reinigungen, Opfer, Prozessionen^ fröhliche 
Musik, nächtliche Feier, religiöse Tänse mit Fackeln^ Wasser- 
spenden und Mitteilungen von Heilslehren. 

Die. Tage der grossen Eleusinien hatten von den an ihnen 
stattfindenden Festzeremonien ihren Namen. Der erste Tag 
der Feier, der 15. Boedromium, *Atupm6^, war der Vorbereitungs- 
tag. An demselben wurden die Einzuweihenden durch einen 
öffentlichen Ausruf des Hierophanten und Daduchen mit der 
Ordnung des Festes und den Bedingungen der Teilnahme an 
der Weihe bekannt gemacht. Die Unreinen und Barbaren 
(Nichtgriechen) waren ausgeschlossen. „Unreine" = Mörder u.s. f. 

Der 2. Tag hiess : "AXabc ^uarm, sacris initiandi ad mare ! 
Die Einzuweihenden an das Meer! Daselbst wurden Reini- 
gungen vorgenommen. 

Der 3. imd 4. Tag hiessen: 9ua und 'kpeia von den ver- 
schiedenen Opfern, welche dargebracht zu werden pflegten. 
Am 4. Tage war gewöhnlich eine feierliche Prozession mit den 
mystischen Körben. Dieselben enthielten: Sesam, Salz, eine 
Schlange, Granatäpfel, Efeuzweige, Kuchen sowie noch andere 
Dinge, welche sich teils auf die Geschichte der Demeter (Ceres), 
teils auf die in den Mysterien vorgetragene Lehrsätze f kpoi 
Xöfoi) bezogen. 

Der 5. Tag: AainndbuDV fm^pa, war durch eine Prozession 
mit Fackeln berühmt. Die Thriasische Ebene an der Küsten- 
strecke des Eleusinischen Meerbusens war der Hauptort und 
der Brunnen Kallichoron bildete den Mittelpunkt dieser nächt- 
lichen Feier. (Cfr. Aristophanis „Ranarum** v. 340 sq.) Bei der 
Nacht sah man die Eingeweihten paarweise aus dem Tempel 
hervorgehen, während sie brennende Fackeln in den Händen 
trugen. Bei der Rückkehr zur heiligen Stätte beeilten sie sich, 
schwenkten sich schnell durcheinander, drehten dabei ihre 
Fackeln und übergaben sie einander oft, alles unter tiefstem 
Stillschweigen. (Cfr. Lactantii „Divinarum Institutionum" 1. 1, 
c. 21.) Diese nächtliche Feier wurde auch an den folgenden 
Tagen abgehalten. 

Der feierlichste Tag aber war der 6. oder der 20. des 



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- 85 - 

Boedromium, "laxxo^ (Bacchus) genannt von der Prozession, in 
welcher die Bildsäule des "laxxo^ von Athen nach Eleusis gebracht 
wurde. Der Zug bewegte sich langsam . unter dem Schalle 
einer rauschenden Musik, unter Absingung heiliger Lieder; er 
hielt auch von Zeit zu Zeit an, weil Opfer dargebracht und 
religiöse Tänze aufgeführt wurden. Viele Tausende nahmen 
an dem Zuge teil: Priester, Obrigkeiten und Weihekandidaten 
waren mit Myrten und Eppich bekränzt und trugen Fackeln, 
weil die Prozession erst mit beginnender Dunkelheit in Eleusis 
ankam. Hierauf folgte die Nachtfeier, bei welcher die Ein- 
weihung in die Mysterien vorgenommen wurde. Das Ganze 
schloss am 9. Tage mit einer TTXimoxör]i einer Wasserspende^ 
welche aus besonderen Gefässen dargebracht wurde, von denen 
das eine gegen Osten, das andere gegen Westen unter Aus- 
sprechung geheimnisvoller Worte ausgegossen zu werden 
pflegte. Hierzu kam noch die Mitteilung von Geheimen Lehren 
(Teilen aus der UroflFenbarung), die aus einer in zwei grossen 
Steinen (^Gesetztafeln Mosis") verschlossenen Schrift den Ein- 
geweihten vorgelesen wurden. (Cfr. Pausaniae T\^p\ry{r\a\^ ti^^ 
'EXXdbo^ 1. VIII, c. 14 und 15: „Beschreibung merkwürdiger 
Dinge in Griechenland".) Diese beiden Steine hiessen Petroma, 
und bei ihnen wurde der Eid abgelegt. Sie erinnern an die 
Bundeslade des Moses mit den beiden steinernen Gesetztafeln. 
Die Schrift mit den Geheimlehren soll eine mosaische gewesen 
sein. (Cfr. Dr. P. Willibald Freymüller „Orpheus und Moses", 
S. 26 flgd., Programm des Kgl. Gynmasiums zu Metten (Bayern) 
1857/58.) 

Das ganze Alte Testament mit seinen hl. Festen und 
Zeiten war ein Vorbild Jesu Christi und seiner barmherzigen 
Erlösungsgnaden. Auch das sich selbst überlassene Heidentum 
mit seinem Suchen und Verlangen nach Entstindigung und 
Heiligung, das sich vorzüglich bei den Eleusischen Mysterien 
offenbarte, zielte unbewusst auf den „unbekannten Gott" hin, 
weicher ihm von S. Paulus verkündigt wurde. (Cfr. I. Band, 
Seite 42 flgd.) Der Heiland sagte daher: y^Selig sind^ die nach 
Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie sollen gesättigt 
werden!^ Evgl. S. Matthaei c. 5, v. 6. Und die Erfüllung dieser 
Verheissung berichtet S. Johannes, Evgl. c 7, v. 37 — 42 : ^Am 



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— 8b — 

letzten und grossen Tage des Laubhüttenfestes, als die Pro- 
zession mit dem Wasser aus der Quelle Siloah in den Tempel 
einzog, und die Antiphon gesungen wurde: „Ihr werdet mit 
Freuden Wasser schöpfen aus den Quellen des Heilandes!", 
da stand Jesus da und rief, mit göttlichem Zurufe den Jubel 
des Volkes tibertönend und sich selbst als den wahren und 
echten Born der Gnaden bezeugend, von welchem das Aus- 
giessen des Wassers am Laubhtittenfeste ein Vorbild war: 
y^Wenn jemand dürstet^ so komme er su mir und trinke!^ 
„Wer an mich glaubt, aus dessen Inneren werden, wie die 
Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fliessen." Johannes 
fügt erklärend hinzu: Dies sagte er von dem Geiste^ welchen 
die Gläubigen empfangen sollten. 

Und er berichtet weiter : Aus dem Volke aber sagten sie, 
nachdem sie diese seine Worte gehört hatten : ^Dieser ist wahr- 
haft der Prophet 1^ Andere aber sagten: ^Er ist der Christus!^ 
Am Pfingstfeste kam der Geist des Herrn über seine Jünger, 
und die Apostelgeschichte c. 10, v. 44 sq. erzählt, dass der 
heidnische Hauptmann Cornelius mit seinem ganzen Hause die 
Fülle des hl. Geistes empfing. Jetzt hatte das jüdische Laub- 
hütten- und das griechische Eleusinienfest, innerlich so sehr 
verwandt, eine glorreiche Erfüllung gewonnen und die wahre 
Kirche spricht: „Da Tuis Fidelibus, in Te confidentibus Sacrum 
SeptenariumI" „Gib den Gläubigen, welche auf Dich vertrauen. 
Deine siebenfache Gnadengabe!" 



2. Anhang. 

Der Peldzug des Senacherib gegen Judäa. 

(Cfr. ILRegum c. 18, 13—19, 37; Isaiae c. 36 und 37; II. Paralip. 

c. 32 sowie Herodoti Historiarum 1. II, c. 141.) 

„Höre Israel! Mit fremden Völkern (Heiden) schliesse 
kein Bündnis!" Diese Mahnung wird im Gesetze Mosis öfters 
wiederholt: Exodi c. 23, 32, c. 34, 15; Deuteronomii c. 7, 2. 
„Gesegnet ist der Mann, welcher auf den Herrn vertraut und 
dessen Zuversicht der Herr ist!", so verkündigt der Prophet 
Jeremies seinen Zeitgenossen (c. 17, 7). Isaias warnt eindring- 



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- 87 - 

lieh vor politischen Verbindungen mit Assyrien und Ägypten. 
(Kap. 10, 30, 31.) Sie predigten aber tauben Ohren. Unter 
Begünstigung des Götzendienstes hatte eine falsche Staats- 
klugheit bei dem Volke Gottes Platz gegriffen. Uneingedenk, 
dass Jehovah Schutz und Trost zu jeder Zeit gewähren konnte, 
rief Jehu, König von Israel, den assyrischen König Salmanassar IL 
zur Hilfe gegen Damascus. Dies führte zu einer drückenden 
Abhängigkeit von Assur und bot in der Folgezeit eine Veran- 
lassung zur Vernichtung des Reiches und zur Wegführung 
seiner Bewohner nach Assyrien (722 a.). Nicht gewarnt durch 
das Unglück von Samariä, und dem Zuspruche des Isaias direkt 
entgegen, suchte Achaz, König zu Jerusalem, in seiner Bedrängnis 
Schutz und Hilfe bei dem Grosskönige von Ninive. Weil er 
so den Herrn verlassen und die Worte seines Propheten in den 
Wind geschlagen hatte, musste er lebenslänglich einen hohen 
Tribut entrichten. Nach seinem Tode kam dessen Sohn Ezechias 
a. 727 zur Regierung. Dieser hatte aus den Missgriffen seines 
Vaters die Erkenntnis gewonnen, dass es bitter imd böse sei, 
die Gesetze Gottes zu übertreten und fremden Göttern zu 
dienen. Aus diesem Grunde sah er die Abhängigkeit seines 
Reiches von Assyrien als eine Strafe Jehovahs an. Zuerst 
nun entrichtete er noch den auferlegten Tribut an Assyrien; 
aber mit männlicher Entschiedenheit und den Ermahnungen 
des Propheten Isaias folgend, suchte er den Götzendienst zu 
entfernen und in dem Volke wieder die Überzeugung zu be- 
festigen, dass nicht Vertrauen auf heidnische Hilfe, sondern 
nur der Schutz des wahren Gottes dem Reiche Juda eine ge- 
sicherte Zukunft bereiten könne. Als daher im Jahre 705 der 
Grosskönig Sargon gestorben war, entzog sich Ezechias dem 
bisherigen Vasallendienste und stellte die Tributleistimg ein. 
Ihm folgten die Nachbarstaaten am Mittelländischen Meere. In 
Voraussicht eines assyrischen Rachezuges liess Ezechias die 
Befestigungswerke von Jerusalem und den übrigen Städten 
seines Reiches ausbessern und verstärken. Kaum war Senacherib 
auf Sargon gefolgt, als auch rasch, und den meisten palästinen- 
sischen Regenten unvermutet, eine starke Heeresmacht von 
Assur gegen Westen vorrückte. Askalon am Meere war schnell 
bezwungen, und von hier aus gelangte Senacherib in wenigen 
Tagen vor die jüdische Stadt Lachis, um Hilfstruppen von 



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— 88 — 

Süden aus (Ägypten u. s. f.) fem zu halten. In dieser Not ent- 
schloss sich Ezechias, den Grosskönig Senacherib durch Tribut- 
leistung zu versöhnen. Dies gelang ihm auch. Aber die 
Hoffnung, dass Senacherib jetzt dauernd Frieden halten werde, 
erwies sich als hinfällig. Von Lachis entsandte er zwei Unter- 
feldherrn mit starker Mannschaft gegen Jerusalem, um diese 
Stadt zur Übergabe zu bewegen. iEr selbst blieb zurück, da 
ein Entsatzheer von Ägypten im Anzüge war. Mit Schmähung 
und Lästerung gegen Jehovah und den König Ezechias ver- 
langten seine Legaten die Öffnung der Tore und fügten schwere 
Drohungen bei. Ezechias aber, von.Isaias durch eine Offen- 
barung des Herrn ermutigt, verweigerte standhaft das Ansinnen 
der feindlichen Assyrier. Als nun die Hilfstruppen aus Ägypten 
unter Führung des mutigen Äthiopierfürsten Tirhaka in gefähr- 
liche Nähe heranrückten, liess Senacherib seine Soldaten von 
Jerusalem her abrufen, um sie mit der Streitmacht von Lachis 
zu vereinigen. Bei Elteke stiessen die feindlichen Heersäulen 
aufeinander, und die Assyrer gewannen die Obmacht. Bevor 
nun Senacherib den fliehenden Ägyptiem nachsetzte, entbot er 
wiederum einen Teil seiner Truppen gegen Jerusalem, mit der 
schriftlichen Aufforderung an Ezechias, sofort die Tore zu 
öffnen. Hierbei lästerte er den geheiligten Namen Jehovahs 
auf die schmählichste Weise. Ezechias trug dieses Schreiben 
in den Tempel Gottes: „Domine defende caussam Tuam!" 
„Erhebe Dich, Herr, in Deiner Kraft und zerschmettere die 
Feinde Deines Namens!** So ähnlich lautete sein Gebet. 

Der Prophet Isaias kam ihm entgegen und tröstete ihn mit 
der Verheissung Gottes, dass die heilige Stadt nicht in die 
Hände der Feinde geraten werde : der König der Assyrer werde 
mit Schmach abziehen und in seinem eignen Lande fallen; so 
hatte er ihn schon früher ermutigt. 

In der folgenden Nacht fuhr der Racheengel Jehovahs 
(Sanct Michael) vom Himmel hernieder und erschlug im Heere 
der Assyrer 185000 Mann samt ihren Führern und Haupt leuten. 

Als Senacherib am nächsten Morgen sich von seinem 
Lager erhob und den Hauptkern seiner Truppen als Leichen 
erblickte, überfiel ihn ein grosser Schrecken: eiligst flüchtete 
er mit den kläglichen Überresten seines Heeres nach Assyrien, 
um nie wieder Palästina zu bedrängen. Ob er sich wohl seiner 



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- «9 - 

Stolzen Überhebung und seiner Lästerungen gegen den Gott 
Israels erinnert hat?! 

Dieser Feldzug ist in das Jahr 701 vor Christus zu setzen. 
Für das Jahr 681 ist der Tod des Senacherib keilinschriftlich 
bezeugt. Er fiel durch die Hand seiner eigenen Söhne infolge 
einer Verschwörung, als er im Tempel seines Gottes anbeten 
wollte. So erfüllte sich das Wort, welches Isaias verkündigt 
hätte, in vollem Masse. Das 2. Buch der Chronik c. 32, 21—23 
berichtet: „Auf diese Weise errettete Jahve den Ezechias und 
die Einwohner von Jerusalem aus der Hand des Senacherib, 
des Königs von Assyrien, und schaffte ihm Ruhe ringsum. Und 
viele brachten Geschenke für Jahve und für Ezechias Gaben 
nach Jerusalem, und er kam in den Augen aller Völker zu 
hohem Ansehen". 

Die Berichterstattung der hl. Schrift, Ezechias sei in den 
Tempel gegangen, um den Schutz Gottes gegen Senacherib zu 
erflehen, infolgedessen eine grosse Sterblichkeit im Lager der 
Assyrer eintrat, findet in der Darstellung des griechischen Ge- 
schichtsschreibers Herodot eine Parallelbezeugung. Derselbe, 
zu Halicarnassus in Kleinasien ca. 484 a. Chr. geboren und in 
Thurii (Unteritalien) gegen 424 gestorben» verwendete den 
gfössten Teil seines Lebens darauf, die meisten der damals 
bekannten Länder zu besuchen, um die Ereignisse, welche sich 
bei den Fürsten und Völkern zugetragen hatten, zu erkunden 
und in seinem nach den neun Musen bezeichneten Geschichts- 
werke schriftlich niederzulegen. Im 2. Buche der „Historien'', 
Kap. 141, beschreibt er den Feldzug des Königs Senacherib 
gegen Ägypten (welcher zugleich gegen Judäa gerichtet war) 
auf folgende Weise: 

Mexa bk TOÖTOv ßaaiXeOcrai töv ipda loö 'HcpaicTiou tijj oövo|Lia 
ZeGiüv, TÖV dv aXoTiijcTi ^X^w Trapaxpn^yaiLievGV tOjv |uiaxi|LiüJV Aitv^tttiujv 
ib^ oub^v b€Ti(T6|ui€VOV aÖTÄv . . . Mexa bk in' Ait^tttov dXauveiv 
cTTpaiöv ixefav Zavaxdpißov ßamXte 'Apaßiuiv t€ Kai 'A(J(Jupiu)v • ouk 
luv bf| eGeXeiv xou^ )Liaxi|iou^ tujv Aitutttiijüv ßu)0€€iv xöv bk ip^a 
iq dTTOplTiv direiXTiiui^vov dcTeXGövxa e^ tö iii^Tapov 7rpö<; idj^aXiLia diro- 
bupecrGai, ola Kivbuveüei iraGeTv öXocpupöiiievov b' dpa iiiiv direXGeiv 
UTTVOV, Kai Ol böEei dv tiq 8i|/i xöv Geöv GapcTuveiv, ib^ oub^v ireicTeTai 
dxctpi dvTidCiüV TÖV 'Apaßiiwv (TTpatöv auTÖg ydp o\ Tr^iuipeiv Ti|Liujpou^- 
TOUTOKTi br\ \x\v iricTuvov TOicTi dv\JTrvioi(yi TrapoXaßövxa AItutttiiüv tou^ 



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— 90 — 

ßouXo|Lidvou^ o\ ?7r€(T0ai aiparonebevaaaBai iv TTnXoucTiiJu • . . . 'EvOaura 
dTriKO)Lidvoi(Ji dvavTioicTi dirix^O^vra^ vuktö^ |liö^ dpoupaiou^ Kaxct [xkv 
qpaYeiv xou^ cpaperpeiöva^ auxdiv, Kaxä bk xd xö£a, npöq he dairibujv 
xd 8xava% tScTxe xfi uaxepaiij qpeuYÖvxiuv (Tqpdiuv tv^ilivoiv öttXujv iteaeiv 
TToXXou^. Ktti vOv oöxo^ 6 ßacTiXeu^ ^crxriKe ^v xtu \pCb xoö 'Hq)ai(Txou 
Xi0ovo^, fx^v dm xfi^ X^ipö^ MÖv, X^t^v bid Ypa|Li|Lidxa)v xdbe: 
'EZ 'EME TIZ 'OPQN EYIEBHI 'EZTQ. 
Die Priester zu Memphis (vgl. 1. II, c. 2) erzählten dem 
Herodot folgendes: Nach diesem (sc. König Anysis, c. 137) 
sei ein Priester des Hephaistos namens Sethos König in Ägypten 
geworden. — Ein Pharao Sethos regierte aber 600 Jahre früher. 
Nach anderen Quellen führte Tirrhaka, der Äthioper, in der 
Zeit, um welche es hier sich handelt, (710 — 700 a. Chr.), die 
Herrschaft im Nillande. — Der nun habe die ägyptische Krieger- 
Kaste geringschätzig und mit Vernachlässigung behandelt, 
gleich als ob er derselben niemals bedürfen werde. Als jedoch 
bald hierauf Senacharib, König von Arabien und Assyrien einen 
grossen Feldzug gegen Ägypten unternahm, hätten die streit- 
baren Männer der Ägyptier sich geweigert, zur Verteidigung 
auszurücken. Der Priesterkönig nun, in Bedrängnis geraten, 
sei in das Heiligtum gegangen und habe vor dem Götterbilde 
geklagt, welch grosse Gefahr er zu leiden habe. Während er 
also jammerte, habe der Schlummer ihn überkommen, und in 
einem Traumgesichte schien es ihm, als ob der Gott an seiner 
Seite stehe und ihn ermutige : es werde ihm nichts Schlimmes 
begegnen, wenn er dem Heere der Araber entgegenziehe; 
denn er selbst wolle ihm Helfer senden. Voll Vertrauen auf 
diese Traumerscheinung habe er alsdann die Ägyptier, welche 
ihm Heeresfolge leisten wollten, an sich gezogen und bei Pelu- 
sium (am Nil gelegen) ein Lager aufgeschlagen. Als hierauf 
die Feinde dort hingekommen waren, seien in der Nacht grosse 
Scharen von Feldmäusen eingebrochen und hätten die Leder- 
und Riemenzeuge ihrer Bogen und Schilde gänzlich zernagt, 
so dass sie am folgenden Tage hilflos ohne Waffen die Flucht 
ergriffen und viele hierbei umkamen, (indem die Ägyptier sie 
verfolgten). Und noch jetzt steht ein steinernes Bild dieses 
Königs in dem Tempel des Hephaistos, welches eine Maus in 
der Hand trägt und durch eine Inschrift also spricht: y^Schaue 
auf mich und sei gottesfürchtig !^ Flavius Josephus „Antiqui- 



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— 91 — 

tatum ludaicarum'* 1. X, c. 1 n. 4, bemerkt zu diesem Berichte: 
„Von dem Könige Senacherib erzählt auch Herodot in dem 
II. Buche seiner Geschichte, er sei gegen den König von 
Ägypten, der ein Priester des Hephaistos war, gezogen und 
habe Pelusium belagert, die Belagerung aber aus folgender 
Ursache aufgehoben. Der Priester habe zu dem Gott der 
Ägyptier gefleht, und dieser habe auf seine Bitte eine Plage 
über die Araber geschickt. Hierbei irrt sich Herodot wieder, 
indem er ihn bald einen assyrischen, bald einen arabischen 
König nennt. Er fährt fort: eine Menge von Mäusen habe 
über Nacht die Bogen und alle Waffen der Assyrier zernagt, 
und da sie also keine Angriff swaffen mehr gehabt hätten, sei 
der König genötigt gewesen, sein Heer von Pelusium zurück- 
zuziehen. So erzählt Herodot. Berosus aber, welcher die 
chaldäische Geschichte geschrieben hat, sagt bei Erwähnung 
des Königs Senacherib, dass er über Assyrien geherrscht, und 
ganz Asien und Ägypten mit Krieg überzogen habe". — Die 
Katastrophe seines Heeres vor Jerusalem, die eilige Flucht nach 
Assyrien und seinen Tod im Tempel zu Ninive berichtet Fla- 
vius Josephus nach der Darstellung der hl. Schrift. — Prof. Dr. 
Abicht, Erklärer des Herodot, bezieht sich ebenfalls auf die 
hl. Schrift bei Isaias Kap. 36 und 37, um die Niederlage des 
Senacherib zu veranschaulichen. Nach seiner Ansicht bedeutet 
die Maus in der Hand des Priesterkönigs zu Ägypten (cfr. 1. II, 
c. 141 n. 10) das Sinnbild des Unterganges und der Vernichtung, 
und so habe Herodot irrtümlicher Weise die grosse Sterblich- 
keit im Lager der Assyrier auf eine Verheerung durch die 
Mäuse zurückgeführt. Es sei eben nicht ausgeschlossen, dass 
die Erzählung der ägyptischen Priester auf einem Missverständ- 
nisse beruhe, indem sie das sinnfällige Zeichen für den Begriff 
des Unterganges nicht richtig deuteten. 

Es erübrigt noch, auch einen assyrischen Bericht über 
diesen Feldzug mitzuteilen. Derselbe erzählt von Senacherib, 
dass bei seiner Thronbesteigung, das ganze Westland (Palästina 
nebst Judäa) sich im Aufruhr gegen Assyrien befunden habe. 
Rasch sei er von Ninive aus vorgedrungen, und Stadt um 
Stadt an der Meeresküste von Sidon bis nach Gaza hin sei 
im Sturme genommen worden. Eine unermessliche Beute habe 
er gewonnen. Ein zum Ersätze von Ägypten her anrückendes 



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— 9« — 

Heer sei von ihm bei Altaq (Elteke) besiegt worden. Hierauf 
richtete sich sein Zug gegen Jerusalem, das er ^wie emen 
Vogel im Käfig" eingeschlossen habe. Hiskia, König der Judäer, 
sei vor dem Glänze der Macht Senacheribs in Furcht geraten 
und habe sich erboten, einen grossen Tribut zu entrichten, 
welcher dem Grosskönige nach Ninive gebracht worden sei. 
Sehr ausführlich wird dieser Beutezug beschrieben. (Cfr. Prisma- 
Inschrift. Kol. 2, 14 bis Kol. 3, 65. Keilinschr. Bibliothek II, 
91 flgd.) — Hierbei ist es auffallend, dass, obgleich von den 
anderen Städten gesagt wird, sie wären mit Gewalt erstürmt 
worden und hätten neue, Assurfreundliche Regenten erhalten, 
nichts derart von Jerusalem erzählt wird: Senacherib zieht in 
seine Hauptstadt Ninive zurück und lässt einen Tribut von 
Judäa sich nachschicken. Hier muss man zwischen den Zeilen 
lesen, dass ein bedeutender Misserfolg bei Jerusalem sich für 
Senacherib ereignete, welchen der assyrische Hofbiograph der 
Nachwelt nicht überliefern durfte. 

Das sechsseitige Tonprisma, welches wir oben zitierten, 
hat noch folgende Nachricht: Die Könige von Babylon und 
Elam vereinigten ihre Kriegsmacht bei Halule am Tigris. 
Assur nun zog gegen sie aus, Senacherib erzählt: Löwengleich 
ergrimmte ich und liess mir die Rüstung anlegen. Eilig 
stieg ich im Zorne des Herzens auf meinen gewaltigen Streit- 
wagen, der meine Feinde dahinschmettert. Den mächtigen 
Bogen, welchen mir Assur gegeben, nahm ich in meine Hände, 
und den wuchtigen Speer ergriff ich, welcher das Leben 
durchschneidet. Wie ein Sturmwetter, wie ein Gott des Or- 
kanes brauste ich auf gegen Front imd Flanke und zer- 
schmetterte meine Hasser in gewaltigem Toben usf. Es 
folgt noch eine poetische Ausmalung des vermeintlichen Sieges. 

Die Wahrheit aber vernehmen wir aus der babylonischen 
Chronik. Sie berichtet: Im ersten Jahre des Mugezib-Marduk 
(des Königs von Babylon) am 28. Ab wurde Kudur, der König 
von Elam bei einem Aufstand ergriffen und ermordet. Dann 
bestieg Ummanmenanu den Thron von Elam. Dieser bot die 
Heere von Elam und Babylon auf und lieferte bei Halule den 
Assyriern eine Schlacht und warf Assyrien darnieder. 

Senacherib errang demgemäss keinen Sieg, sondern erlitt 
eine regelrechte Niederlage! 



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- 93 - 

Ähnlich erging es in dem Kriege zwischen China und 
Japan im Jahre 1894. Die verlorenen Schlachten wurden in 
chinesischen Tagesblättern als glänzende Siege ausposaunt. 

Die geschichtliche Treue und die nüchterne Wahrheits- 
liebe ist eben keine besondere Tugend bei den Orientalen. — 
Mit Recht sagte daher Leo XIII. in seiner Encyclica „Provi- 
dentissimus Deus" d. d. 18. November 1893 über das Studium 
der hl. Schrift: „Leider gibt es viele, welche mit der Auf- 
bietung eines grossen Scharfsinnes die Denkmale des Alter- 
tums, die Kultur der Völker und historische Zeugnisse ähn- 
licher Art erforschen und veröffentlichen, aber oft dabei das^ 
Ziel verfolgen^ in den Büchern der hl. Schrift Mängel und 
Fehler su entdecken, damit deren Ansehen nach jeder Richtung 
hin ins Wanken gebracht und in Zweifel gesogen werde. 
Manche gehen dabei ungerecht und unbillig zu Werke: den 
profanen Schriften und alten Dokumenten vertrauen sie in dem 
Masse, dass ihnen nicht einmal der Verdacht eines Irrtums 
aufsteigt; dagegen den Büchern der hl. Schrift schenken sie 
keinen solchen Glauben, wo auch nur ein vermeintlicher Schein 
des Irrtums vorliegt; untersucht wird die Sache gar nicht 
weiter, um der Wahrheit auf den Grund su kommen. Wir 
können es nicht genug beklagen, wie diese Anfeindung der 
hl. Schrift mit jedem Tage wächst und um sich greift. An 
erster Stelle werden die Gelehrten und Gebildeten in den 
Kampf hineingezogen; doch diese können sich immerhin noch 
leicht vor Schaden hüten. Aber besonders das der Wissen- 
schaft fern stehende Volk wird auf allerlei Weise von den 
Gegnern der hl. Schrift behelligt. In Büchern, kleineren Bro- 
schüren und Tagesblättern (Zeitungen) wird das verderbliche 
Gift beigebracht; öffentliche Vorträge und private Unter- 
redungen dienen derselben Sache." 

Indem nun Leo XIII. den katholischen Klerus zur Ver- 
teidigung aufruft, empfiehlt er das Studium der alten Sprachen 
und der Bibelkritik, damit wir befähigt seien, mit der Waffen- 
rüstung angetan „allen alles zu werden, stets bereit, jedem 
Rechenschaft zu stehen, welcher Rechenschaft fordert und 
Auskunft verlangt über die Hoffnung, die wir in uns tragen". 
(Cfr. I. Ep. S. Petri c. 3, 15; II. Petri c. 3, 18; Ep. S. Pauli ad 
Eph. c. 6, 10-18; I. ad Corinthios c. 9, 22.) 



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- 94 — 

3. Anhang. 

Divus Plato. 

j^Du bist nicht ferne vom Reiche Gottes/" 

Evgl. S. Marci XII., 34. 

Die Schriften Piatos und ihr Verhältnis su den Büchern des 

Alten Testamentes. 
„Der Charakter des Metallischen fehlt zwar keinem Silbererze, 
tritt aber nur im gediegenen Golde am deutlichsten hervor.** 

Clemens Vedanus. 
Monsignore Niccolö Marini, Mitglied der Cancellaria 
ApostoUca zu Rom, sagt in seiner Abhandlung: „La Bibbia 
e Llliade,** S. 17 flgd. (Roma 1900, Tipografia del Cav. 
V. Salviucci), welche er dem Papste Leo XIII. zu dessen 
Namenstage (19. August: S. Joachim) überreichte: Non posso 
tenermi dal citare il belhssimo ragionamento del dotto EUenista 
Toscano del seculo scorso: Angelo Ricci, il quäle nelle sue 
„Dissertazione Omeriche" e precisamente nella XXX. a pro- 
posito delle attinenze del graeco poeta, coUa S. Scrittura 
espone i criteri, che debbono servir di guida in simili casi. 
Dopo aver premesso e provato con moltissimi esempi che in 
genere i pagani „fabulis divinarum Literarum vera dicta per- 
vertere soUemne habuerunt", cosi continua: „Neque enim 
dubium esse posslt, Homerum, Hesiodum, aliosque illius aetatis, 
sive etiam aetatum antiquiarum sapientes viros, Musaeum, 
Orpheum, Linum et si qui fuerunt alii, ea quae Divinae Literae 
docent, plane non ignorasse, multoque magis non ignorasse 
Platonem, Aristotelem, ceterosque philosophos, qui recentioribus 
aetatibus floruerunt, ac proinde omne sapientiae Studium coe- 
lestis esse originis, et a Judaeis veluti e fontibus in exteras 
gentes ita manasse, ut scriptores ethnici e sacris litteris plu- 
rima accepisse videantur, quae corrupta erroribus fabulisque 
lacerata vulgaverint. Neque vero illud quod vulgo jactatum 
esse accepimus, verum esse omnes concedunt, Hebraeos ceteris 
nationibus Sanctos Libros de industria abscondisse, maximeque, 
ne in eorum manus venirent cavisse. Nam Flavius Josephus 
„Antiquitatum Judaicarum" prooemio luculentissime testatur, 
quum Ptolemaeorum Secundus rex (Ptolemaeus Philadephus) 
maxime disciplinis librisque coUigendis deditus magnopere 



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— 95 — 

contenderet, ut Hebraeorum legem reique publicae ex ea Con- 
stitutionen! in sermonem Graecum viri sapientes transferrent, 
Eleazarum, qui virtute non inferior esset quam quisquam 
Pontificum superiorum, hanc regi non invidisse utilitatem, 
reclamaturum omnino, nisi mos patrius exstitisset, res bonas 
et honestas celare neminem." — Ich kann mich nicht ent- 
halten, die sehr schöne Beweisführung mitzuteilen, welche 
Angelo JRiccif der gelehrte toskanische Hellenist aus dem 
vorigen Jahrhundert, in seinen Abhandlungen über Homer 
niedergelegt hat. Besonders in der dreissigsten derselben ver- 
breitet er sich über die Beziehungen jenes griechischen Dich- 
ters zur hl. Schrift und legt hierauf die Grundsätze dar, 
welche in ähnlichen Fällen als Richtschnur dienen können. 
Unter Anführung nämlich von sehr vielen Beispielen erbringt 
er den Beweis, dass die Heiden im allgemeinen die Gewohn- 
heit hatten, die wahren Aussprüche der hl. Schrift durch ihre 
Fabeln zu entstellen, und fährt dann weiter: 

^Es kann ja nicht zweifelhaft sein, dass dem Homer, 
Hesiod und den anderen Dichtern jener Zeit und sogar noch 
den weisen Männern früherer Tage, wie dem Musaeus, 
Orpheus, Linus und welche sonst noch genannt werden, die 
Lehren der hl. Schriften durchaus nicht unbekannt waren. 
Mit viel grösserem Rechte können wir von Plato, Aristoteles 
und den übrigen Philosophen jüngerer Zeit diese Behauptung 
aufstellen. Es ist nämlich festzuhalten, dass alles Streben nach 
Weisheit einen himmlischen Ursprung hat und von den Juden 
wie aus einer Quelle zu den übrigen (fremden) Nationen über- 
gegangen ist, in dem Masse, dass die heidnischen Schriftsteller 
manches aus den hl. Schriften entnommen zu haben scheinen, 
was sie mit Irrtümern und Fabeln verdorben herausgegeben 
haben. Auch können wir das nicht zugeben, was vielfach be- 
hauptet wird, es sei wahr, die Hebräer hätten mit Fleiss die 
hl. Schriften vor den anderen Völkern verborgen, und eifrigst 
sich bemüht, dieselben nicht in ihre Hände kommen zu lassen. 
Dafür legt Flavius Josephus in der Vorrede zu seinen 
„Jüdischen Altertümern" ein sehr glänzendes Zeugnis ab. Er 
berichtet nämlich, als Ptolemaeus IL (Philadelphus), König von 
Ägypten, welcher ein eifriger Sammler von Gesetzgebungen 
und Völkergeschichten war, ein grosses Verlangen trug, das 



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- 96 - 

jüdische Gesetz und die ihm angepasste Staatseinrichtung möge 
von weisen Männern in die griechische Sprache übertragen 
werden, so habe der jüdische Hohepriester Eleazar, der keinem 
seiner Vorgänger an Tugend nachstand, durchaus kein Be- 
denken getragen, dem Könige diesen Nutzen zu gestatten, 
während er sich doch entschieden geweigert haben würde^ 
wenn es irgendeine väterliche Sitte gewesen wäre, gute und 
nützliche Dinge verborgen zu halten." (Cfr. Flavii Josephi 
„Antiquitatum** prooemii n. 3; sowie 1. XII, c. 2, n. 1 — 15.) 
Über die grosse Bedeutung, welche der alexandrinischen 
„Septuaginta" zukommt, vergleiche I. Band dieses Buches, 
Seite 131 und folgende; desgleichen über Plato und Aristoteles 
S. 134 und 181 sowie in der Vorrede S. X flgd. dieses II. Bandes; 
besonders Augustinus „de civitate Dei** 1. VIII, c. 11. Derselbe 
beantwortet die Frage: „Unde Plato eam intelligentiam potuerit 
acquirere, qua scientiae Christianae propinquavit?" Woher 
hat Plato jene Weisheit sich erwerben können, durch welche 
er der christlichen Weisheit nahe gekommen ist? Er führt 
diese Kenntnis auf seine Reise nach Ägypten zurück, wo er 
mittels eines Dolmetschers sowohl den Inhalt der ägyptischen 
als auch der hebräischen Schriften kennen lernen konnte. Da- 
selbst blühte schon lange Zeit eine jüdische Kolonie, bevor 
griechische Weisen zur Bereicherung ihrer Gelehrsamkeit hin- 
kamen. (Vgl. in der Vorrede S.X flgd.) Zudem bestand nach dem 
Zeugnisse des Clemens Alexandrinus (im l. Buche seiner Stro- 
mata) schon viele Jahre früher, ehe die „Septuaginta" verfasst 
wurde, eine griechische Übersetzung der fünf Bücher Mosis im 
Pharaonenlande, so dass Plato sich unmittelbar daraus unter- 
richten konnte. 

Mit dieser allgemeinen Auffassung stimmt überein, was 
Justinus Martyr in seiner Cohortatio ad Gentiles sagt: „Die 
in der griechischen Wissenschaft enthaltene Wahrheitselemente 
sind aus den hl. Büchern der Juden entnommen: Orpheus, 
Homer, Solon, Pythagoras, Plato u. a. haben in Ägypten den 
Mosaismus kennen gelernt und sind dadurch wenigstens zu 
einer teilweisen Berichtigung ihrer Ansichten über die Gott- 
heit gelangt.*^ 

Wenn wir nun in nachfolgendem die Wahrnehmung 
machen, dass manche Aussprüche des grossen Plato einen- 



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— 97 — 

Anklang und Ähnlichkeit so:virie Übereinstimmung mit den 
Sentenzen der Bibel verraten, so können wir uns die Ursache 
für den inneren Zusammenhang dieses Verhältnisses wohl 
erklären. 

Die Werke des Plato fügen sich so zweckmässig an- 
einander, dass sie einen Tempel in grossartigem Stile bilden; 
welcher durch die Öffnung im Kuppelgewölbe sein Licht von 
oben erhält. 

Daher berichtet S. Justinus M. in seiner (a. 150) dem 
Kaiser Antoninus Pius und dem römischen Senate überreichten 
Schutzschrift für die Christen: ^Die platonischen Lehrsätze 
sind dem Christentum nicht fremdartig. Wenn wir Christen 
sagen^ dass von Gott alle Dinge geschaffen und geordnet 
seien, so scheinen wir einen Lehrsatz des Plato auszusprechen, 
und zwischen unserer Ansicht vom Wesen Gottes und der 
seinigen scheint bloss der Artikel einen Unterschied zu machen.** 
Oux ÖTi dXXÖTpia iOTx rd TTXdTuivo^ bibdTjiaTa toO XpicTToO' Justini 
M. Apologiae 1. 1, c. 2; p. 97, c. (Justini Opera, Haag 1742, folio.) 
Apol. I, c. 55 c: Tii» ydp X^tciv f||iä^, örrö 0€oO itdvra K€KO|if^aeoi 
TTXdTiüvoq böHoiLiev X^t^v bÖTM«* Cohortationis ad Graecos c. 23, 
a.: ToOto. QU öokci Sv.Kal rauröv elvai, xijj fipGptji iiövtp bidXXarov; 
'0 ixkv Tdp Miwaf^^, 6 S)v fcpn* '0 bk TTXdTuiv, rd öv. Dialogi 
cum Tryphone c. 105, d.: "Qq cpriai TTXdTwv, Kai Ifih itcieo^ai 

aUTlü K. T. X. I 

Es ist nicht schwer zu beweisen, dass S. Justinus, ähnlich 
wie später S.Augustinus, zu dieser Denkweise über das Verhältnis 
Piatos zum Christentum gelangte. War er doch früher ein 
begeisterter Verehrer der Akademie gewesen, ehe er im Evan- 
gelium diejenige Befriedigung gewann, welche er dort vergebens 
gesucht hatte. Die philosophischen Schulen blühten damals 
noch alle. Da nun Justinus, (wie später Augustinus) selbst 
der platonischen Schule angehörte, so kannte er aus Erfahrung 
die Grundsätze, die Gepflogenheiten und Überlieferungen (Tra- 
ditionen) der Philosophen seiner Zeit. Es ist daher sein Zeugnis 
um so höher anzuschlagen, je näher er der ganzen Sache 
gestanden hat. 

Das Evangelium Gottes steht ihm natürlich ohne Grenzen 
höher als die platonische Philosophie; aber mit Recht sah er 
diese als eine Vorstufe füi' jenes an: launiv iiövriv eöpiaKOv 

Kr 011, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 7 



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- 9« - 

cpiXoaoqpiciv &(Tq)aXf) t€ Ka\ au)i<popov toi^ b6T^a(Tl toO XpicTToO* Dia- 
logi cum Tryphone c. 193 d. 

Die auffallende Ähnlichkeit zwischen beiden suchten die 
Kirchenväter (vgl. oben Seite 96) hauptsächlich aus der Bekannt- 
schaft zu erklären, welche Plato auf seinen Reisen teils mit 
jüdischen Gelehrten, teils mit den hl. Schriften der Israeliten 
gemacht hatte. So S. Justinus: 'Eitel itöecv äWoOev ^€^aOT^KUi^ 
6 TTXdTuiv, €l ^f| TOi^ TÄv TtpoqpnTÄv taropiai^; Cohortationis ad 
Graecos c. 30 c, ; cfr. etiam c. 29 b, c. 22 d ; Apologiae 1. 1, c. 70 a, 
c. 78 a K.T.X. 

Der Platoniker Numenius hatte Piaton geradezu einen 
attizisierenden Moses genannt: T( f&p iCTxv 6 TTXdTuiv f\ Miuafj? 
diTiKttiüv ; Qementis Alexandrini Stromatum 1. 1, c. 251 b. (Cle- 
mentis Alex, Opera. Lugduni Batavorum 1616 folio.) 

Es wurde zur herrschenden Ansicht in der christlichen 
Kirche, dass Plato und die heidnischen Schriftsteller überhaupt 
sehr vieles aus den Büchern Mosis und der Propheten entlehnt 
hätten. So schreibt TertuUian (160 — 240): „Quis poetarum, quis 
sophistarum, qui non de prophetarum fönte potaverit? Inde 
igitur philosophi sitim ingenii sui rigaverunt. Nam quum quae- 
dam de nostris habeant, nos comparant illis." Tertulliani libri 
Apologetici c. 47; Migne Patrum Latinorum Tom. I, n. 515, 519. 
Wer von ihren Dichtem, wer von ihren Rednern hat nicht aus 
der Quelle unserer Propheten getrunken? Dort haben ihre 
Philosophen den Durst ihres Geistes gestillt. Und weil sie 
einiges von unseren Schätzen besitzen, darum vergleicht man 
sie mit uns, 

KX^HiavT€^ TttUTa Ik toO vöjiou Ka\ tOjv itpocpTTnliv (sie entnahmen 
dies aus dem Gesetze Mosis und der Propheten) sagt Theo- 
phylus von Pindar, Sophocles, Euripides, Plato und anderen, 
nachdem er einzelne schöne Stellen aus ihnen angeführt hat. 
(Cfr. Theophili Antiochini ad Autolicum 1. II, c, 378 d, Eusebii 
„Praeparationis Evangelicae** 1. X, c, 1.) 

Daher nennt Clemens Alexandrinus den Plato geradezu: 
Tdv ii Tßpaiiuv (piXö<TO(pov = den Philosophen aus den Hebräern. 
(Paedagogi 1. III, p. 200.) 

Wenn wir uns nun die Schriften Piatos genauer ansehen, 
so glauben wir den Grund bald zu entdecken, warum die 
Christen ihm solche Anerkennung zuteil werden Hessen. Wir 



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— 99 — 

finden nämlich manche Aussprüche in demselben, welche uns 
deutlich an die hl. Schrift erinnern, und vielfach sogar in den 
einzelnen Worten und Redewendungen eine überraschende 
Ähnlichkeit mit diesen haben. 

Eine Menge Belegstellen hierfür sind bei Clemens Alexan- 
drinus (editio Danielis Heinsii) „Stromatoum" 1. II, c. 260, 270; 
1. IV, c. 356 ; 1. V, c. 447 k. t. X. angegeben. 

Die Idee, welche dem geheimnisvollen Namen: nirr. in 
dem Prädikate des allein y^Setenden"' zugrunde liegt, (cf. 1. Exodi 
c. III, 14), wird auch von Plato auf das höchste Wesen über- 
tragen: X^TOficv Toip» ^<i Iv, fori Kai forai, wir sagen: „es war", 
„es ist" und „es wird sein" = die Zeit; t^ bfc tö fari jiövov, Kaxa 
Töv ä\r\Bf\ \6yov iipoaf\Ke\. Dem ewigen Wesen = Gott, kommt 
nach der richtigen Auffassung nur das „Ist" = Gegenwart zu. Cfr. 
Timaei c. 37 c, c. 27 d.: xi tö öv iikv dcl, T^veaiv bk ouk fxov; was 
ist das ewige Sein, welches keinen Ursprung hat? Cfr. Eusebii 
„Praeparationis Evangelicae" 1. XI, c. 9 und die interessante 
Stelle aus der Schrift des Plutarch über das et am Tempel zu 
Delphi {^Du bist!''), ibid. l. XI, c. 11. 

Gott ist über der Zeit. 

Er ist Anfang, Mitte und Ende von allem: die absolute 
Gegenwart. Ihm kommt bloss das „Ist" zu. „Es war" und 
„es wird sein" sind in das Dasein getretene ZeitbegriflFe, 
welche wir, uns selbst unbewusst, unrichtig auf das unver- 
gängliche, ewige „Sein" übertragen. (Cfr. „De Legibus" 1. IV, 
c. 715 sq.) Es ist nicht eine endliche Zeit oder unendliche 
Zeit abgelaufen, bevor Gott daran dachte, eine Welt zu bilden ; 
sondern das Bewusstsein und der Gedanke, dieses zu tun, ist 
ewig wie er selbst; und wieder hat nicht nach bestimmter oder un- 
bestimmter Zeit Gott den Entschluss gefasst, dieses Vermögen 
(Willen) in Tat umzusetzen sondern diese Gedanken zu ver- 
wirklichen, hat er von da attj dass er Gott ist, und folglich von 
Ewigkeit her hat er das Weltall gedacht, gewollt und be- 
schlossen, es in der von ihm bestimmten Zeit zu wirken. 
Daher hat die Welt einen Anfang: sie besteht nicht aus sich 
selbst, sondern ihr Dasein ist ein von Gott bedingtes. Gott 
ist demnach^ wie Xenophanes lehrte, Anfang von allem und 
darum ewig. (Cfr. Aristotelis „Rhetorica" n. 1399, b. 6.) 

Hiermit ist zu vergleichen der Ausspruch des Welt- 



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— 100 — 



erlösers auf die Frage der Juden: „Wer bist Du?" ^Ich hin 
der Anfang ^"^^ „der ich auch zu euch rede". (Joh. VIII., 25.) 
Glaubet, dass derselbige, welcher sich in Knechtsgestalt herab- 
gelassen hat und zu euch redet, das schöpferische Wort und 
aller Dinge Uranfang ist: der Erlöser (vgl. I, 1). Israel 
sprach zum Propheten Jeremias: „Von ferne (in früherer Zeit) 
ist mir der Herr erschienen." Darauf gab Jeremias zur Ant- 
wort: „Mit ewiger Liehe habe ich dich geliebt, um dessent- 
willen dich herangezogen in Erbarmung" spricht der Herr. 
(Jeriemiae c. 31, 3.) Nicht bloss in alten Tagen, sondern von 
Ewigkeit her: vor aller Zeit, und jeder geschichtlichen Zeit 
gegenwärtig ist die Liebe, welche Gott seinem Volke zu- 
wendet. S. Paulus schreibt an die Ephesier (I, 4 u, 9): „Gott 
hat uns auserwählt vor Grundlegung der Welt, dass er 
uns kundgebe das Geheimnis seines Willens: die Erlösimg 
in Christo Jesu durch sein Blut." Gott hat von Ewigkeit her 
„die Grundlegung der Welt" nicht gedacht und vollzogen, 
ohne in Voraussehung der Sünde auch die Erlösung in Christus 
mit einzubefassen. 

Ähnlich sagt er ibidem c. 111,8—12: „Gott hat mir die 
Gnade gegeben, alle zu erleuchten, welches sei das Walten 
des Geheimnisses, welches in Gott von Ewigkeit her ver- 
borgen war, um nach der Ewigkeiten Vorherbestimmung es 
zu erfüllen in Christo Jesu." 

Ebenso im II. Briefe an Timotheus c. 1, v. 9—11: „Gott 
hat uns errettet und berufen, nicht infolge unserer Werke, 
sondern gemäss seiner Vorherbestimmung und der Gnade, 
welche vor ewigen Zeiten in Jesus Christus uns gegeben 
worden ist, die aber jetzt durch die Erscheinung unseres Hei- 
landes offenbar geworden ist." — Wie tief hat Plato das 
Wesen Gottes aufgefasst, wenn wir diese erhabenen Gedanken 
des Apostels erwägen! Bezeichnend und recht treffend kleidet 
daher Schürmann das Gesamtergebnis seiner Untersuchung 
über den platonischen Gottesbegriff in die Worte: „Deum 
mentem (voOv) esse perfectissimam, omnium rerum auctorem 
a nemine ortum, sui ipsius causam." Gott ist der vollkommenste 
Geist (die höchste Vernunft), aller Dinge Urheber, von nie- 
mand entstanden und Ursache seiner selbst. — So heisst es 
in dem Dialoge „Timaeus" (Zeitgenosse des Plato und Philo- 



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— lOt — 

soph aus Locri) von Gott (c. 27): AriMioupTÖ^ toO KÖö'^ou, 6 iroiri- 
Tf|^ KQi Ttarfip ToOb€ Toö TTavTÖ^, 6 ^m n&a\ 9€Ö^, Tf{q (pucTeu)^ KTiani^, 
Toö iravTÖ^ Äpx^j irdviiüv atriov, voO^ irdvTiuv ßaaiXeü^, voOg outo- 

KpdTUip TTdVTa K0(7)iUJV, bld TTdVTUIV llbv, TOO TTaVTÖ^ KußcpvifJTii^, 6 

TTpurro^ G€Ö^, \x4.j\aToq baifiujv, 6 ixifiaTO^ Geiüv, xd Bv del T^vecTiv 
b' ouK ?xov. 

Bildner der Welt, der Schöpfer und Vater dieses Alls, 
der Gott, welcher über allen ist. Hervorbringer der Natur, 
Anfang des Ganzen, die Ursache aller Dinge, die Vernunft 
als Königin über alles, die Vernunft, welche in sich die Herr- 
schaft über alles hat, alles durchdringt, der oberste Gott, das 
höchste Wesen, das von Ewigkeit war und keinen Ursprung 
hat. — Am meisten scheinen die platonischen Ausdrücke: 
König, Herrscher, Regierer der Welt, das höchste Wesen, dem 
Ewigkeit zukommt, die Ursache aller Dinge usf. mit den 
christlichen Bezeichnungen Gottes übereinzustimmen. Die Be- 
nennung ^Schöpfer", welche Plato von Gott mitunter gebraucht: 
iTOii]Tf|^, briMioupriö^, Timaei 28. c; 41. a, k. x. X., ist wie S. Jus- 
tinus „Cohortationis ad Graecos" 1. 23, c. d. schon bemerkt, von 
dem christlichen Sinne durchaus verschieden; denn: Weltbildner 
ist nicht gleich Weltschöpfer. Der ^Weltbildner" setzt einen 
vorhandenen Stoff voraus, der „Weltschöpfer" dagegen bringt 
dieselbe aus Nichts hervor. Sprachlich ist das Wort brmioupriö^ 
(Weltbildner) mit dem Ausdrucke yeveaiovp-xd^ (Grund des Ur- 
sprunges) im Buche der Weisheit c, 13,5 zu vergleichen. 

Eusebius Pamphili in seiner „Praeparatio Evangelica" 
L 11, c. 29 weist darauf hin^ dass Plato im Timaeus zur Be- 
gründung der Weltursache sich fast des nämlichen Vemunft- 
schlusses bedient, wie S. Paulus im Hebräerbriefe c. III, v, 4: 
TTd^ fäp oIko^ KaxacJKeudCcxai öirö xivo^' 6 bi irdvxa Kaxa(7K€udaa^ : 

Vulgata: ^Omnis [namque domus fabricatur ab aliquo: 
qui autem omnia creavit, Dens est." 

Denn jegliches Haus wird von irgend jemand errichtet; 
der aber, welcher alles erschaffen hat, ist Gott. 

Plato sagt nun „Timaei" c. 28 c: „TiJ» V aö T€VO|Lidvuj <pd^€v 
utt' alxiou xivö^ dvdipcTiv eTvai xev^crGai. xöv jitv ouv TTOiiixf|v Kai 
iraxepa xoObc xoO iravxöq €i&p€iv x€ ?pTOV (sc. Seöv)." 

Quidquid autem gignitur, ab aliqua causa necessario gigni 



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— loa — 

asseruimus. Factorem quidem et patrem hujus mundi invenire 
opus est (sc. Deum). 

Alles, was Dasein hat, sagen wir, hat notwendig einen 
Grund zu seiner Existenz. Den Schöpfer und Vater dieses 
Alls (nämlich Gott) zu finden, ist eine Arbeit. Der frühere 
Akademiker S. Augustinus bemerkt in seinem Buche „de civi- 
tate De " 1. XIII., c. 12: „In Timaeo autem Plato, quem libruni 
de mundi constitutione scripsit, Deum dicit in illo opere terram 
primo ignemque junxisse. Manifestum est autem, quod igni 
tribuat coeli locum ; habet igitur haec sententia quandam illius 
similitudinem, qua dictum est: In principio fecit Deus coelura 
et terram. Deinde illa duo media, quibus interpositis sibimet 
haec extrema copularentur, aquam dicit et aörem: unde puta- 
tur sie intellexisse quod scriptum est: Spiritus Dei superfere- 
batur super aquam. Parum quippe attendens, quo more soleat 
illa scriptura appellare Spiritum Dei: quoniam etiam a^r Spiri- 
tus dicitur, quattuor opinatus elementa loco illo commemorata 
videri potest . . . Quod me plurimum adducit, ut paene assentiar, 
Platonem librorum illorum (Moysis) expertem non fuisse." 
In dem Buche, welches Plato über die Einrichtung der Welt 
schrieb, im „Timaeus" c. 32 c, sagt er^ Gott habe bei jenem 
Werke zuerst die Elemente der Erde und des Feuers mit- 
einander verbunden. Es ist nun offenbar, dass er dem Feuer 
die Stelle des Himmels zuteilt. Darum hat jener Ausspruch 
eine gewisse Ähnlichkeit mit der Erzählung der hl. Schrift, in 
welcher es heisst: „Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde." 
(Genesis I, 1.) Hierauf bezeichnet er jene beiden mittleren 
Elemente, durch deren Zwischenstellung diese äussersten (näm- 
lich: Erde und Feuer) miteinander verbunden würden, als 
Wasser und Luft. Daher wird angenommen, Plato habe also 
die Worte der hl. Schrift verstanden: „Der Geist Gottes 
schwebte über den Wassern." Er nahm freilich zu wenig 
Rücksicht darauf, in welchem Sinne die hl. Schrift den Aus- 
druck „Geist Gottes" (Hauch des Herrn) anzuwenden pflegt 
(er begriff nicht, dass unter dieser Benennung „der hl. Geist**, 
die dritte Person in der Gottheit, zu verstehen ist). Sprach- 
lich ist es allerdings sicher, dass mit dem Worte : aör = Luft 
auch: Spiritus = Hauch bezeichnet werden kann („Luft-Hauch"). 
Dem Anscheine nach hat Plato an der genannten Stelle eine 



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Erwähnung der vier Elemente gefunden. Nachdem Augustinus 
noch darauf hingedeutet hat, dass Plato den Namen Gottes = ^der 
Seiende" (Exodi III, 14) mit „das Seiende" wiedergibt, kommt 
er zu folgendem Schluss: Diese Wahrnehmung bewegt mich 
am meisten, denen förmlich beizustimmen, welche behaupten, 
Plato habe die hl. Schriften gekannt. 

Die Welt, von Gott erschaffen, ist ein Gegenstand seines 
Wohlgefallens: 6 T€vvfiaa^ irarfip, i^ix<s^ t€ kqI cöcppavOei^ „Timaei" 
c. 37 c. ; als Gott die Welt hervorgebracht hatte, erfreute er 
sich daran von Herzen. Moses berichtet: „Vidit Deus cuncta 
quae fecerat, et erant valde bona." Genesis c. 1, v. 31. Gott 
sah alles, was er geschaffen hatte, und es war sehr gut. Ferner: 
„Diligis omnia quae (creata) sunt, Domine!" L. Sapientiae c. 11, 
V. 25. Du liebest alles, was Dasein hat (was Du erschaffen hast)! 

Ist nun die Welt ein Gebilde Gottes, des höchsten Wesens, 
so muss derselben auch (im Paradiese) eine vollendete Schönheit 
und Ordnung zukommen. Sie ist nämlich das gelungene Abbild 
des höchsten Urbildes in Gott: *0 K6a^o^ cIkuiv hsix voutitgO toO 
OeoO, fidTMTro^ Kai äpiOro^; KdXXi<rr6^ T€ koI TeXeiiiTaTO^ T^TOvev. 
Timaei c. 92 c; cfr. Philebi c. 28 c. d. k. t. X. Mundus est imago 
Dei intelligibilis, maximus, optimus, pulcherrimus, perfectissimus. 
Das Weltall ist ein Bild des intellektuellen Gottes, sehr gross 
und gut, sehr schön und vollendet. 

Schon Thaies von Milet stellte den Satz auf: KdXXiaTO^ 6 
K6a^o^• TToinjAOt t^p OcoO* Diogenis La^rtii I, 35. Pulcherrimus 
est mundus, quum Dei opus sit. Die Welt ist sehr schön, denn 
sie ist ein Werk Gottes. Damit ist zu vergleichen, was Salomon 
von der Weisheit Gottes sagt: ^'H aocpla AitauTaaiia t^P i<yTi 
qxAiTÖ^ dibiou Kai dcTöirrpov ÄKriXlbiuTöv tt)^ toö öeoO dvepxeia^ Kai 
elKibv Tfl^ dTaeöTTiTO^ auroO* Vulgata: ^Candor est enim lucis 
aetemae et speculum sine macula Dei maiestatis et imago 
bonitatis illius. L. Sapientiae c. VII, 26. Die Weisheit nämlich 
ist ein Abglanz des ewigen Lichtes, der ungetrübte Spiegel 
der Majestät Gottes und ein Bild seiner Güte. 

Die kirchliche Liturgie wendet diesen Satz auf die „Virgo 
Immaculata" (die weiseste Jungfrau), den ^Sedes Sapientiae" 
(Sitz der Weisheit) und „Speculutn lustitiae" (Spiegel der 
Gerechtigkeit) an, welche eine höhere Schöpfung als die sicht- 
bare Welt darstellt. 



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— t04 - 

In höchster Weise führt dies S. Paulus im Hebräerbriefe 
c. I, V. 3 von Jesus Christus selbst aus („gleichwesentlich mit 
dem Vater"): ""O^ uiv dirauiraana Tf\q b6if\q xai xapaKxfip xng utto- 
<nd(7€U)^ auToO, q>^pu)V xd irdvxa r^i ^iwia-n xnq buvd^€U)^ aöxoö. 
Vulgata: „Qui quum sit splendor gloriae et figura substantiae 
eins, portans omnia verbo virtutis suae". Jesus Christus ist 
der Abglanz seiner (des Vaters) Herrlichkeit und das Ebenbild 
seines Wesens und trägt alles durch das Wort seiner Macht. 

Demgemäss lehrt das Symbolum Nicaenum: ^esus Christus 
est „lumen de lumine", Deus verus de Deo vero" . . . Jesus 
Christus ist „Licht vom Lichte", wahrer Gott vom wahren Gott, 
einer Wesenheit mit dem Vater. 

Die Vorsehung Gottes erhält und regiert die Welt: Kaxd 
XÖTOV xöv elKÖxa bei X^ytiv, xövbe xöv KÖa^ov x^ dXriöeiqt bid xf|v 
xoO Gcoö T€v^aGai irpövoiav Secundum rationem probabilem 
dicendum est hunc mundum re vera divin a Providentia esse 
constitutiun. Vernünftigerweise muss man sagen, dass diese 
Welt durch die Vorsehung Gottes geleitet wird. (Timaei c. 30 b.) 
Libri Sapientiae Salomonis c. XII, v. 13: Oöxe ydp öeö^ dem TrXfiv 
aoO, (|» )ki\€i nepi ndvxtüV Vulgata: „Non est alius Deus quam 
Tu, cui cura est de omnibus". Nicht ist ein anderer Gott als 
Du, welcher Sorge trägt für alles. 

'Q^ xip xoO navxö^ dirijLieXoufidvi}! npd^ x^v aurrepiav xai dpexfiv 
xoO 8Xou ndvx' iaix auvxexaxM^va, &v xai xö M^po^ €ig buva|Liiv ?KacTxov 
xö Tipoof^KOv nd(TX€i Kai Troiei* ^De Legibus" 1. Xc. 9Ö3b. Deus, 
qui toti providet, ad salutem et virtutem totius omnia ordinat, 
cuius pars quaeque pro viribus, quod sibi convenit, patitur et 
agit. Gott, welcher für das All sorgt, hat alles zum Wohle 
und Heüe des Ganzen geordnet, von dem auch jeder Teil nach 
Kräften das seine leidet und tut. 

Die Seele des Menschen ist unsterblich: TTdaa ipuxn 
dBdvaxog' xö tdp dei kivtixöv dedvaxov. „Phaedonis" p. 244. Omnis 
anima immortalis est ; quod enim semper movetur, sempitemum 
est. Jede Seele ist imsterblich ; denn waß sich immer bewegt, 
kann nie aufhören. 

Wenn aber die Seele unsterblich ist, dann muss die Sorge 
für das Heil der Seele eine sehr wichtige Angelegenheit für 
den Menschen sein: ETirep f| i|iux^ dOdvaxö^ doxi, dniiieXeia^ bf| 
beixai, oöx untp xoO xpövou xouxou ^6vov, dv (p KaXöö^€v xö Znv, 



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— 105 - 

4XX' öntp ToO TravTÖ^ kqi 6 Kivbuvog vöv bi\ xal böSeiev Sv jnaXiaxa 
beivö^ dvai, e! xi^ auxf^g d^€X^|a€lev. „Phaedri'* c. 107 c. k.x. X.; 
cfr. Apologiae Socratis c. 30 b. Quum vero anima immortalis 
sity cura opus est uti non solum in hoc vitae tempore verum 
etiam in omni vita, et periculum maximum esse videtur, si quis 
animae suae curam non habeat (vel negligat). Da nun die 
Seele unsterblich ist, so muss man dafür Sorge tragen, und 
nicht bloss mit Bezug auf das gegenwärtige Leben, sondern 
auch in Rücksicht auf das ganze (zukünftige) Dasein; so dass 
es scheint, die grOsste Gefahr bestehe darin, wenn jemand das 
Seelenheil vernachlässigen wollte i). Die Beweise für die Un- 
sterblichkeit der Seele gibt Plato in seinem herrlichen „Phaedon" 
c. 15—23; c. 25—34; c. 48-56. 

Die Thesis lautet: 'Q^ laxi xe fi i|iuxn dTroeavövxo? xoO dv- 
6pu)iT0u Kai xiva biivamv ?x€i Kai cppövricTiv. Phaedonis c. 14 n. 70 B. 
Demonstrandum est: Superesse animam post mortem hominis 
atque vim aliquam intelligentiamque habere. Es ist zu beweisen, 
dass die Seele nach dem Tode des Menschen mit vollem Bewusst- 
sein fortlebt, d. h. eine gewisse Kraft zu leben und zu denken 
besitzt *)r. 

Der erste Beweis basiert auf dem Naturgesetz, gemäss 
welchem das Entgegengesetzte auseinander entsteht. Diese 
Anschauung hatte namentlich seit Heraklit aus Ephesus (ca. 500 
a. Chr.) in der Philosophie eine Bedeutung gewonnen. Durch 
diese Annahme gelangte man freilich nur zu dem Resultate, 
dass die Seele nach dem Tode des Leibes nicht aufhöre, eine 
Existenz zu haben; über die Art jedoch des Weiterlebens der 
Seele ist auf diesem Wege nichts zu erfahren. Dieselbe könnte 
sich nach dem Tode sogar in dem Zustande völliger Bewusst- 
losigkeit befinden. Um diese Lücke auszufüllen, wird der 
Satz aus der Platonischen Ideenlehre hinzugenommen, dass 
alles Wissen auf Wiedererinnerung beruhe. Daraus lässt sich 

*) Evgl. S. Matthaei c. i6, 26: T( x^p ilipeXetxai dv6pujTro(;, käv töv 
Köajiov öXov K€pö/|ai3, xfiv hi ipuxi^iv aöxoO Zx\\k\\^^f^\ Quid enim prodest homini, 
si Universum mundum lucretur, animae autem suae detrimentum patiatur? 
Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner 
Seele aber Schaden leidet? 

*) Der König Chosroes (Zeitgenosse des Justinian) (527 — 565) liess 
den Phaedon ins Persische übersetzen. 



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— I06 — 

auf eine bewusste, selbständige Existenz der Seele vor ihrer 
Verbindung mit dem Leibe schliessen. 

Diese beiden Elemente ergeben nun folgenden Schluss: 
Aus dem allgemeinen Naturgesetze des Werdens geht hervor, 
dass der Zustand der Seele nach dem leiblichen Leben dem- 
jenigen gleichartig ist, welcher dem irdischen Leben voraus- 
gegangen ist. Gemäss der Ideenlehre ist nun der Zustand der 
Seele vor ihrer Verbindung mit dem Leibe ein Leben in der 
Anschauung der Ideen: also ergibt sich das gleiche auch für 
den Zustand der Seele nach dem Tode. — Cfr. Phaedonis 
c. 25—34. Diese Beweisführung ist nach der christlichen 
Psychologie wesentlich zu ergänzen. Von einer Existenz der 
Seele vor dem Leibe kann keine Rede sein, d. h. eine Prä- 
existenz muss ausgeschlossen werden. Dieselbe entsteht viel- 
mehr durch einen Schöpfungsakt Gottes, wann der Leib, als 
als solcher, entsteht. 

Die Seele ist Form, d. h. verwirklichendes Prinzip; der 
Leib ist Materie, d. h. passive Potenz des Menschen. Als 
Form ist die Seele gleich mit ihrem Dasein wirksam; denn 
aktiv zu sein, ist charakteristisch für die Form. Darum wirkt 
die Seele schon in ihrem ursprünglichen Sein die Gestaltung 
des Leibes. Hieraus folgt, dass sie nicht gewesen sein kann, 
solange keine Bildung des Leibes, mit dem sie den einen be- 
stimmten Menschen ausmachen soll, stattgefunden hat. Darum 
irrt Plato, indem er den Satz aufstellt, die Seele habe schon 
vor ihrer Verbindung mit dem Leibe existiert. 

Die Seele hat, als entstandene, den Grund ihres Seins 
nicht in sich selbst; sie ist daher wie für ihre Existenz, so 
auch für ihre Fortdauer auf ein anderes, höheres Wesen, näm- 
lich Gott, angewiesen. Allein^ so wie die Seele gesetzt ist, 
schliesst sie die Potena (Fähigkeit) sum Nichtsein aus ; und da 
sie nach dem Gesetztsein noch fortexistiert, muss geschlossen 
werden, dass es der Wille des Schöpfers ist, sie solle für alle 
Zukunft fortbestehen, d. h. unsterblich sein. Somit bereitet der 
leibliche Tod der gewollten beständigen Fortdauer der Seele 
kein Hindernis. Denn obgleich die Seele auch die Form des 
Leibes ist, so ist sie doch eine solche Form, welche auch Selb- 
ständigkeit (Selbstbestimmung) hat, und in der sie des Leibes 
nicht bedarf. In dieser Selbständigkeit aber ist sie befähigt. 



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— 107 — 

in sich fortzubestehen, auch wenn feie vom Leibe getrennt ist. — 
Allerdings befindet sich die Seele dann in einem unvollkommenen 
Zustande, wenn sie ohne Leib fort existiert; aber jener Zustand 
ist doch kein unmöglichen 

Hierzu kommt noch, dass die Seele des Menschen eine 
mit Verstand, Vernunft und freiem Willen (Selbstbestimmung) 
begabte individuelle geistige Substanz ist (cfr. Genesis c. I, v. 26), 
und dass infolge der verkehrten Anwendung dieser Selbst- 
bestimmung unserer Stammeltern (durch ein Vergehen) die 
Trennung von Leib und Seele (der Tod) als Strafe in die 
Welt gekommen ist, so dass alle Menschen sterben müssen, 
wie die göttliche Offenbarung uns lehrt. (Cfr. Genesis c. II, 
V. 16; c. III, V. 19; ep. ad Romanos c. V., v. 12 sq.) Wenn 
nun die Seele im Tode vom Leibe getrennt ist, so kann ihr 
Erkennen nicht mehr in der früheren Weise geschehen, weil 
bei ihr keine sensitiven Funktionen mehr vorkommen, welche 
die Seele nur in ihrer Verbindung mit dem Leibe vollziehen 
kann. Sie wird daher nur mehr intellektiv tätig sein. Die 
Anregung hierzu bedingt jedoch eine rein geistige Einwirkung, 
weil die abgeschiedene Seele ihr Erkennen bloss an geistigen 
Erscheinungen fortsetzen kann. Da nun in der Seele die 
früheren geistigen Dispositionen zurückgeblieben sind (intellek- 
tives Gedächtnis), so besteht in denselben die Möglichkeit fort, 
sich an das Vergangene noch zu erinnern. Jene Fähigkeiten 
brauchen nur durch entsprechende Anregung wiederaufge- 
frischt zu werden, und das Andenken an die ihnen zugrunde 
liegenden ehemaligen Vorgänge kehrt zurück. Darum sagte 
S. Johannes Berchmans, S. J., vor seinem Hinscheiden: „Die- 
jenigen, welche ich auf Erden geliebt habe, werde ich auch 
in der Ewigkeit lieben; denn die Liebe stirbt im Tode nicht!" 

Zweiter Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. 

Plato geht hierbei von einem allgemeinen Satze aus, 
welcher von weisen Mäiinern der früheren Zeit bereits auf- 
gestellt war, dass nämlich Ähnliches nur von Ähnlichem er- 
kannt werden kann: das erkennende Subjekt und das erkannte 
Objekt müssen gleichartig sein. Dazu kommt noch ein aus 
der Ideenlehre stammendes Axiom, dass die menschliche Seele 
befähigt ist, das Ewige und Unveränderliche, = die Idee, zu 
erkennen. Aus beiden Sätzen aber folgt, dass die Seele ebenso 



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— io8 — 

ewig sein muss wie die Ideen, welche sie erkennt. Dieser 
Beweis enthält alle wesentlichen Elemente des noch heute 
geltenden sogenannten metaphysischen Beweises für die Un- 
sterblichkeit der Seele. (Phaedonis c. 25 — 34.) 

Der ganze Verlauf des Beweises ist in folgenden Worten 
skizziert: Oukoöv Toiövbe ti bei finä^ dp^oSai tijj ttoiiij rlva äpa 
npcaf^Ktti toOto tö n&Qoq ndoxciv toO biaOKcbdvvuaOai xal uirtp toO 
noiou Tivö? bebi^vai |Lif| irdOq aÖTÖ, Ka\ tCJi itoIiu tivi du; xai |Li€Td 
TOÖTO aö diTKJK^iiiaaOai, TTÖrepov f\ ipuxri daxiv, xal ^k toutuv OaßßeTv 
f| bebi^vai untp iflg fmex^pa^ M'uxfl? ; (78 B). 

Recte respondes inquit Cebes: An non tale aliquid, in- 
quit, a nobis ipsis sciscitari debemus, cuinam conveniat illa 
passio, per quam dissolvi possit: et quid sit metuendum, ne id 
patiatur, et secundum quam ejus partem: deinde considerare, 
utrum anima sit necne demum ex his animae nostrae gratiae vel 
confidere vel timere. Vera loqueris inquit. 

Der dritte Beweis hat die logischen Konsequenzen der 
Ideenlehre zur Grundlage. Gemäss dem Axiom des unmittel- 
baren Widerspruches, gemäss welchem keine Idee die ihr ent- 
gegengesetzte aufnehmen kann, und des mittelbaren Wider- 
spruches, wonach auch Einzeldinge, in deren Wesen notwendig 
das eine Glied des Gegensatzes liegt, dem anderen Gliede des 
Gegensatzes unzugänglich ist, schliesst die Seele, welche not- 
wendig mit der Idee des Lebens verbunden ist, die dieser Idee 
entgegengesetzte, den Tod, aus, d. h. : sie ist unsterblich. Da es 
nun keine andere Vernichtung des Lebens gibt, als durch den 
Tod^ so ist sie der Möglichkeit des Unterganges enthoben. Zur 
Voraussetzung hat dieser Beweis die Identität von Seele und 
Leben, welche aber in der griechischen Denk- und Sprech- 
weise überhaupt begründet war. (Phaedonis c. 48 — 56.) 

''O V öv OdvaTov |Lif| b^xn^ai, ti KaXoO|i€v; 'ABdvaTOV Icpn* 
OÖKoOv f| vpux^l oö b^x^Tai edvaTOV Ou* 'AGdvatov äpa f| ipuxn; 
*A6dvaT0V Efev, Icpir toOto fitv bfj dTrobebeixöai cpÄnev ^ itä^ bOKcT; 
Ktti jLidXa T€ iKttviu^, ü5 ZiÖKpaTe^. 

Age jam, quod non subit mortem quomodo appellamus? 
Immortale. Et anima quidem non suscipit mortem. Nequaquam. 
Est igitur anima immortalis. Immortalis quidem. Age utique 
hocne jam demonstratum esse dicemus? an aliter tibi videtur? 
Et sufficientissime o Socrates! (Phaedonis 105, e.) 



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— 109 — 

Plato schrieb in dem „Phaedon" bezeichneten Dialoge 
jene Unterredungen nieder, welche Sokrates am Tage seines 
Todes im Kreise von Freunden und Anhängern gehalten hat. 
Zum Tröste seiner Zuhörer stellte. Sokrates die Behauptung 
auf, dass der Tod für einen weisen Mann nicht zu fürchten 
ist, weil die Seele nach ihrer Trennung, vom Leibe mit einer 
gewissen Kraft und Selbstbewusstsein noch fortlebe, d. h. un- 
sterblich sei. Zu diesem Zwecke gab er die oben genannten 
drei Beweise für die individuelle Unsterblichkeit jeder Einzel- 
seele an. 

Hierauf beschreibt er das Leben nach dem Tode. 

Jeder Gestorbene wird von seinem Dämon (Schutzgeist) 
an die Stätte des Gerichtes geführt. Von der sittlichen Be- 
schaffenheit, welche da seine Seele zeigt, hängt sein weiteres 
Schicksal ab. 

Sodann folgt eine Schilderung der einzelnen Orte, an 
welchen sich die Gestorbenen aufhalten müssen. Die oberen 
Teile der Welt liegen hoch über der von uns bewohnten Erde ; 
sie beginnen da, wo unsere Atmosphäre aufhört und der reine 
Äther seinen Anfang hat. In denselben ist alles in einem voll- 
kommenen Zustande vorhanden, was bei uns verdorben und 
minderwertig ist. In den unteren Teilen der Erde befinden 
sich meistens grosse Schlünde und Ströme voll Waisser, Schlamm 
und Feuer. Der furchtbarste Abgrund ist der Tartarus mit 
dem Urwasser, aus welchem alle Ströme der Unterwelt ent- 
springen. — Von diesen sind die grössten: der Oceanus, der 
Acheron mit dem acherusischen See, der Pyriphlegethon und 
der Kocytus. Wer nun ntittelmässig gelebt hat, büsst zuerst 
seine Schuld und erhält dann seinen Lohn am acherusischen 
See. Diejenigen aber, welche sehr lasterhaft gelebt haben, 
werden in den Tartarus gestürzt, aus dem es keine Wieder- 
kehr gibt. (Ewigkeit der HöUenstrafe.) Die sehr Guten ( Voll- 
kommenen)^ insbesondere die Philosophen, erhalten ihren Wohn- 
sitz auf der höheren Welt in Gemeinschaft mit den seligen 
Göttern (Himmelsbürgern). 

Hieraus ergibt sich der Schluss, dass man sich im irdischen 
Leben, soviel als nur immer möglich, der Tugend und Weis- 
heit bestreben müsse, um nach dem Tode in der anderen Welt 
ein glückliches Los zu gewinnen. 



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— liO — 

Das Gericht. 

A^T€Tai bk oÖTiuc, ihq dpa TeXeuT^aovta ^Kaaxov 6 ^Käarou 
baijüiiüv, öcTTrep Ciövra elX/jxe^ oöxo^ Sy^iv dirixeipei el^ br\ xiva rönov, 
ol bei Tou^ <yuXX^T€VTa^ biabiKaaafi^voug el^ "Aibou TTopcpeaöai fiexä 
f]Te|iövo^ dK€ivou, lü bf| TTpocTTexaKTai xou^ evB^vbe dxetoe nopeöaai. 
xuxövxag b' dK€i, (Lv bei xux€iv, icai jueivavxa?, öv xp^ XP<5vov, äXXo^ 
beOpo irdXiv f)T€Mibv KOjyiilei dv iroXXaig xpövou Kai jiiaKpaT^ irepiöboiq. 
(Phaedonis 107 d.e.) 

Ferunt enim quemlibet hinc illuc emigrantem ab eo dae- 
moöe, quem vivus sortitus fuerat, in locum quendam duci, ubi 
oporteat omnes una coUectos iudicari, atque deinde ad inferos 
proficisci eo duce, cui mandatum erat, ut hinc decedentes ad 
illa loca traducat, Sortitos vero illic, quae oportebat sortiri, 
tempusque debitum commoratos, ab alio quodam duce rursus 
huc reduci post multos temporis longosque circuitus^). 

Der hl, Paulus sagt: Tou^ fäp Trdvxag fmä^ <pav€puj0fivai 
bei f^^^po0G€V xoö ßrjjLiaxo^ xoO XpiaxoC, iva KOiiiarytai iKaaroq xd 
bid xoO (Tui^axo^, trpo^ & fnpogev eixe dToOöv, etxe kuköv. (II Cor. 5, 10.) 

Vulgata: Omnes enim nos manifestari oportet ante tribu- 
nal Christi, ut referat unusquisque propria corporis, prout 
gessit, sive bonum sive malum. 

Wir alle nämlich müssen vor dem Richterstuhle Christi 
erscheinen, damit ein jeder empfange, was er im Leibe (im 
irdischen Leben) getan, sei es G«tes, sei es Böses. 

Reinigungsort. 

Touxujv hk oiirvjq TceqpuKÖxujv, direibdv dcpiKiüvxai oi xeXeuxriKÖxe^ 
ei^ xöv xÖTtov, Ol 6 baiiiujv ^xaaxov KOjLiiCei, npdixov jifev biebiKdcravxo, 
Ol xe KoKwq xai baisix; ßitiaavxeg Kai oi jüiri. Kai rfi ^ev äv böSiuai 
liiaux; ßeßiujK^vai, TropeuBevxeq dni xöv Ax^povxa, dvaßdvxe^ 8 bf| 
auxoTq öx/JMaxd Icrxiv, eiri xouxiüv dcpiKVOövxai eiq xf|v Xi|livtiv Kai 
dKei oIkoOcti xe Kai Kadaipu)]ievoi xüjv xe dbiKimdxuiv bibövxe^ biKa^ 
dnoXtiovxai, el xig xi ribiKTiKev, xiöv xe euepteaiujv xijLidq cp^povxai 
Kaxd xf|v dgiav kaaxo^' Phaedonis c. 113 d. 



1) Zu dem Worte öaiiiuiv (daemon) = göttliches Wesen, Schutzgeist, 

bemerkt Clemens Alexandrinus 1. Stromatum V. p. yzy: "Airavri baifiujv 

dvbpi au|üiTTapaaTaT€t €060^ xevo^^vijj ^uöTaxuiTÖ^; toö ßiou. Omni daemon 

•homini assistit simul atque nato dux vitae. Jedem Mensehen steht von 

seiner Geburt an ein Schutzgeist zur Seite als Führer durch das Leben. 



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— HI - 

Quum vero haec ita natura disposita sint, quum in eum 
locum defuncti pervenerint, quo daemon unumquemque perdu- 
cit, primo illic iudicantur, et qui honeste sancteque, et qui 
aliter vixerint. Itaque quicunque in vita quodam modo tenuisse 
medium quoddam comperiuntur, Sid Acherontem profecti vehi- 
culis, quae unicunque adsunt, conscensis, in paludem perveniunt 
Acherusiam: ibique habitant purganturque poenas dantes in- 
iuriarum: et quum purificati sunt, absolvuntur, rursusque pro 
merito singuli benefactorum praemia reportant. 
Ewige Höllenstrafe. 

CK b' äv bö5u)(Tiv dvidiui^ fx^iv b\ä xd jucT^en xiBv djiiapTTijLidTUJV, 
iepoauXia^ noXXd^ Kai juetaXa^ f^ cpövou^ dbinou^ xai 7rapavö^oug 
noXXou^ ae\pfaa\iivo\ f\ äXXa &0a TOiaÖTa xutxdvei övra, toOtou^ bk 
f] irpoarJKouaa jucipa ßinxei el^ töv Tdprapov, öBev oöttotc dKßai- 
vouaiv. Phaedonis c. 113 e. 

Qui vero ob scelerum magnitudinem insanabiles esse 
videntur, qui videlicet sacrilegia multa et magna, vel caedes 
iniquas, vel alia horura similia perpetraverint, hos omnes con- 
veniens sors mergit in Tartarum, unde nunquam egrediuntur. 

Belohnung der guten und weisen Menschen. 

'H bt Kaeapwq T€ Kai nexpiui^ xöv ßiov bieSeXeoöcJa Kai Huv€|li- 

TTÖpUJV Ka\ f)T€|LlÖVU)V GcÄV XUXOOcJa djKTl<T€V xöv auxq ^KdaXT] XÖ1T0V 

7Tpo(Tif|Kovxa. Eiaiv bfe ttoXXoi Ka\ Baujiiacrxoi xflg tn? xöttoi, Kai aöxf| 
oux€ ota oöxe ocni boEdCexai unö xdiv irepi irn? eiaiwööxujv X^t^iv, 
di^ dtu) unö xivo(; Tr^neiaiyiai. Phaedonis c. 108 c. 

Qui vero puram moderatamque transegerit vitam deos 
socios ducesque nactus ibi habitat, ubi unicunque convenit. 
Midta vero sunt mirabiliaque terrarum loca: ipsaque terra 
neque talis neque tanta est, qualem aut quantam hi qui de 
terra solent disserere existimant, quemadmodura mihi a quodam 
persuasum est. 

Was Plato den weisen Sokrates über die Unsterblichkeit 
der Seele und deren Zustand und Schicksal nach dem irdischen' 
Leben im Kreise seiner Jünger vortragen lässt, gehört zu dem 
Besten und Tiefsinnigsten, welches wir aus dem klassischen 
Altertume besitzen. Unstreitig hat er damit die Gedanken 
seines sterbenden Meisters in vollendeter philosophischer Be- 
gründung wiedergegeben und so der Nachwelt überliefert, dass 



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— 111 — 

man eine ideale Vorstellung von dem Tode des Gerechten sich 
bilden kann. Die christlichen Anschauungen über die leisten 
Dinge des Menschen erhalten durch den Dialog „Phaedon" 
eine vernunftgemässe Begründung. (Cfr. Romanos ep. c. 
XII, V. 1.) 

Bei der ernsten Welt- und Lebensanschauung, welche 
Plato in seiner Philosophie kundgibt, lässt sich erwarten, dass 
er auch eine würdige und erhabene Tugendlehre aufgestellt 
habe. Und dies ist wirklich der Fall. Das wahrhaft Schöne 
seiner eigentlichen Ethik bedarf wohl kaum einer besonderen 
Beweisführung und Erörterung. Dieselbe hat sich nämlich als 
die Blüte der sokratischen Schule einer allgemeinen Anerkennung 
zu erfreuen. Tugend, so lehrt Plato, ist Gottähnlichkeit ; die 
Tugendhaften sind daher Gottes Freunde und Kinder. Tugend 
ist aber auch Gesundheit, Schönheit und Harmonie der Seele. 
Wenn Plato das tugendhafte Leben des Gerechten beschreibt, 
so glaubt man Anklänge an das zu vernehmen, was in der 
hl. Schrift, und besonders bei dem Apostel und Evangelisten 
Johannes, als das ewige Leben bezeichnet wird, nämlich, das 
Leben der Seele in und mit Gott. (Cfr. Evgl. S. Johannis 
c. 17, 3 sq.) 

'H dpciri dativ öjLioiujm^ Oeip Kaxd tö buvaxöv. Theaeteti 
c. 176 a. Virtus autem est, ut Deo similes pro viribus efficiamur. 
(Tugend ist Gottähnlichkeit.) E\q 6aov buvaxöv dvepübrri}) öjiioioO- 
aOai e€i|). De republica 1. X, c. 613 a. Die Tugend besteht 
darin, soweit es dem Menschen möglich, Gott ähnlich zu werden. 
'0 jLifev crüjcppujv eeoicpiXoq- ö^oio? xdp. De legibus 1. IV, c. 716 c. 
Sapiens deo amicus est; est enim similis. Der Tugendhafte ist 
Gottes Freund; denn er ist ihm ähnlich. Cfr. Ciceronis Tus- 
culanarum Disp. 1. V, c. 25, n. 70. TTaibeq Geujv De legibus (1. V, 
c. 793 c.) 1. XII, c. 941 b. c. Virtutis cultores Deorum sunt filii. 
Die Tugendhaften sind Kinder Gottes. Cfr. S. Johannis Ep. I, 
c. 3, V. 1. 

'Apexfi \jiky fipa uyieid x^ xi^ av eii] Kai KdXXoq xai €U€2ia v|iuxn^. 
De republica 1. IV, c. 444 e. Virtus igitur, ut apparet, sanitas 
quaedam est et pulchritudo et bona animi constitutio. Die 
Tugend ist daher eine Gesundheit, Schönheit und Harmonie 
der Seele. Növ hx\ fXeTeg, 8xi dcrxiv n dpexfi ßouXeaeai xe xdTaOd 



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- 113 - 

KQi buvaadai; Menonis c. 78 b. Nonne paulo ante dixisti, virtutem 
esse bona velle et posse? Dixi equidem. Hast Du nicht kurz 
vorher gesagt, die Tugend bestehe darin, das Gute zu wollen 
und zu können? Ganz gewiss! Diese Erklärung gilt noch heute. 

*H dpexfi TTpcariKci hl Eutt^vci Sf n\r\a\aaa<; Kai mtclq tiD 
ÖVTUJ^ övTi, T€VVTi<Taq voOv kgi AXrieeiav, tvoiti T6 Kai dXriOÄ^ Zijiii 
Kai tpecpoiTo- De republica 1. VI, c, 490 b. Virtus autem convenit 
vi quadam cognata. Qua quuin adhaeserit, seque ei, quod vere 
est, miscuerit atque inde re vera intelligentiam veritatemque 
genuerit, cognoscet utique verum vereque vivet et aletur. Die 
Tugend verbindet sich mit einer verwandten Kraft. Wenn man 
sich derselben hingibt und sich mit dem wahrhaft Seienden 
(Gott nämlich) vereinigt und daher in der Tat Einsicht und 
Wahrheit gewonnen hat, so wird man das Wahre erkennen, 
wahrhaft (vollkommen) leben und innerlich gestärkt werden. 
Cfr. Evgl. S. Johannis c. 17, 21 und 23; I. Corinthios 6, 17. „ Wer 
Gott anhängt, ist ein Geist mit ihm!"' 

Die Tugend führt zu Gott; denn sie kommt von Gott. 
El bk vOv fiinei^ iv navxi tijj XÖT^ji toutijj KaXuj^ arYir\aa\iiv xe Kai 
dX€TO^€V, dperf) Sv ein oötc qpuaei, oöt€ bibaKXÖv dXXä bk Ociqi ixoipq, 
napaTlTvo^€vr|, öveu voO, ol^ Sv napatiTViiTai. Menonis c. 99 e. 
Si autem nos in omni hac disputatione recte perscrutati sumus, 
virtus utique nee doctrina, nee natura nobis aderit: verum 
divina sorte, absque mente^ in eum qui illam sortitus fuerit, 
influet. Wenn wir nun in dieser ganzen Abhandlung alles 
recht erforscht haben, so müssen wir eingestehen, dass die 
Tugend weder durch Lehre noch durch natürliche Anlage uns 
zukommt; sondern dass sie als göttliches Gnadengeschenk, ohne 
unsere Absicht, dem zuteil wird, welcher sie erlangt*). 

Die Tugend ist im Grunde genommen zwar nur eine; 



*) Die Art und Weise, mit der Plato das Wesen, die Gesinnung und 
die Lebensführung des echten Philosophen (des Gerechten) hier und z. B. 
De republica 1. VI. c. 485 d. u. a., zeichnet, hat grosse Ähnlichkeit mit 
der Schilderung, wie die christlichen Schriftsteller imd Apologeten das 
Leben und die Sitten des wahren Christen oft charakterisieren. Cfr. 
Cleraentis Alexandrini „Paedagogi" I. I, p. 10 1; lustini Martyris „Ad 
Diognetimi" c. 236 sq.; Athenagorae „Legationis'* p. 288 u. a. Die 
Gesinnungen, nicht die Kenntnisse sind bei Plato das Wesentliche; er 
liebt es, wahre Philosophie mit wahrem Seelen-Adel gleich zu stellen. 

Kröll, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. Ä 



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— 114 — 

nach platonischer Darlegung jedoch entfaltet sie sich in vier 
Hauptäste: Tapferkeit, Mässigung^ Gerechtigkeit und Weisheit. 
'Avbpia, d. h. die auf Vernunft gegründete Mannhaftigkeit der 
Seele, welche gegen alles streitet, was dem Geiste die Herr- 
schaft rauben will. De republica 1. IV, c. 442 d., Laches c. 199 b. 
Zujq)poaüvii = die besonnene Haltung und Ruhe im Leben der 
Gemtitskräfte. De republica 1. IV, c. 442 d. AiKaioauvri: die 
wahre Seelenttichtigkeit, wenn jede geistige Kraft nicht mehr, 
aber auch nicht weniger tut, als sie tun soll. De republica 
1. IV, c. 443 d. locpia: das klare Vernunftbewusstsein von dem 
allein Wahren und Guten, welches der Liebe und des Strebens 
würdig ist. De republica 1. IV, c. 442 c; vgl. Theaeteti c. 176 c. 
Hiermit ist zu vergleichen, was die hl. Schrift im Buche der 
Weisheit Salomons c. VIII, v. 7 über die sogenannten „ Vier 
Kardinaltugenden^ sagt: Kai ei biKaioauvriv dTaTra ti^, oi ttövoi 
TouTTi? €i(Tiv dperai* craj(ppo(Juvr|v t^P kqi cppöviicriv dKbibdcTKei, bixaio- 
cruvTiv Kttl dvbpiav, div xP^^^iM^Tcpov oub^v dcrtiv dv ßitu dv0pu)7roiq. 
Vulgata: Et si quis iustitiam diligit, labores huius magnas 
habent virtutes; sobrietatem enim et prudentiam docet, et iusti- 
tiam et virtutem, quibus utilius nihil est in vita hominum. 
Wenn jemand Gerechtigkeit liebet, so hat ihre Bemühung grosse 
Tugenden zur Folge ; denn Mässigung lehrt sie und Klugheit, 
Gerechtigkeit und Mannhaftigkeit ^ über welche hinaus es nichts 
Heilsameres gibt im Leben der Menschen. y^Die Gerechtigkeit^, 
soweit sie vom Standpunkte des alten Testamentes erreicht 
werden konnte, war das Ergebnis „der Führung** durch die 
Weisheit Gottes. Sie umfasste die seit den Tagen des Kirchen- 
lehrers S. Ambrosius (geboren zu Trier 340, gestorben zu Mai- 
land 4. April 397) mit Bezug auf diese Stelle sogenannten vier 
Haupt-, oder Kardinaltugenden : Mässigung, Klugheit, Gerechtig- 
keit und Starkmut. Cfr. Psalm. Davidis 14, 2 und 3. 

Die platonische Definition von der Tugend im allgemeinen 
als Fähigkeit, das Gute zu wollen und zu können (vgl. Seite 
113flgd) hat in der Sittenlehre (Ethik) eine dauernde Aufnahme 
gefunden. Seine Begriffsbestimmung ist für die Kennzeichnung 
der christlichen Tugend dahin zu erweiteren, dass dieselbe als 
Fertigkeit genannt wird, das Gute zu wollen und zu üben, wie 
es dem Gesetze Jesu Christi gemäss und des ewigen Lebens 
würdig ist. 



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— 115 — 

Auch werden die Kardinaltugenden sinngemäss gruppiert 
als: Klugheit und Gerechtigkeit, Mässigung und Starkmut. 

Die christliche „Klugheit" besteht darin, das Gute nicht 
unbesonnen, sondern nach ruhiger Überlegung mit geeigneten 
Mitteln auszuführen. ^Recta recte!" Das Gute auf gute Weise! 
(Bischof Eberhard von Trier.) S. Franciscus pflegte die Klug- 
heit als auriga virtutis (Fuhrmann der Tugend) zu bezeichnen. 

„Die Gerechtigkeif* gibt und lässt jedem, was ihm zu- 
kommt. „Suum cuique!" Jedem das Seinige! 

„Die Mässigung" besteht in der Zügelung der Affekte. 
tAr\bi.v axav Thaies von Milet. „Nequid nimis!" S. Henricus 
Imperator II (1002—1024.) In keiner Sache zuviel! 

„Die Starkmütigkeit" charakterisiert sich als christliche Ent- 
schiedenheit und Kraft alle Hindemisse, welche der Tugend ent- 
gegen stehen, siegreich zu überwinden. Cfr. I ep. S. Joh. c. 5, v. 4. 

Das Buch der Weisheit wurde in dem Zeiträume von 
300—200 vor Chr., näherhin gemäss den geschichtlichen An- 
deutungen des Kap. 19, v. 4flgd., in den Jahren 222—205 unter 
dem Könige Ptolemaeus Philopator zu Alexandrien geschrieben. 
Sein Verfasser war ein gotterleuchteter Hebräer, welcher sich 
in der griechisch-römischen Philosophie sehr bewandert zeigt. 
Er hatte den Zweck, das Volk Gottes gegen die Gefahren, 
welche besonders in der epikureischen und stoischen Lebens- 
weisheit gelegen waren, zu schützen. In ihren Grund- und 
Lehrsätzen sich zwar entgegenstehend, trafen beide aber in 
dem Ergebnisse zusammen, die letzten Reste des Glaubens an 
eine vergeltende Gottheit und an die Unsterblichkeit der Seele 
vernichtet zu haben. Ganz anders waren die Wirkungen der 
Schule Piatons (430—348), welche mehr dem Idealen und Posi- 
tiven zugekehrt war. Gemäss unserer Darlegung S. 99 f Igd. und 
104flgd. verteidigte die Akademie sowohl den Glauben an Gott als 
auch an die Unsterblichkeit der Seelen. Daher stand sie den 
gläubigen Israeliten sehr nahe, und es ist nicht ausgeschlossen, 
dass die sprachliche Fixierung der vier Kardinaltugenden mit 
Rücksicht auf die platonische Philosophie durch den Verfasser 
des Buches der Weisheit angenommen wurde. Die beider- 
seitigen Darstellungen verraten eine grosse Ähnlickeit mit- 
einander und gehen die Schriften Piatos der Abfassung des 
Buches der Weisheit um 120 Jahre voraus. 



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— ii6 — 

Gleichwie Plato in seinen Schriften eine edle Darstellung 
der Tugend gibt, so unterlässt er auch nicht, das Böse, die 
Sündey mit festen Strichen zu zeichnen. 

'H KttKia vöaog t€ Ka\ alcjxo^ Kai (i(T0ev€ia xfi^ M^^xfl? ^ariv. 
Pfeccatum morbus et deformitas et infirmitas est animae. Die 
Sjlnde ist eine Krankheit, Missgestaltung (Hässlichkeit) und 
Schwäche der Seele. Piatonis de republica 1. IV, c. 444 e. 
Die Sünde entwürdigt den Menschen. 

AouXoTrpcnfeq f] KQKia, dXeuOeponpcnfeq bt i\ dpcTrj. Servile quid 
e3t nequitia; sed viro libero dignum quid est virtus. Etwas 
Kpechtisches ist die Schlechtigkeit; dagegen ist die Tugend 
etwas des Freien Würdiges. Piatonis de Alcibiade I, cfr. de 
republica 1. IX, c. 579 d; de legibus 1. IX, c. 863 e. 

S. Pauli ad Romanos c. VI v. 20: "Oxe t^P boöXoi fJTC ttJ^ 
otMapTia^, dXeOeepoi fJTC ttj biaKoauvij. Vulgata: Nam quum servi 
essetis peccati, liberi fuistis iustitiae. Denn als ihr Knechte 
der Sünde wäret, wäret ihr frei mit Bezug auf die Gerechtigkeit. 
Aus diesem Grunde kommt die Sünde nicht von Gott. 

'Ataöö^ 6 öeö^ ... Kai tOjv \kk\ dTOiOuJV oubeva äXXov aiTiaxeov * 
Tiüv bt KttKÜüv äXX' äiia bei Cnieiv id aiiia, fiXX' ou töv Geöv. Pia- 
tonis de legibus 1. II, c. 379 c. Deus bonus est . . . et bonorum 
quidem solus Deus caussa est dicendus, malorum autem quam- 
libet aliam, praeter Deum, caussam quaerere decet. Gott ist 
gut — und von dem Guten gibt es keine andere Ursache. 
Vom Bösen aber muss man die Ursachen anderswo, nur nicht 
in Gott suchen. 
Die sinnlichen Begierden veranlassen zum Bösen. 

'ETTiOu^iag dXÖTiw? 4Xkou(Jii^ im f^bovd^ xai dpSdOriq dv f]^Tv 
"^ ^PXfl ößpi? dmjüvojüidaGTi. Piatonis Phaedri 1. X, c. 301. Quum 
libido sine ratione in voluptates feratur atque in nobis dominetur, 
haec dominatio insolentia appellatur. Wenn die Begierde un- 
vernünftig zu den Lüsten hinzieht und in uns herrscht, so wird 
diese Herrschaft als frevelhafter Übermut bezeichnet. 

Darum sagt Cicero de senectute 1. XIII, c. 4 : Plato escam 
malorum voluptatem appellat. Plato nennt die sinnliche 
Begierde eine Speise d^r moralischen Gebrechen. Ebenso de 
officiis 1. II, c. 10, n. 11: Voluptates, blandissimae dominae, ma- 
ioris partis animos a virtute detorquent. Die sinnlichen Ver- 
gnügungen machen als sehr schmeichelnde Gebieterinnen den 



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— 117 — 

Sinn des grössten Teiles der Menschen von der Tugend 
abwendig. 

Die Sünde zerrüttet Leib und Seele. 
'H dbiKia TÖv fxovTtt jüiaXaCiwriKOV napixovaa Ka\ npög y' ?ti ifSj) 
CuüTiKiu ätPWTTVOv. Piatonis de republica 1. X, c. 495. Iniquitas 
eum cui inest, valde excitat atque etiam insomnem reddit. Die 
Sünde regt den, welcher sie begangen hat, sehr auf und macht 
ihn zudem noch schlaflos (durch das böse Gewissen). 
Die Sünde raubt die schönsten Freuden. 
'Ap' oöv oÖK dvdTKTi Kai f|bovaTg HuveTvai ^€jLllT^^va^ Xuirai?, 
eibuüXoiq TTJ^ dXiiOoOq ^bovf]^, Kai dcTKiafpacpTiiii^vai?, vnö Tf\(; Trap' 
dXXifjXaq G^aeiwq dTTOXpaivojüi^vai^; ulkttc (Tcpobpoug ^Kat^paq q)aiv6a0ai, 
Kai fputaq ^auTuöv XÜTTOVtaq toT^ fiqppomv dvTiKTeiv. Piatonis de 
republica 1. IX, c. 586 b. 

Hos (iniquos) necesse est voluptates doloribus mixtas 
persequi, quae simulacra voluptatis verae et umbrae sunt, usqtie 
adeo in vicem doloris comparatione mutua inquinatae, ut et 
voluptates et dolores ex ea comparatione vehementiores appa- 
reant amoresque ipsarum huiusmodi voluptates rabidos insi- 
pientibus pariant. 

Mit einer gewissen Nötigung streben die Bösen den Ver- 
gnügungen nach, welche mit Schmerzen (Gewissensbissen) 
verbunden sind. Diese sind eben nur Trugbilder und wesen- 
lose Schatten der wahren Freude. Ja in dem Masse sind die- 
selben im gegenseitigen Vergleiche des Schmerzes angesteckt, 
dass sowohl die Vergnügen wie die Schmerzen infolge jener 
Gegenüberstellung bedeutend zu wachsen scheinen sowie auch 
den Unverständigen ein leidenschaftlich erregtes Verlangen 
nach jenen Lüsten erwecken. 

(Die Folgen von raffinierten Vergnügungen sind erhöhte 
und verschärfte Gewissensbeschwerden, und dennoch vermehrt 
sich die Begierde nach^verbotenem^Genusse.) 

In dieser Weltzeit streitet zwar das Böse mit dem Guten; 
Gott aber führt die TugendJ^sum^Siege. TaOxa Trdvra Euvibibv 
(flinaiv 6 ßaaiXeöq), ^inTiXovriaaTO neu k€ijli€vov ^Kaaiov tüüv nep&v, 
viKoöaav dperfiv firrujfi^vriv bfe KaKiav iv tuj Travti napiyiox jLidXicyT' 
Sv Ktti ßqtcTTa Kai fipicrta. 

Haec omnia quoniam rex ille noster perspexit, idcirco 



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— ii8 — 

excogitavit, ubi pars quaeque locata, maxime optime f acillimeque 
virtuti victoriam, vitio autem ne vincat, impedimentum in uni- 
verso praebere possit. Piatonis de legibus 1. X, c. 904 b. 

Alle Verhältnisse durchschauend ordnete unser König 
(Gott der Herr) jedem seine Stelle an, damit die Tugend zumeist, 
am besten und sehr leicht den Sieg erringe, das Laster da- 
gegen, auf dass es nicht (dauernd) die Obmacht gewinne, tiber- 
all ein Hindernis finde. 

Lohn der Tugend; Strafe der Sünde. De republica 1. 1, 
354 a: 'AXXoi ^itv 8 t€ €Ö Ziujv MdKapö^ te Kai eubaijLiujv, 6 be \xi\ 
TÄvavTia. Qui autem bene vivit, beatus est et felix; qui male, 
contra. Wer gut lebt, ist glücklich und selig; wer nicht, das 
Gegenteil. 

Zum Schlüsse unserer Anführungen von Schrifttexten 
wollen wir noch auf die grosse Ähnlichkeit zwischen einzelnen 
platonischen und mosaischen Geboten und Verordnungen hin- 
weisen. 

Den Missbrauch des göttlichen Namens, das Anrufen 
Gottes bei der Lüge (falscher Eid u. s. f.) verbieten die plato- 
nischen Vorschriften wie die mosaischen. 

VeObog )kX\h^\<l Hn^tv, \XX\h' ÖTTCtTIlV, IllTl^^Tl KißbTiXov, T^vo^ 

dTTiKaXou^evog öeiöv, \ki\it XÖTif), jüirJTe f pytu irpaHeiev, 6 |jif| GeoMiaeaTaTO^ 
^0€cr6ai iLi^XXuiv. Piatonis de legibus 1. XI,c. 916 e. Nemo diis 
invocatis mendacium dicat, aut decipiat, aut adulterare verbo 
vel re quidquam audeat, nisi Deo velit odio esse. Niemand 
erkühne sich bei Anrufung Gottes eine Lüge zu sagen, oder 
Betrug und Hinterlist irgendwie sich zu gestatten, wenn er 
sich nicht Gott verhasst machen will. 

TTavTUJ^ jifev bf) KaXöv dTriTribeujLia, 6€üjv ^vö^aTa )Lif| xP<^iv€iv 
ßqibiuj^, fxovra ib^ l%o\)a\y/ fi|Lia)v ^KdatoTe tä TroXXä o\ nXeiatoi 
KttGapÖTTiTÖ^ Te Ktti difveiag xa nepi Toüq öeoug. L. c. c. 917 b. 
Aequum profecto est, nomina Deorum non facile iniquinare. 
nee ea huc atque illuc devolvere: sed omnia quae ad Deos 
pertinent, pure casteque servare. Es ist fürwahr billig, den 
Namen Gottes nicht leichtsinnig zu verunehren, noch immer 
im Munde zu führen^ sondern alles, was auf Gott Bezug hat, 
rein und keusch zu bewahren i). 



^) In vorstehender deutscher Übersetzung haben wir den Ausdruck 

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— 119 — 

Libri Exodi c. 20, 7 : „Non assumes nomen Domini Dei Tui 
in vanum; nee enim habebit insontem Dominus eum, qui assump- 
serit nomen Domini Dei sui frustra". Nicht gebrauche den 
Namen des Herrn, deines Gottes zum Truge; denn der Herr 
wird denjenigen nicht ungestraft lassen, welcher den Namen 
des Herrn, seines Gottes, eitel (grundlos) anwendet. 
Vater und Mutter sind zu ehren. 

Piatonis de legibus 1. XI, c. 931 d. Oukoöv blavoT^90J^€v ib? 
juiiKpijj TTpÖTcpov eiTroiuiev, ujq oubtv Ttpöq 0eOjv iijuiiiJüTepov fiToX/uia 
Sv KTTi(Tai|uie9a Traxpöq Kai TTpoTTdropcg irap€ifi^vu)V PIP?» Kau^T^T€puJV 
Tf|v auTrjv buvajuiiv dxoucrduv, oö? öxav dTToXXij xiq, ii/uiaiq T^T^Öev 
6 eeöq. 

Quapropter existimandum est, ut pauUo ante diximus, 
nuUum apud Deos magis honorandum simulacrum habere nos 
posse, quam patres et avos senio confectos, matresque similiter, 
quibus honoratis Deus gaudet. 



9€oi (Dil) = Götter mit der Einzahl Gott wiedergegeben. Zum Wesen 
Gottes gehört seine (numerische und metaphysische) Einheit. Es kann 
nun darüber kein Zweifel sein, dass Plato an die Einheit Gottes glaubte, 
also Monotheist war. Und wenn er von „Göttern" (in der Mehrzahl) redet, 
so geschieht dies bloss unter Anlehnung an den herrschenden Sprach- 
gebrauch; dieser Ansicht huldigt auch S. Augustinus. Vgl. „De civitate 
Dei" 1. IV. c. 24 und c. 31; sowie 1. IX, e. 23, wo er mit Rücksicht auf 
den Sprachgebrauch der hl. Schrift: Psalm 49, i; 94, 3; 95, 4; 135, 2 
sich also vernehmen lässt: „Ideo inter nos et ipsos (Platonicos) paene 
nulla dissensio est, quia etiam in nostris sacris litteris legitur : Deus deonun 
dominus locutus est, et alibi : Confitemini Deo deorum et alibi : Rex magnus 
super omnes deos." Was nun die Anwendung des Wortes „Götter" angeht, 
so scheint zwischen uns und den Platonikem kaum ein Unterschied zu 
sein, da es auch in unseren hl. Schriften gesagt wird: „Der Gott der 
Götter hat gesprochen", und femer: „Preiset den Gott der Götter!"; ebenso 
an einer anderen Stelle: „Gott ist ein grosser König über alle Götter." 
Christus selbst wendet diese Bezeichnung an. Er sprach zu den Juden: 
„Ist es nicht in euerem Gesetze geschrieben: Ich habe gesagt: Götter 
seid ihr"! Wenn er nun jene als „Götter" angeredet hat, an welche das 
Wort Gottes erging, und nicht gelöst werden kann die Schrift; welchen 
nun der Vater geheiligt und gesendet hat in die Welt, von dem sagt ihr: 
„du lästerst Gott", weil ich gesprochen habe: „Sohn Gottes bin ich"! 
Evgl. S. Johannis c. X. v. 34 — 37. Vgl. Numeri c. XI. v. 16 — 25; Psalmi 
Davidis 81, 6. 



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— T20 



Wir müssen nun der Ansicht sein, gemäss dem, was wir 
kurz vorher gesagt haben, dass wir nächst Gott kein ehrwür- 
digeres Heiligtum besitzen können als Vater und Mutter, sowie 
altersschwache Grosseltem; wenn wir diese in der rechten 
Weise ehren, so freut sich Gott. 

Libri Exodi c. 20, 12: „Honora patrem tuum et matrem 

tuam, ut sis longaevus super terram quam Dominus Deus dabit 

tibi!" Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf dass du lange 

lebest in dem Lande, welches der Herr dein Gott dir geben wird 

• Auch die älteren Leute soll man ehren. 

"Qbe oöv xpn 7T€pi Tiöv TOiouTUJV 7rdvTa fivbpa Ka\ iraiba xai 
fuvaiKa dei biavoeicrOai, töv TipecTßuTepov ib^ ou cT^lKp^J toO veuü- 
T^pou iCTi irpecTßeuöjuievov, fv xe GecicTi xai iv dv9pa)7TOi^ loTq jieXXoucTi 
aditeaOai Ka\ eöbaijuioveTv. De legibus 1. IX, c. 879 c. 

Oportet igitur omnes homines mulieres simul atque viros, 
adolescentes ac senes, ita de his semper existimare: Seniorem 
non parvo intervallo iunioribus praeponendum esse, et apud 
Deos et apud homines, qui victuri sint feliciter. 

Es ist notwendig, dass alle Menschen, Frauen wie Männer, 
Jünglinge wie Greise folgenden Grundsatz annehmen: ein Älterer 
ist einem Jüngeren in nicht geringem Masse vorzuziehen sowohl 
bei Gott als auch bei Menschen, die wahrhaft glücklich sein 
wollen. 

Libri Levitici c. 19, 32: „Coram cano capite consurge et 
honora personam senis: et time Dominum Deum tuum. Ego 
sum Dominus!" Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen 
und die Person des Alters sollst du ehren: und fürchten sollst 
du deinen Gott und Herrn! Ich bin der Herr! 

Grenzverrückungen werden strenge untersagt. 

Kai iäv q)UT€uuJV \xr\ dTrcXeiTn) tö ii^Tpov xiliv toö tcitovo^ 
XUipiuiv, KttOdirep eXpryzai Kai iroXXoiq vo^o9€Ta^ kava»? ZriiiicucTeu). 
Si quis in plantando mensuram (limites) vicini agrorum non 
observaverit, ita plectatur uti a plerisque legumlatoribus suffici- 
enter dictum est. Piatonis de legibus 1. VIII, c. 843 e. Wenn 
jemand beim Pflanzen den Flächeninhalt der Äcker seines Nach- 
bars nicht belassen hat, d. h. über die gezogenen Grenzen 
hinaus gesät hat, so muss er eine Strafe erleiden, wie solches 
von den meisten Gesetzgebern in hinreichender Weise fest- 
gestellt ist. 



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Fünftes Buch Moses Kap. 19, 14: „Non assumes neque 
transfei'es terminos proximi tui, quos fixerunt priores in posses- 
sione tua, quam Dominus Deus tuüs dabit tibi in terra, quam 
accep^ris possidendam". Entferne und verrücke nicht die Grenz- 
steinfe deines Nächsten, welche die Vorfahren gesetzt haben an 
deinfem Besitze, welchen der Herr, dein Gott dir geben wird 
in dem Lande, welches du zum Eigentume erhältst. 

Ibidem c. 27, 17: „Maledictus sit, qui transfert terminos 
prbximi sui; et dicet omnis populus: Amen!" Verflucht sei, 
wer die Grenzsteine seines Nächsten verrückt ! Und alles Volk 
soll sagen: Amen! (So geschehe es!) 
Diebe müssen den verursachten Schaden ersetzen. 

BXäßriv fjv fiv Tiva KaTaßXdvpij, TrdvTUjq auXriv dircTiv^TUJ. De 
legibus 1. IX, c. 864 d e. Damnum si quis (furando aut rapiendo 
etc.) intulerit, simplex omnino restituat. Wenn jemand einen 
Schaden angerichtet hat, (durch Stehlen, Rauben, Betrügen u. s. f.), 
so ersetze er denselben ohne Ausnahme, d. h. vollständig. 

Zweites Buch Moses Kap. 22, 1-— 4: „Si quis furatus fue- 
rit . . . et non habeat, quod pro furto reddat, ipse renundabitur. 
Wenn jemand gestohlen hat (Ochs oder Schaf u. s. f.) und be- 
sitzt nicht so viel, als für den Diebstahl als Schadenersatz zu 
leisten ist, so werde er selbst verkauft. 

Wucherzinsen sind verboten. 

'H bk KTfim^, x^p'K toO KXrjpcu, TrdvTUJV Trdcra Iv iif» qpavepip 
TeTpd<peuj Ttapd (puXaHiv dpxoucTiv, olq äv 6 vöjuio^ TtpocTTd^ij' öttoj^ 
äv ai biKOi Tiepi TtdvTUJv, öcrai elq xpr]\xaTa pdbiai le Kai iBcri crqpöbpa 
aatpexq. De legibus 1. V, c. 743 a. 

Quaecumque vero possident ultra sortem, apud magistratum, 
horum custodem a lege constitutum, aperte scribantür, ut omnia 
de pecuniis iudicia facilia sint et valde clara. 

Alles, was die Bürger über das zugestandene Los (Zins- 
mass) hinaus besitzen (sich erworben haben), soll bei den Staats- 
beamten, welche für diese Angelegenheiten als Wächter gesetz- 
lich angestellt sind, deutlich aufgeschrieben werden, damit alle 
Urteile in Geldsachen leicht und verständhch seien. 

Drittes Buch Moses Kap. 25, 35—39: „Si frater tuus atte- 
nuatus fuerit . . . ne recipias usuras ab eo, nee amplius, quam 
dedisti. Pecuniam tuam non dabis ad usuram et frugum abun- 
dantiam non exiges. (Cfr. 1. Deuteronomii c. 23, 19; Ezechielis 



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18, 13.) Wenn dein Bruder arm geworden ist, so nimm von 
ihm keine Zinsen, und nicht mehr, als du ihm gegeben hast . . . 
Dein Geld sollst du ihm nicht auf Wucher leihen, und nicht 
fordern den Überschuss an Früchten. 
Kinder sollen nicht für die Vergehungen der Väter 

btissen. 

'Evi bi XÖTijj, iraipö^ öveibri Kai Timjjpia^ Ttaibuiv juiribevi Huve- 
TteaOai. De legibus 1. IX, c. 856 c. Ut breviter autem dicam : 
peccata patris non luant filii! Mit einem Wort: Für die Sünden 
des Vaters dürfen nicht die Kinder leiden! 

Fünftes Buch Moses Kap. 24, 16: „Non occidentur filii pro 
patribus, sed unusquisque pro peccato suo morietur!" (Vgl. 
IV. Regum 14, 6; II. Paralip. 25, 4.) Kinder sollen nicht an- 
statt ihrer Väter getötet werden, sondern jeder sterbe für seine 
eigene Sünden! — Die platonischen Verordnungen über Tot- 
schlag und Verwundungen haben mit den diesbezüglichen Ge- 
setzen des Moses sehr vieles gemein. Man vergleiche die be- 
treffenden Abschnitte de legibus 1. IX, c. 865 bis zu Ende, und 
1. Exodi c. 21, 12 u. folgende. 

Auch religiöse Feste^ welche zugleich auch Volksfeste sein 
sollen, ordnet Plato wie Moses an. De legibus 1. VIII, c. 828 
u. folgende; vgl. 1. Levitici c. 23 u. Deuteronomii c. 16. Die 
Kirchen- Schriftsteller : Clemens Alexandrinus „Stromatum" 1. IV, 
Pag. 394, und Eusebius „de praeparatione evangelica" 1. XII, 
c. 19 weisen darauf hin, dass Plato wie Moses, bei seinen 
Einrichtungen sich zumeist auf himmlische Vorbilder beziehe. 

Zudem erwähnen dieselben noch, dass Plato gleichwie 
Moses das Volk in swölf Stämme eingeteilt habe. De legibus 
1. VI, c. 760, b; Eusebius 1. c, 1. XII, c. 47. Auch stellen sie 
die Republik des Plato der mosaischen Theokratie ziemlich 
nahe und vergleichen sie mit derselben. Clementis Alexan- 
drini 1. c, 1. I, c. 251, a; Eusebii 1. c, 1. IX, c. 6 usw. 

Nachdem wir nun die Werke Piatons durchforscht haben, 
kommen uns dieselben wie ein majestätischer, antiker Tempel 
vor: Phaedrus, Gorgias und Protagoras ziehen als tüchtige 
Werkmeister aus, welche den Boden säubern und den Grund 
aufgraben. Phaedrus gibt auch einen Blick auf die schöne 
Zeichnung des Ganzen. In Theaetetus, Parmenides und Sophista 



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— 123 — 

erheben sich die festen Strebepfeiler und Bogengewölbe. 
Kratylus sorgt für die akustischen Verhältnisse. Durch 
Philebtis und das Gastmahl werden die inneren Räume würdig 
abgeteilt und ausgeschmückt. Phaedon richtet den Opferaltar 
zu (Unsterblichkeit der Seele und die vier letzten Dinge des 
Menschen). Die Republik versammelt die Gemeinde im Heilig- 
tum. Mit Timaeus und Kritias steigt das Ganze abgerundet 
und vollendet zum Himmel auf, während über dem Atrium 
als Inschrift die Worte stehen : ToO ycip Kai T^voq i(5)kiv. Namque 
ipsius etiam genus sumus! Denn wir sind ja seines Ge- 
schlechtes! Cfr. Arati <t>alvo^€vu)v v. 5; Pindari Ncfjt^iwv n. 6; 
Actus Apostolorum c. 17, 28. 

Aus unseren Darlegungen wird sich ergeben, dass in den 
Schriften Piatons manche gute und nützliche Anordnung nieder- 
gelegt ist, welche das Wohl der Menschen bezweckte. Ein 
reineres Erkenntnislicht als das der platonischen Philosophie 
in bezug auf das Ewige und Erhabene hat dem klassischen 
Altertume nicht geleuchtet. Aber das Heil des Lebens selbst 
zu bewirken, war diesem Lichte nicht gegeben. (Cfr. Evgl. 
S. Johannis c. 1, 4.) Deswegen hat das mit Schmach bedeckte 
Kreuz auf Golgatha den grossen Vorzug, eine vollkommenere 
Theodizee zu sein, als selbst eine von Gott durchstrahlte Welt 
in der Auffassung jenes griechischen Weisen. Haben wir nun 
schon vieles unseren christlichen Anschauungen Zusagende in 
seinen Werken erkannt, so erübrigt noch, auch das wenige 
vom Christentum Abweichende in denselben zu besprechen. 
Denn Plato war noch ein Heide und lebte im vierten Jahr- 
hundert vor Christus. 

Zunächst berührt es seltsam, dass er der Obrigkeit seiner 
Zeit zur Erreichung eines guten Zweckes direkt anempfiehlt, 
sich einer bewussten Unwahrheit (der Lüge) zu bedienen, 
während er diese Handlungsweise den griechischen Bürgern 
streng untersagt. Cfr. Piatonis de republica 1. III, c. 389, b. — 
Sodann hält er es für gut, schwächliche Kinder auszusetzen, 
damit der Volksstaat durch die Pflege derseben nicht belastet 
werde. Bei dieser Gelegenheit unterlässt er es nicht, den 
Archonten zum Nutzen der Untergebenen häufig Lug und Trug 
anzuraten. (Fides graeca!) De republica 1. V, c. 459, d. e. 



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- 124 — 

Um aber gerecht zu urteilen, müssen wir hinzufügen, dass 
jene Verordnungen nicht so sehr dem Geiste des Plato ange- 
hören, als vielmehr den Sitten des griechischen Volkes ent- 
sprachen, welches nur starke und kräftige Bürger haben wollte. 
Plutarch erzählt in der Vita Lycurgi c. 16, dass es in Sparta 
Gesetz und Herkommen war, schwächliche Kinder (auf dem 
Berge Taygetus) auszusetzen. 

Gleich der Strenge und Härte der stoischen Vorschriften 
duldete auch die Sittenlehre der Akademie Piatons keinerlei 
Schmerz und Klage über den Tod geliebter Angehörigen. De 
republica 1. III, c. 387, e; 1. X, c. 605, d. e. Diese zum Teil 
unnatürliche Verleugnung solcher Empfindungen stand bei den 
Griechen in hohem Ansehen. So z. B. wurde Pericles sehr 
gerühmt wegen der Affektlosigkeit, welche er bei den Todes- 
fällen seiner Lieben bewies. Als er, seinem verstorbenen 
Sohne Paralus die Totenkrone auf die erblasste Stime 
drückend, sich der Tränen doch nicht enthalten konnte, wird 
ausdrücklich bemerkt, es sei das einzige Mal in seinem Leben 
gewesen, dass er sich vom Schmerze habe überwältigen lassen. 
Cfr. Plutarchi vita Periclis c. 36 sowie ep. ad Romanos c. I, 
V. 30 und 31. 

Ausserdem beleidigt es unser christliches Empfinden, 
wenn Plato für die Kriegerkaste eine Frauengemeinschaft an- 
ordnen will. De republica 1. V, c. 457, c. und folgende. Im 
Jahre 1821 wurde auf der Insel Kreta (Candia) das Bruchstück 
einer Geschichte Lybiens von Eumalos aufgefunden, in welcher 
dieser Schriftsteller erzählt, bei den Atlantiden habe wirklich 
eine Güter- und Weibergemeinschaft bestanden. 

Wie alle Griechen war Plato stolz auf Hellas und ver- 
achtete die Barbaren. De republica 1. V, c. 469, b; c. 470, 
c. u. s. f. 

Die Sklaverei will er in seiner Republik bestehen lassen ; 
jedoch empfiehlt er eine mildere Behandlung der hartgedrückten 
Menschen, wenn sich dieselben würdig zeigen. De legibus 
1. VI, c. 776, c. d. — Cfr. Ciceronis „de officiis" 1. I, c. 13, n. 9. 

Während Plato im grossen und ganzen das Gute und 
Edele verteidigt, tritt das, was an ihm zu tadeln ist, nur in 
Einzelheiten hervor — etwa wie an einem frischen und grünen 
Baume dennoch hier und da ein dürrer Zweig sich findet. 



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- 125 - 

Wegen der grossen Vorzüge, welche die platonische 
Philosophie unstreitig besitzt, wurde unter der Regierung des 
Papstes Clemens VIII. (1592—1605) der Antrag gestellt, die- 
selbe in den höheren Lehrkursus förmlich aufzunehmen. 
Kardinal Bellarmin (1542—1621) hierüber zu Rate gezogen, 
erblickte darin eine Gefahr für die Studierenden. Sein Gut- 
achten lautete : Weil die platonische Philosophie der christlichen 
Theologie am nächsten komme, und daher sehr geeignet sei, 
die Gemüter derer anzuziehen, welche das Christliche suchen, 
so werde sie viele von weiterem Vordringen abhalten. Cfr. 
Malinkrotius „de summo bono", p. 4; sowie Fabricius „biblio- 
thecae graecae" 1. III, c. 151, editio Harless. 

Ähnlicher weise hatte schon S. Augustinus sich geäussert: 
„Nam si primo sanctis litteris informatus essem ... et postea 
in illa (Piatonis) volumina incidissem, fortasse aut abripuissent 
me a solidamento pietatis, aut si in affectu quem imbiberam 
perstitissem, putarem etiam ex Ulis libris eum posse concipi, 
si eos solos quisque didicisset." Confessionum 1. VII, c. 20. 
Augustinus dankt Gott, dass er zuerst die Schriften Piatos, 
und hierauf das Evangelium habe kennen lernen; denn wäre 
es umgekehrt der Fall gewesen, so würde er von dem festen 
Grunde der Frömmigkeit abgezogen, oder doch zu der Meinung 
gekommen sein, man könne zur christlichen Frömmigkeit ge- 
langen, auch wenn man nichts anderes als diese Bücher habe. 
Obgleich er als Christ gegen seine früheren Zunftgenossen in 
der Waffenrüstung Gottes auftreten musste, so gestand er doch 
immer zu, dass die Platoniker unter allen Heiden dem Christen- 
tum am nächsten ständen, und dass sie nur wenige Worte und 
Meinungen zu ändern brauchten, um wirkliche Christen zu 
werden. Cfr. „de vera religione" 1. IV, c. 7: „Platonici paucis 
mutatis verbis atque sententiis christiani fierent." 

Wenn nun in der heutigen Welt sich die Überzeugung 
Bahn bricht, es gehöre zur Würde der menschlichen Natur, 
ein gewisses Streben zu Gott an den Tag zu legen, so zieht 
man es aber meistens vor, auf platonischen Geistesschwingen 
sich zu dem Göttlichen in der Idee zu erheben, als in stiller 
Treue Christus, dem Herrn, nachzufolgen und das Kreuz der 
Selbstverleugnung nachzutragen. Denn wie nah auch immer 
die Theologie und Weltanschauung Piatos an die christliche 



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— 126 — 

herantritt, so fehlt ihr doch das eigentlich Kernhafte und Be- 
lebende, der wirkliche Herzschlag des Christentums, 
nämlich die Person und Tat, oder das Leben und Leiden des 
göttlichen Erlösers. — Eine Tatsache kann von niemand geleugnet 
werden, dass nämlich unser Evangelium Jesu Christi, obgleich 
es in Bezug auf sprachliche Vollendung und glänzende Dar- 
stellung den platonischen Schriften allerdings weit nachsteht, 
aber, getragen durch den fortwährenden Beistand des Herrn, 
auch das Schönste und Erhabenste, was die vorchristliche Welt 
in der Philosophie der Akademie zutage förderte, bis zur 
Gegenwart siegreich überdauert hat, und durch die Gründung 
einer Weltkirche in seinen Erfolgen tief unter sich erblickt. Cfr. 
Evgl. S. Matthaei c. 28, 20; und ep. II ad Corinthios 1, 18 — 30. 



4. Anhang. 

Der Nachruf, welchen Cornelius Tacitus seinem Schwiegervater 
Agricola widmete. 

Cnaeus Julius Agricola wurde im Jahre 40 n. Chr. zu 
Forum Julii (Fr6jus in der Provence) geboren. Sein Vater 
Julius Graecinus gehörte zum Senatorenstande. Agricola wurde 
zur Ausbildung nach Massilia (Marseille) geschickt und leistete, 
als Suetonius Paullinus Präfekt von Britannien (England) war, 
daselbst seine ersten Kriegsdienste. Unter dem Kaiser Vespasian 
stieg er rasch, wurde Konsul und Statthalter in Britannien. 
Nach siebenjähriger erfolgreicher Tätigkeit wurde er aus der 
Provinz abberufen. Bei seiner Heimkehr fand er statt der ver- 
dienten Auszeichnung bei dem Kaiser Domitian einen kühlen 
Empfang und kränkendes Misstrauen. Tief verletzt entsagte 
er allen Ehrenstellen und zog sich in das Privatleben zurück. 
Seine einzige Tochter hatte er im Jahre 77 mit dem Sach- 
walter Cornelius Tacitus vermählt, welcher inzwischen zur 
Praetur vorgerückt war. Zunächst hatte die Entfremdung 
zwischen Domitian und Agricola für den Schwiegersohn des 
letzteren keine nachteiligen Folgen. Doch mag Tacitus, als 



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— 127 — 

er kurze Zeit nach der Praetur mit seiner Gemahlin Rom ver- 
liess, um dienstliche Stellung in einer Provinz zu tibernehmen, 
erwogen haben, es sei unter diesen Umständen für ihn am 
besten, der Hauptstadt fern zu bleiben. Während dieser Ab- 
wesenheit erhielt er im Jahre 93 n. Chr. die Nachricht von 
dem Tode des Agricola, welcher durch Gift erfolgte, wie ver- 
mutet wurde. Dio Cassius „Rerum Romanarum" 1. 66, 20 
sagt: „Endlich wurde er (Agricola) von Domitian gemordet." 

Einige Zeit nachher kehrte Tacitus nach Rom zurück, 
hielt sich aber, soviel als möglich, von öffentlicher Tätigkeit 
fern, um nicht den Argwohn und Zorn des Mächtigen zu 
reizen. Als zwei Jahre später (96) Domitian ein gewaltsames 
Ende gefunden hatte, folgte auf ihn die milde Regierung des 
Nerva (96—98). Tacitus erhielt jetzt die höchste Ehrenstelle, 
nämlich das Konsulat, und zugleich eine günstige Gelegenheit, 
dem gerechten Zorn über die Schmach der letzten Jahre einen 
öffentlichen Ausdruck zu geben. Zu Anfang des Jahres 98 er- 
schien die „Julii Agricolae Vita", eine Biographie seines 
Schwiegervaters Agricola, als Erstlingsfrucht der historischen 
Tätigkeit des Tacitus. Dieselbe umfasst 46 Kapitel, in welchen 
dessen Herkunft, seine amtliche Tätigkeit und Erfolg« in Bri- 
tannien sowie das Land selbst in erster Linie geschildert 
werden. Nur kurz sind die Familienverhältnisse und der 
Charakter dieses echten Römers von altem Schrot und Korn 
behandelt. Das letzte Kapitel aber enthält einen Nachruf für 
den so tapferen und edlen Mann, welcher uns Christen durch 
seinen pietätvollen Inhalt besonders sympathisch ist. Derselbe 
lautet also: 

Si quis Piorum manibus locus, si, ut sapientibus placet, 
non cum corpore exstinguuntur magnae animae : placide quiescas 
Agricola, nosque, domum tuam, ab infirmo desiderio et mulie- 
bribus lamentis ad contemplationem virtutum tuarum voces, 
quas neque lugeri neque plangi fas est! Admiratione te potius 
et immortalibus laudibus et, si natura suppeditet, aemulatu 
decoremus. Is verus bonos, ea conjunctissimi cujusque pietas, 
id filiae quoque uxorique praeceperim, sie patris sie mariti 
memoriam venerari, ut omnia facta dictaque ejus secum revol- 
vant, formamque ac figuram animi magis quam corporis com- 
plectantur. Non quia intercedendum putem imaginibus, quae 



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marmore aut aere finguntur: sed ut vultus hominum, ita simu- 
lacra vultus imbecillia ac mortalia sunt; forma autem mentis 
aeterna: quam tenere et exprimere non per alienam materiam 
et artem, sed tuis ipse moribus possis. Quidquid ex Agricola 
amavimus, quidquid mirati sumus manet mansurumque est in 
animis hominum, in aeternitate temporum, fama rerum. Nam 
multos veterum, velut inglorios et ignobiles, oblivio obruet: 
Agricola posteritati narratus et traditus, 

superstes erit. 
Gibt es für die abgeschiedenen Seelen frommer Menschen 
eine Stätte ; gehen nach der Ansicht unserer Weisen die grossen 
Seelen mit dem Körper nicht zugrunde ~, dann, Agricola, 
ruhe im Frieden! — Uns aber, dein Haus, rufe von kraftloser 
Sehnsucht sowie von unmännlicher Klage zur Betrachtung 
deiner Tugenden, die weder zu betrauern noch zu beklagen 
gestattet ist. Durch Bewunderung vielmehr, durch unsterb- 
liche Lobpreisung, und soweit es die menschliche Natur ver- 
mag, durch Nachahmung lass uns dich ehren. Hierin besteht 
die wahre Verehrung und die fromme Liebe derer, welche dir 
am engsten verbunden sind. Und das möchte ich der Tochter 
sowie der Gattin auch empfehlen, in der Weise das Andenken 
des Vaters und des Gatten zu heiligen, dass sie alles, was er 
getan und geredet hat, sich wieder ins Gedächtnis rufen, und 
so mehr das Bild seines Geistes, als das. seiner äusseren Ge- 
stalt umfassen. Nicht als ob ich gegen Bildnisse aus Marmor 
und Erz gestaltet mich erklären sollte ; aber wie das Menschen 
Antlitz selbst, so sind auch seine Abbildungen hinfällig und 
vergänglich; ewig nur ist das Bild des Geistes, welches fest- 
zuhalten und darzustellen, nicht fremder Stoff und Kunst, 
sondern nur der sittliche Gehalt des eigenen Lebens vermag 
Alles, was wir an Agricola geliebt und bewundert haben, das 
lebt jetzt und immerdar im Herzen der Menschen, in der 
Ewigkeit der Zeiten, im Ruhme der Weltgeschichte fort. Denn 
mag auch viele der Alten als ruhmlos und unbekannt die Ver- 
gessenheit in Schatten stellen; Agricola hingegen wird, durch 
meine Darstellung der Nachwelt überliefert, unsterblich sein!" — 
Hiermit ist zu vergleichen was Cicero in seiner Rede pro 
Archia poeta c. 24 erwähnt: „Alexander quum in Sigeo ad 
Achillis tumulum adstitisset, O fortunate, inquit, adolescens. 



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— 129 — 

qui tuae virtutis Homerum praeconem iiiveneris!** Nachdem 
Alexander im sigäischen Gefilde an dem Grabe des Achilles 
gestanden hatte, sagte er: „O du glücklicher Jüngling, der du 
einen Homer als Lobredner deiner Tapferkeit gefunden hast!" — 
(Ilias.) 

Der kötiigliche Sänger David verkündigt: ^In memoria 
aeterna erit justusl** Pslm. 111,6. 

Im ewigen Andenken wird sein der Gerechte!" 



5. Anhang. 
Der Lobgesang des Cleanthes. 

Wenn der Römer Cornelius Tacitus in der Lebensbeschrei- 
bung des Agricola uns durch grosse Pietät gegen seine Familie 
erfreut, so entzückt uns der Grieche Cleanthes nicht minder 
durch einen würdigen Ausdruck seiner Gottesverehrung, 

Cleanthes, um 300 vor Christus in Assus (Kleinasien) ge- 
boren, war gemäss der Überlieferung zuerst ein Wasserträger. 
Als aber späterhin das Verlangen nach höherer Lebens- 
stellung sich in ihm regte, so bemühte er sich um die Freund- 
schaft des Philosophen Zeno, welcher damals zu Athen in der 
Stoa seine Lehrvorträge hielt. Von dieser gemalten Säulen- 
halle ((TTod 7toik(Xti) erhielt Zenos Schule ihre Bezeichnung. 
Cleanthes fand eine gute Aufnahme und wurde der angesehenste 
Schüler und Nachfolger seines Meisters. Der berühmte stoische 
Philosoph Chrysippus verdankte ihm seine Ausbildung. (Cfr. 
Ciceronis „Academicorum" 1. II, c. 75 u. 87.) 

Von den Schriften des Cleanthes ist uns ein hymnus in 
Jovem Optimum Maximum (ö^voq elq Aia) erhalten, welchen wir 
mitteilen wollen: 

'AXXd Zeö, Travbujpe, KcXaiveqp^q, dpxiK^potuve, 

'Av9pa)7TOu? eipucTcrai dTreipccTÜvTiq dirö XuTpfjq, 

"Hv crt, Trdxep, cTK^bacrov vpuxnq fiTTO, böq bk Kupfia«i 

fviU^Tl^, fj m(TUVO^ CTll blKTl^ fJt^Ttt TTttVia KUßcpvqlq, 

"Gqpp' Sv Ti|iTiö^VT€^ d^€ißu)|i€CTed ae xiii^, 

KröU, Die Beziehungen des klass. Altertums zu den hl. Schriften. 9 



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— ISO - 

*Y^voOvT€q xa aä fpya biiivcKi^, u)^ dir^otKC 
0VT1TÖV iövt', inA oÖT€ ßpOTOi^ T^P«? fiXXo Ti iieTCov 
OÖT€ 9601^, f[ KOlvöv dei vojuiov tv Wkij Ö^V€TV*). 
At Deus altisonand, quem nunquam dona fatigant, 
Mortales miseratus, ab alto errore revulsos, 
Eripe, quem, Pater, expelle ac da apprehendere posse, 
Consilium, quo, macte, orbis moderaris habenas. 
Sic tua dona, Tibi^ referemus cuncta vicissim 
Usque tuae memores laudis: mortalibus haud est 
Majus enim, aut superis munus, quam pandere in aevum, 
lustitiamque sequi Legis, quae est omnibus una. 
Du, der du alles gibst, befreie die Menschen vom schweren 
Wahne, nimm die Wolke von ihren Seelen, o Vater, 
Dass sie die Weisheit erfassen, nach der du billig und sicher 
Alles regierst, damit wir, denen du Ehre gegönnt hast, 
Wieder dich ehren und dich in deinen Taten besingen, 
Wie's dem Sterblichen ziemt; denn weder auf Erden noch 

jenseits 
Gibts ein höheres Los, als ewig und ewig des Weltalls 
Ordnung, die alles umfasst, mit würdigem Lobe zu preisen! 



6. Anhang. 

Stimme des Orpheus. 

Gemäss den Forschungen des Benediktiners P. Willibald 
FreymtiUer, Programm zu Metten (Bayern) S. 13 u. flgd., gehört 
der Sänger Orpheus einer geschichtlichen Zeit an und ist 
etwa nach Homer und vor Hesiod zu setzen. Als sein ver- 
mulliches Vaterland wird Palaestina bezeichnet, woselbst Ge- 
sang und Zitherspiel seit den Tagen der Patriarchen in Übung 
waren. Von da ausgehend zog er über Thrazien nach Griechen- 



^) Cleanthis hymnum in Jovem graece edidit et notis illustravit Frie- 
dericus Guilelmus Sturz. Editionem noväm auctiorem curavit I. F. L T. 
Merzdorf. Lipsiae, sumptibus Roberti Friese 1835. KX€<iveou(; öinvoq €U Aia. 



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- 131 — 

land, in welchem er durch seine musikalischen Leistungen bei 
dem noch ungebildeten Volke einen fast wunderbaren Erfolg 
hatte. Steine und Bäume sollen belebt, wilde Tiere besänftigt 
worden sein; sicher aber ist es, dass unter seinem Einflüsse 
die Sitten der Menschen sich veredelten. Ihm werden auch 
verschiedene religiöse Hymnen zugeschrieben, aus denen 
Justinus M. in seiner „Ermahnung an die Griechen" nach- 
stehende Strophe anführt: 

El? hi, AÖTOV 0€Tov ßXevpaq toutiu Ttpocrebpeue, 
10UVUJV KpabiTiq voepöv kuto?, €u V dTT^ßaive 

'ATpaTTlTOÖ, JUIOOVOV b' JcTTOpa KÖCTjulOU avaKTtt. 

(Justini M. „Cohortationis ad Graecos" n. 14, Edit. Otto I, p. 50.) 
Aspice Verbum a coelo sisque totus in illo, 
Cordis alendo profundum elige rectum 
Callem oculosque tuos in ducem erige terrae! 
Schau auf das göttliche Wort, beschäftige eifrig mit ihm dich ! 
Lenkend die geistige Tiefe des Herzens, betrete den guten 
Pfad, und richte den Blick allein auf den Herrscher des 
Weltalls! 
Diese Stelle ist um so interessanter, als in ihr zum ersten- 
mal sich der Ausdruck und der Begriff" des Logos, als des 
persönlichen Wortes Gottes, geschichtlich nachweisen lässt. 

Von Neueren (z. B. Delitzsch u. s. f.) werden diese Verse 
dem jüdischen Philosophen Aristobulos (170—150 vor Christus) 
unter Ptolemaeus VI. Philometor zugeschrieben. 

Wir Christen singen bei Kerzenschein, unter Weihrauch - 
wölken, Glockenklang und Orgelton: 

^Wir sind im wahren Christentum, 
O Gott, wir danken dir! 
Dein Wort, dein Evangelium, 
Gläubig bekennen wir!" 
^Te Deum laudamus: Te Dominum confitemur!" Hymni 
S. Ambrosii et S. Augustini, Ecclesiae Patrum et Doctorum. 
Cfr. Pslm. Davidis 40, 14. 

Fiat! Es geschehe! 

„Jesus Christus ist derselbe: gestern, heute 
und in Ewigkeit!" Ad Hebraeos 13, 8. 



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Inhalt des IL Bandes. 



Seite : 

Vorwort zur zweiten Auflage V — XIV 

Aussprüche der hl. Schrift und der alten Klassiker. 

1. Arbeit und Mühe ist allen Menschen beschieden . . . i — 2 

2. Die Sinne des Menschen sind zum Bösen geneigt ... 2 

3. Die Hinfälligkeit des irdischen Lebens 2 — 4 

4. Erlösung aus diesen Beschwerden 4 — 6 

5. Gott bedarf der menschlichen Hilfe nicht 6 

6. Der leidende Gerechte ein Vorbild 6 — 9 

7. Erwartung eines Erlösers . 9 — 17 

8. Das Edikt des Kaisers Augustus 17 — 20 

9. Die Heimat des Messias 20 — 21 

10. Der Kindermord zu Bethlehem 21 — 22 

11. Philo Alexandrinus über den Heiland 22 — 24 

12. Flavius Josephus berichtet von Christus 24 — 28 

13. Suetonius über Christus und die Christen 28 — 30 

14. Die Ahnungen des Cicero von der Aufgabe des Evangeliums 31 — 33 

15. Tacitus erzählt über Christus und die Christen .... 33 — 36 

16. Das Zeugnis des Plinius Junior 36 — 50 

17. Tacitus und die Juden; Bericht über Palästina .... 50 — 66 

18. Der Untergang des Kapitolinischen Tempels zu Rom und 

des jüdischen Tempels in Jerusalem 66 — 71 

19. „Saxa loquuntur!" Die Steine reden! Die Auffindung der 

Gruppe des Laokoon xmd deren Bedeutung für die christ- 
liche Welt- Anschauung 71 — 73 

20. Die iajesus Christus vollbrachte Erlösung 73 — 74 

Beilagen. 

1. Anhang. 

Die Beziehungen der griechischen Eleusinien zu dein jü- 
dischen Laubhüttenfeste 75 — 86 

2. Anhang. 
Der Feldzug des Sennacherib gegen Judäa . . . ^ ^^6 — 93 

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— 133 — 

Seite: 

3. Anhang. 

Die Schriften Piatos und ihr Verhältnis zu den Büchern 

des Alten Testamentes 94 — 126 

4. Anhang. 

Der Nachruf, welchen Cornelius Tacitus seinem Schwieger- 
vater Agricola widmete 126 — 129 

5. Anhaag. 

Der Lpbgesang des Cleanthes 129 — 130 

6. Anhang. 

Stimme des Orpheus 130 — 131 

Beschäftigung, die nie ermattet, 

Die langsam schafft, doch nie zerstört, 

Die zu dem Bau der Ewigkeiten 

Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, 

Doch von der grossen Schuld der Zeiten 

Minuten, Tage, Jahre streicht. 

Schiller. 



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KröU M., Die Beziehungen des klassischen Altertums 
zu den hl. Schriften des Alten und Neuen Testa- 
mentes. 1. Bd. Bonn, Georgi. 2. Aufl. 1907. 

Das vorliegende Werk erschien zum erstenmal 1901 für die Freunde 
antiker Literatur, „um der studierenden Jugend bei Lesung der heidnischen 
Klassiker eine Führung zu bieten, haben wir Tatsachen und Personen sowie 
Aussprüche derselben mit der hl. Schrift verglichen. Auf diese Art erkennen 
wir, dass die Weisheit der alten Völker ein Licht war, welches Gott zu 
deren Erleuchtung und Leitung angezündet hatte, damit auch 'sie den Weg 
zur vollen Wahrheit im kommenden Christentum finden könnten. . . Dass 
die religiösen Überlieferungen aller Völker mehr oder minder klar die 
Grundwahrheiten und Hauptsachen der Uroffenbarung enthalten, kann 
keinem Zweifel imterliegen." (S. VII und XI.) 

Es war dem eifrig sammelnden und vergleichenden Verfasser vergönnt, 
schon jetzt eine 2. Aufl. des Buches zu veranstalten, die völlig umgearbeitet 
und vielfach vermehrt ist. Nach einem grundlegenden allgemeinen Teil 
(S. I —82) über die Uroffenbanmg, Entstehung des Heidentums und die 
Bedeutung der hl. Schrift werden die Beziehungen zwischen Bibel und 
klassischem Altertum an einzelnen Beispielen vorgeführt und auf ihre Bedeu- 
tung geprüft (S. Ö3 — 231): Schöpfungsbericht, Engelsturz, Sündflut, Himmels- 
besuch bei Abraham und Sara — Philemon imd Baucis, Seila — Iphigenia, 
Samson — Herkules, Tobias — Telemach u. a. Der biblischen Erzählung ist 
der griechische oder lateinische Text nebst einer recht guten metrischen 
Übersetzung beigegeben und jedesmal festgestellt, welche Beziehung oder 
Abhängigkeit zwischen beiden obwaltet. — Ob gerade alle Aufstellungen 
ausnahmslos haltbar und gesichert sind, möge dahingestellt bleiben; aber 
jedenfalls ist es ein Buch voller Anregung und Belehrung, und wenn 
Referent es beurteilen darf nach dem nachhaltigen Eindruck, den einst in 
seiner Gymnasialzeit Lückens Traditionen des Menschengeschlechtes auf 
ihn gemacht haben, so verspricht er sich eine ähnlich heilsame Einwirkung 
dieses Werkes auf die studierende Jugend und alle gebildeten Laien, die 
für religionsgeschichtliche Fragen Interesse haben. 

Trier. Professor F. Hüllen. 

Verfasser ist katholisch, folgt der traditionellen Apologetik und Schrift- 
behandlung seiner Konfession, doch mit grossem Fleiss und achtungswerter 
Gelehrsamkeit, in 2. Aufl. mit Polemik gegen die Vorträge über Babel und 
Bibel von Delitzsch. Teil I als grundlegender oder allgemeiner ist teils 
rein apologetisch in den Abschnitten Uroffenbarung (bis S. 6) und Ent- 
stehung des Heidentums (bis S. 23), teils kirchenhistorisch über die Be- 
schäftigung der Theologie mit den alten Klassikern (bis S. 54), teils isagogisch 
über die Bibel, zunächst den Pentateuch als gehörig zu deA besten und 
ältesten Büchern der Welt (bis S. 82). Teil II als spezieller bringt Paral- 
lelen zu zwölf biblischen Geschichten: Schöpfimg (bis 114), Engelsturz 
(bis 131), Flut (bis 148), Engelbesuch bei Abraham (bis 158), Josuas langer 
Tag (bis 166), Rieht. 21, 15 f. (bis 173), Jephtes Tochter (bis 189), Samson 
(bis 197), Uriasbrief (bis 206), Tobias (bis 212), Achior (bis 218), Daniel 
(bis 22y), Alles ist religionsgeschichtlich sehr interessant und beachtenswert, 
viele Parallelen freilich verschiedener Deutimg fähig. 

Gütersloh. Gloatz-Dabrun. 



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Nous aurions desire pouvoir rendre compte des deux vplumes de 
cet ouvrage. Le secönd ne nous ayaat pas encore ete adresse, il est ä 
croire qu'il n'a pas encore paru: on le comprend d'ailleurs salis peine, 
Tauteur etant eure ä Hönningen et se devant avant tout ä son ministere 
professionnel. II n'en a que plus de merite d'utiliser ainsi ses rareis loisirs 
et d'avoir garde, sous le poids de ses soucis pastoraux, un goüt aussi vif 
pour les speculations litteraires. On notera avec plaisir que Touvrage en 
est ä sa seconde edition. 

Ne pouvant encore apprecier Tensemble d*une oeuvre, sur la väleur 
de laquelle il est si facile de se meprendre, nous nous contenterons d'en 
indiquer exactement le contenu et de soumettre quelques courtes obser- 
vations ä Tauteur. 

A premiere vue, le titre du livre parait un peu vague: sous ce 
rapport, il a quelque chose de la fa^on antique ou plutöt moyenägeuse, 
j'allais dire mystique, dont Touvrage a ete con9u et compose. Mais Tintro- 
duction dissipe rapidement cette premiere impression, et il suffira d'en 
citer quelques lignes pour avoir une idee tout ä fait nette du plan et du 
dessein de l'auteur (p. XIX — XX): 

„Um den Gedankengang unseres "Buches kurz anzugeben, so sei 
^ bemerkt, dass wir zuerst die allen Völkern bis zu ihrer Trennung auf der 
Ebene von Seftaar gemeinsame Uroffenbanmg besprechen, welche späterhin 
von Moses auf Befehl Gottes in ihrer Reinheit und Unversehrtheit nieder- 
geschrieben wurde. 

Wir gehen dann zur Entstehung des Heidentiuns über, in welchem 
sich die hl. Überlieferungen der Vorzeit allmählich verdunkelten und in 
Mythen und Fabeln auflösten; so dass nur mehr einzelne Bruchstücke 
derselben im Gedächtnisse der Völker zurückblieben. 

Hierauf legen wir die Bemühungen der Theologie (der christlichen 
Kirche) dar, um den noch vorhandenen Resten und Trümmern der alten 
Traditionen nachzuspüren, sowie die klassische Literatur des antiken Heiden- 
tums zu sammeln und praktisch zu verwerten. 

Daran knüpft sich eine Vergleichung der hl. Schriften des Alten 
Bundes (zunächst der fünf Bücher Mosis) mit den Erzeugnissen der antiken 
Literatur in bezug auf das Alter ihrer Entstehung und die Wertschätzung 
ihres gegenseitigen Inhaltes. 

Dieses bildet den grundlegenden oder allgemeinen Teil unserer Arbeit. 

Es folgt nun der zweite oder spezielle Teil, in welchem an mehreren 
Beispielen (biblische Tatsachen und »^Personen betreffend) die einzelnen 
Beziehungen zwischen Bibel und klassischem Altertume in geschichtlicher 
Reihenfolge vorgeführt und auf ihre Bedeutung geprüft werden. 

Es werden sich nun im Laufe der Darstellung gewisse Berührungs- 
punkte ergeben: in literarischer, stofflicher, idealer und geschichtlicher 
Beziehung, die gegenseitig abzuwägen und gemäss ihrem Werte genauer 
zu besprechen sind. 

Es handelt sich daher um die Beantwortung nachstehender Fragen : 

I. Sind es Beziehungen der Abhängigkeit, sei es nach der literarischen 
oder bloss stofflichen Seite hin? 

II. Sind es Beziehungen der Beeinflussung des klassischen Schriften- 
tums durch biblische Ideen, oder umgekehrt? 

HL Sind es Beziehungen der religiösen Beeinflussung des Heiden- 
tums durch die hl. Schrift oder durch die Überlieferung ihres Inhaltes? 
IV. Sind es Beziehungen der geschichtlichen Parallelbezeugung? 



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Mit diesen prinzipiellen Unterschieden haben wir zugleich auch die 
leitenden Grundsätze unserer Abhandlung dargelegt, und werden an den 
einzelnen Beispielen darauf hinweisen, unter welche der angeführten Kate- 
gorien dieselben einzureihen sind. Unser Verhalten wird dabei zumeist 
ein referierendes sein." 

Tel est ce livre de bonne foi. 

Autant qu'on peut en juger par cette premiere partie, le plan a ete 
templi et, si Ton peut regretter aue Tauteur n*ait pas eu ä sa disposition 
rous les instruments de travail necessaires, on n'en reconnaitra pas moins 
que le livre est suggestif et se lit volontiers. Comme recueil de textes 
antiques et sacres, il servira beaucoup aux eures et predicateurs, notamment 
dans les petites paroisses catholiques de langue allemande, auxquelles il 
est principalement destine. 

Nous souhaitons que le second volume soit muni d'index et de 
tables de references, multiples et tres detailles, qui decupleront surement 
Futilite pratique de Touvrage entier. 

M61aages de la Facult^ Orientale III. ä Beyrouth, Syrie. 
(Morgenland.) Prof, P. L, Ronzevalle, S. J. 



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Corrigenda zu dem II. Bande. 



Seite VI, Zeile 12 von unten, lies: Proph., für Preph. 

XIII, „ 19 von unten, lies: Quidam sortiti für Quidams ortiti. 
3, „ 6 von oben, lies: Pullulans, statt Pullubans. 
II, „ 9 von unten, streiche man ein Wort: in. 
52, „ 20 von unten, lies: propiora, statt proprioria. 
99, „ 6 von oben, lies: „Stromatum" statt „Stromatoum". 
126, „ 13 von oben, lies: ep. I ad Corinthios, für II ad Corinth. 

u. s. f. 
Andere kleinere Versehen wolle der gütige Leser selbst verbessern. 




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